25 Jahre Transaktionsfernsehen
Fernsehen wie ein Fischmarkt
Am Abend des 1. März 2000 zogen auf dem Gelände der NOB-Studios in Hürth unter großem Jubel Zlatko, Jürgen, John, Alex, Kerstin und Manu als erste Bewohner:innen in den Container von Big Brother (RTL II u. a., seit 2000) ein. Es war der Auftakt zur 1. Staffel der Real-Life-Soap, die nicht nur eine deutliche Zäsur in der deutschen Fernsehlandschaft darstellte, sondern ebenso das Interesse der Berichterstattung in den kommenden Monaten beherrschte. Sie entwickelte sich für den Sender RTL II zu einem gewaltigen finanziellen Triumph und zog gleich mehrere fragwürdige Kopien nach sich. Das Interesse an der neuen Show, die bereits im Vorfeld von Journalist:innen und Medienwächter:innen heftig diskutiert worden war, war derart groß, dass sie alle anderen Entwicklungen überstrahlte.
Im Schatten dieses Events und nahezu unbemerkt startete RTL II am Vormittag ein anderes Format, das die deutsche Fernsehlandschaft für die nächste Dekade nicht minder prägen sollte. Es entstand etwas abseits des Hürther Medienrummels in einem kleinen Studio auf einem wenig glamourösen Hinterhof von Köln-Zollstock. Von dort übertrug man ein unscheinbares Quiz namens Call TV (2000–2001), mit dem der Kanal RTL II fortan sein Vormittagsprogramm täglich für drei Stunden füllen wollte. Aufgrund der Dauer ist sie zuvor als „Deutschlands längste Gameshow“ (Mitteldeutsche Zeitung 2000) beworben worden. Wie auch in anderen Sendungen wurden darin Telefonkandidat:innen für die korrekte Beantwortung von Fragen mit Geldgewinnen belohnt. Der innovative Kniff bestand darin, dass die Sendestrecke ihre Einnahmen nicht hauptsächlich durch Werbespots, sondern vor allem durch die Telefongebühren der Anrufenden generieren wollte. Entsprechend schlug jeder Anruf über die 0190er-Nummer mit stolzen 97 Pfennigen zu Buche – selbst wenn man nicht ins Studio durchkam.
Der innovative Kniff bestand darin, dass die Sendestrecke ihre Einnahmen nicht hauptsächlich durch Werbespots, sondern vor allem durch die Telefongebühren der Anrufenden generieren wollte.
Solche Gebühren kannte man bis dahin eher von Sexhotlines oder dubiosen Informationsangeboten. Nun bildeten sie die Grundlage für eine neue Wirtschaftsstrategie, mit dessen Hilfe die Sender zusätzliche Einnahmen erzielen und sich unabhängiger vom Werbemarkt aufstellen konnten. „Transaktionsfernsehen“ wurde dieser Ansatz bald genannt – und er griff um sich und infizierte alle großen TV-Anbieter.
Ein alternatives Finanzierungsmodell
Hinter der Idee stand die Hurricane Fernsehproduktion GmbH – ein Joint Venture der Endemol Deutschland Holding und des Telefondienstleisters digame, das explizit gegründet worden war, um „Fernsehen auf der Basis alternativer Finanzierungsmodelle“ (Kaiser 2000) zu etablieren. Die beiden Unternehmen hatten schon bei Big Brother eng zusammengearbeitet: Während Endemol das Konzept entwickelt, vertrieben und produziert hatte, kümmerte sich digame um die technische Umsetzung und finanzielle Verwertung der zugehörigen Abstimmungen. Dort kostete ein Anruf etwa zum Herauswählen einer Bewohnerin oder eines Bewohners ebenfalls 97 Pfennige, von denen der größte Teil auf das Konto von digame ging.
Dieses bei Big Brother eingeführte Modell wollte die Firma Hurricane nun ausbauen und konnte dafür mit RTL II einen lohnenden Deal aushandeln. Man einigte sich darauf, dass die Produktionsfirma die Kosten für die Herstellung der dreistündigen Ausstrahlung vollständig übernahm. Dafür erhielt sie einen Teil der Einnahmen aus den Anrufen. Die Erlöse aus den traditionellen Werbeunterbrechungen gingen klassisch an den Sender.
Wer hat die Gans gestohlen?
Damit möglichst viele Menschen teilnahmen und sich nicht von zu großen Hürden abgeschreckt fühlten, waren die Quizfragen oft beschämend leicht. Eine Aufgabe lautete beispielsweise: „Wie heißt das Tier, das die Gans gestohlen hat, einen buschigen rotbraunen Schwanz trägt und sich auf ‚Luchs‘ reimt?“ Die Aufgabe der Moderator:innen bestand wiederum hauptsächlich darin, die Zuschauenden mit ausgiebigen Monologen, endlosen Aufforderungen und dauerhaften Wiederholungen der Telefonnummer zum Anrufen zu motivieren. Fernsehen wie ein Fischmarkt. Wer tatsächlich durchkam und eine Frage lösen konnte, erhielt in der Regel 250 bis 500 DM und hatte außerdem die Chance, den Jackpot von einer Million D-Mark zu knacken.
Wie heißt das Tier, das die Gans gestohlen hat, einen buschigen rotbraunen Schwanz trägt und sich auf ‚Luchs‘ reimt?“
Da die Sehbeteiligungen für das monotone Schauspiel dürftig waren, fielen die Werbebuchungen für RTL II entsprechend gering aus. Gleichzeitig blieben die Einnahmen aus dem Anrufgeschäft unter denen ähnlicher Projekte in anderen Ländern, sodass Call TV fast genau ein Jahr nach der Premiere wieder vom Bildschirm verschwand. Die Grundidee aber hatte in der Branche mittlerweile für Aufsehen gesorgt.
„So live wie das Leben“
Daher entschied die ProSiebenSat.1 Media AG, künftig einen gesamten Sender nach diesem Prinzip zu bewirtschaften. Zu diesem Zweck übernahm der Konzern nach einer Anteilsverschiebung den kleinen Spartenkanal tm3 vom Medienmogul Rupert Murdoch und setzte die ehemalige MTV-Deutschland-Chefin Christiane zu Salm als neue Geschäftsführerin ein. Ihre Aufgabe war es, die unrentable Station vollständig auf den neuen Ansatz der Monetarisierung auszurichten, sodass perspektivisch ein Betrieb ohne klassische Werbeeinnahmen möglich würde. Dabei profitierte sie indirekt von Murdochs vorangegangener Finanzspritze, der für die Saison 1999/2000 die Rechte an der UEFA Champions League erworben und so die Verbreitung von tm3 erheblich gesteigert hatte.
Die erste Phase des sukzessiven Umbaus begann am 23. April 2001. Unter dem Slogan „So live wie das Leben“ stellte tm3 sein bisheriges Programm abrupt um und führte eine tägliche 13‑stündige Liveschiene mit Quiz- und Spielshows ein. Sieben Stunden davon steuerte die Firma Hurricane bei. Im Juli 2001 kamen ein halbes Dutzend weiterer interaktiver Formate hinzu, darunter eine Castingshow, eine Kopie von Wer wird Millionär?, eine Spielshow im Casinostil, eine Musikshow sowie die nächtliche Erotikschiene La Notte. Mit der Umbenennung von tm3 in 9Live im September 2001 war die Transformation letztlich vollzogen.
Formatfernsehen bis in die letzte Sekunde
Das Geschäft boomte. Bereits im Mai 2002 vermeldete 9Live euphorisch, dass man mit 17,2 Mio. Anrufen im Monat erstmals operative Gewinne erzielte – ein Ziel, das sogar ein Jahr früher als geplant eintrat. Einen Beitrag zu diesem Meilenstein leistete auch ein skurriles Event, das ab dem 30. April für sieben Wochen zelebriert wurde. In direkter Nachbarschaft zum Big-Brother-Container veranstaltete der Sender mit dem 9Live Tanzmarathon (9Live, 2002) seine eigene groteske Variante einer Real-Life-Doku. Der Titel verriet das gesamte Konzept: Zehn Paare tanzten rund um die Uhr – so lange, wie sie durchhielten. Verantwortlich zeichnete sich erneut die Hurricane Fernsehproduktion GmbH. Es sollte ihr letzter Auftrag für 9Live sein.
Ein entscheidender Architekt des Aufstiegs von 9Live war Marcus Wolter, der Entdecker und langjährige Weggefährte von Stefan Raab. Ende 2001 holte Christiane zu Salm ihn als Programmdirektor ins Unternehmen, zwei Jahre später beerbte er sie als Geschäftsführer. Er trieb die konsequente Fokussierung auf das Transaktionsmodell voran und forcierte eine stetige Steigerung der Erlöse. Unter Wolter verschwanden im Frühjahr 2004 die letzten verbliebenen Serien und Dokus. Fortan dominierten stundenlange Quizstrecken, in denen die Grenzen zwischen den einzelnen Reihen zunehmend verschwammen. Zwar existierten formell weiterhin einzelne (wenig aussagekräftige) Titel, doch orientierten sich die Segmente eher am Moderationswechsel als an inhaltlichen Unterschieden. Am Ende blieb lediglich eine einzige Art von Sendung: Formatfernsehen bis in die letzte Sekunde.
Von diesen beeindruckenden Umsätzen wollten bald auch andere Sender profitieren und übernahmen nahezu identische Kopien in ihr Programm. ProSieben, SAT.1 und Kabel eins ließen ihre Quizstrecken direkt von 9Live produzieren – es blieb ja in der Konzernfamilie. Ab 2004 wurde dann auf fast allen kommerziellen Kanälen, meist nachts, über „Automarken mit H“ oder „Tiere mit Doppelbedeutung“ gerätselt und um Geldpakete sowie um die Gunst des Hot Buttons gespielt.
Dem „Stirnlappenbasilisk“ geht es an den Kragen
Um die Anzahl der Anrufe hoch und die Gewinnausschüttungen möglichst gering zu halten, entwickelten die Verantwortlichen immer neue Anreize und perfidere Aufgaben. Dabei waren grob zwei zentrale Vorgehensweisen zu beobachten: Entweder war die Frage sehr einfach, doch die Durchstellung eines Kandidaten dauerte ewig, oder die Aufgabe war nahezu unlösbar, weil der Lösungsweg unklar war bzw. es zu viele mögliche Antworten gab. So war es etwa üblich, dass bei der Suche nach „Tieren mit S“ Lösungen wie „Schirmqualle“, „Samtstirnkleiber“, „Saiga-Antilope“ und „Stirnlappenbasilisk“ zu erraten waren. Währenddessen blinkte der Hot Button, schrillten Sirenen, und die Moderator:innen brüllten empört durch die spärlichen Kulissen, wenn angeblich niemand anrief, um sich das vermeintlich leicht verdiente Geld abzuholen.
Um die Anzahl der Anrufe hoch und die Gewinnausschüttungen möglichst gering zu halten, entwickelten die Verantwortlichen immer neue Anreize und perfidere Aufgaben.
Wegen dieser Methoden gerieten die Vertreter des Transaktionsfernsehens zunehmend in die Kritik. Ab 2007 wurden die Medienaufsichten aktiv und beanstandeten regelmäßig die Praktiken. Sie warfen den Veranstaltenden wiederholt irreführende Äußerungen, Intransparenz, die Vorspiegelung von Zeitdruck und fehlende Informationen vor.
Die mangelnde Einsicht der Sender mündete darin, dass die Landesmedienanstalten im Februar 2009 die sogenannte Gewinnspielsatzung verabschiedeten, die klare Regelungen vorgab. Dazu gehörte die Verpflichtung, mindestens alle 15 Minuten auf die jeweiligen Teilnahmebedingungen hinzuweisen. Zudem durfte kein künstlicher Zeitdruck mehr aufgebaut werden, und die Lösungen mussten in einem leicht zugänglichen Lexikon nachschlagbar sein (vgl. Gewinnspielsatzung 2009). Eine Forderung, mit deren Hilfe der „Stirnlappenbasilisk“ aus den Gewinnspielen verbannt werden sollte. Bei Missachtung der Vorschriften konnten jetzt Bußgelder von bis zu 500.000 Euro verhängt werden.
9Live versuchte noch, juristisch gegen das Regelwerk vorzugehen, konnte vor Gericht aber bloß kleine Anpassungen erreichen. Die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der Vorgaben wurde richterlich bestätigt.
„Ein empfindlicher Warnschuss“
Schon wenige Monate nach Inkrafttreten verhängte die Kommission für Zulassung und Aufsicht der Landesmedienanstalten (ZAK) gegen mehrere Anbieter hohe Bußgelder. Die höchste Strafe sprach man gegen das Unternehmen 9Live aus, das aufgrund mehrerer Vorfälle zu einer Gesamtsumme von 105.000 Euro verpflichtet wurde. „Diese Bußgelder sind ein empfindlicher Warnschuss für 9Live. Bei weiteren Verstößen werden die Landesmedienanstalten nicht zögern, die Bußgelder auch noch zu erhöhen“, erklärte der ZAK-Vorsitzende Thomas Langheinrich (dpa 2009).
Als im Februar 2010 gegen den Call-in-Sender aufgrund von sechs weiteren Verstößen eine neue Geldbuße in Höhe von 115.000 Euro verhängt wurde – erneut wegen irreführender Aussagen und der Verletzung von Hinweispflichten –, lenkte 9Live endlich ein. Die Verantwortlichen stimmten einem Vergleich zu, in dessen Rahmen sie zusicherten, die Berufung gegen die Gewinnspielsatzung fallen zu lassen und das aktuelle Bußgeld zu akzeptieren. Im Gegenzug stellte die ZAK ältere Verfahren ein. Zugleich erkannte 9Live die Rechtmäßigkeit der Gewinnspielsatzung an und verpflichtete sich zu deren Einhaltung. Ein schwerer Schlag für das bisherige Geschäftsgebaren des Hauses.
Transaktion beendet
Diese Einschnitte trafen die Branche zu einem empfindlichen Zeitpunkt, da das Transaktionsfernsehen längst erste Abnutzungserscheinungen gezeigt hatte und die Einnahmen rückläufig waren. Um diesem Trend entgegenzuwirken, hatte beispielsweise 9Live mit Neun TV bereits ein tägliches, dreistündiges Programmfenster eingeführt, in dem anstelle von Gewinnspielen alte Telenovelas aus dem Archiv von ProSiebenSat.1 liefen. Dieses Fenster finanzierte sich wieder über klassische Werbeeinblendungen. Durch die Einschränkungen der Gewinnspielsatzung schrumpften die ohnehin stagnierenden Einnahmen nun zusätzlich und beschleunigten den Abstieg des einstigen Erfolgsmodells.
Am 31. Mai 2011 verschwanden bei 9Live kurzerhand sämtliche Quizsendungen aus dem Ablauf und wurden durch Teleshopping- und Astro-Angebote sowie Serienwiederholungen ersetzt. Der Kanal sendete in diesem Notbetrieb bis zum 9. August, bevor er endgültig seine Arbeit einstellte und die freigewordenen Frequenzen hausintern an den Sender sixx übertrug. Ab 2010 verschwanden ebenso die meisten nächtlichen Ableger im Programm der anderen Konkurrenten.
Gänzlich ausgedient hat die Idee jedoch noch nicht. Viele große TV-Anbieter versprechen bis heute, insbesondere zu Beginn von Werbeunterbrechungen, hohe Gewinne durch die Beantwortung einer einfachen Quizfrage. Mit den dadurch eingenommenen Telefongebühren erzielen sie ein müheloses Zubrot zu den traditionellen Werbeeinnahmen.
Literatur:
dpa: TV-Kommission verhängt Geldbußen gegen 9Live. In: Der Spiegel (online), 21.10.2009. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 20.02.2025)
Kaiser, A.: Nullhundertneunzig. In: Die Zeit, 17/2000. Abrufbar unter: www.zeit.de (letzter Zugriff: 20.02.2025)
Landesmedienanstalten: Satzung über Gewinnspielsendungen und Gewinnspiele. In: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Nr. 3 vom 6. Februar 2009, S. 49 ff. Abrufbar unter: www.medienanstalt-nrw.de (letzter Zugriff: 20.02.2025)
Mitteldeutsche Zeitung: Im März startet Marathon für Spieler „Call TV“. In: Mitteldeutsche Zeitung, 22.01.2000