25 Jahre TV DISKURS

Ein Streifzug durch die Geschichte des Fernsehens und der Programmentwicklung

Joachim von Gottberg

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der Fachzeitschrift MEDIENDISKURS.

Als das Privatfernsehen noch „neue Medien“ genannt wurde, musste es sich gegen ein etabliertes öffentlich-rechtliches System durchsetzen und probierte Programme aus, die es bis dahin im Fernsehen nicht gegeben hatte. Es wurden mehr und detailliertere Darstellungen von Sexualität und Gewalt gezeigt, oft wurden die Grenzen von Tabus überschritten. Vor allem die Themen, die in der öffentlichen Kritik standen, setzten auch Schwerpunkte in tv diskurs: ein Überblick.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 2/2022 (Ausgabe 100), S. 5-11

Vollständiger Beitrag als:


Im April des Jahres 1997 fand im Potsdamer Rathaus eine gemeinsame Prüferfortbildung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) und der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) statt. An diesem Tag wurde die erste Ausgabe der Zeitschrift tv diskurs vorgestellt – ein Geburtstag in feierlicher und fachlich passender Umgebung. Das Titelthema lautete: Jugendschutz in Europa – eine Thematik, die heute aktueller denn je ist. Damals standen die divergierenden  Altersfreigaben im Vordergrund der Betrachtung. Filme wie Rambo II, die in Deutschland keine Jugendfreigabe erhalten hatten, konnten in Frankreich „ohne Altersbeschränkung“ gesehen werden: Aus französischer Sicht galt der Film als durchschaubares, unrealistisches Theater. Im Fernsehbereich war der Conseil supérieur de l’audiovisuel (CSA) als Aufsichtsbehörde allerdings strenger und mit den vergebenen Filmfreigaben nicht immer einverstanden (vgl. Hurard 1997).
 

 

tv diskurs begann bald damit, die Kollegen in den Jugendschutzinstitutionen Europas zu interviewen und über die dortigen gesetzlichen Bestimmungen und die Kriterien für die Alterseinstufungen zu berichten. Im Jugendschutz haben die europäischen Länder sehr unterschiedliche Herangehensweisen: Während man beispielsweise in Deutschland Inhalte nur für Altersgruppen freigeben will, die man für kompetent genug hält, diese auch einzuordnen, werden in Frankreich nur Filme beschränkt, bei denen man einigermaßen sicher ist, dass sie eine Altersgruppe tatsächlich beeinträchtigen oder gefährden. Ein Film ist aus französischer Sicht grundsätzlich ein Kunstwerk und damit prinzipiell frei, der Zugang darf nur in gravierenden Fällen eingeschränkt werden.

Unterschiede gibt es auch zu den nordischen Ländern: Dort ist man beim Thema „Darstellung von Sexualität“ eher großzügig, manches, was damals in Dänemark im Aufklärungsprogramm für Kinder und Jugendliche lief, wäre in Großbritannien als Pornografie verboten worden. Schon in der ersten Ausgabe startete tv diskurs mit einem Vergleich der Freigaben der erfolgreichsten Filme, die in den europäischen Ländern liefen.

Insgesamt ist es nicht zuletzt dank tv diskurs gelungen, eine inzwischen gut funktionierende Kommunikation mit fast allen europäischen Jugendschutzstellen aufzubauen. Schon sehr früh wurde erkannt, dass bereits in absehbarer Zeit Angebote im Netz – heute sind es die Streamingdienste – in allen Sprachen in ganz Europa verfügbar sein würden, sodass schon damals über eine gegenseitige Anerkennung der Prüfergebnisse oder eine gemeinsame Prüfung nachgedacht wurde (vgl. das Titelthema in tv diskurs, Ausgabe 23, 1/2003: Allein oder gemeinsam?). Doch es blieb bei einem Austausch über Kriterien und Sichtweisen, von gemeinsamen Prüfungen oder gegenseitiger Anerkennung der Einstufungen der europäischen Länder sind wir immer noch weit entfernt.
 

Der Zuschauer wird zum Darsteller: Talkshows

Ein weiterer Schwerpunkt in der Berichterstattung der tv diskurs war die öffentliche Kritik an den Daily Talks, in denen zum ersten Mal im Fernsehen keine professionellen, elaborierten Politiker, Schauspieler, Sportler oder Experten im Mittelpunkt standen, wie wir es von ARD und ZDF bis dahin gewohnt waren, sondern Menschen, die einem auch in der U‑Bahn, an der Pommesbude oder beim Einkaufen hätten begegnen können. Hans Meiser (RTL), Arabella Kiesbauer (ProSieben), Vera Int-Veen (Vera am Mittag, SAT.1), Andreas Türck (ProSieben), Bärbel Schäfer (RTL), aber auch Johannes B. Kerner (ZDF, später SAT.1) und Jörg Pilawa (SAT.1) debattierten mit ihren Gästen nicht im gewohnten bürgerlichen Stil, sondern in ordinärem, oft vulgärem Straßenjargon und feuerten ihre Gäste noch an, andere Diskussionsteilnehmer nach Herzenslust zu beschimpfen.

Das Zuschauerinteresse sollte weniger durch die Erörterung eines Problems, sondern eher mit verbalen Entgleisungen und lautstarken Auseinandersetzungen über äußerst grenzwertige Themen angesprochen werden: Brustvergrößerungen, Sexsklaven, Männer, die das Tragen von Windeln erotisch fanden, Frauen, die jeden Abend in Swingerklubs mit 50 Männern verkehrten, oder Nachbarn, die regelmäßig ihre Kinder prügelten. Konnte diese von Krawall geprägte Diskussionskultur in die Normalitätsvorstellung deutscher Jugendlicher einziehen? Oder stellte diese Form der lautstarken Auseinandersetzung eher einen abschreckenden Blick in den Abgrund dar, über den man sich erheben und eine gewisse Genugtuung darüber empfinden konnte, anders – also besser – zu sein als die präsentierten Gäste?
 

 

Die Talkshows boten auch den Medienseiten der Tageszeitungen reichlich Stoff für Empörung, die Medienpolitik dachte über eine Verschärfung des Medien rechts nach. So erzeugte ein preiswertes Format eine hohe Aufmerksamkeit – nicht nur bei den Fans solcher Sendungen, sondern auch im medialen Diskurs. Allerdings nahmen die Zuschauer und Kritiker vor allem die Tabuüberschreitungen und die sexuellen Themen wahr, während viele Diskussionen über alltägliche Probleme weniger auffielen. Die Berichterstattung in der tv diskurs war bemüht, den Diskurs zu versachlichen und unterschiedliche Positionen aufzuzeigen. Es ging nicht um selbstgerechte Empörung, sondern um die Reflexion von Meinungen und wissenschaftlichen Untersuchungen. Dabei sollte keine Meinung ausgeschlossen werden.
 

Inszenierte Realität verdrängt die Fiktion

Die Talkshows der 1990er-Jahre gibt es zwar heute nicht mehr, aber der von ihnen gesetzte Trend wurde in vielen Fernsehformaten und – noch deutlicher – in den sozialen Netzwerken fortgeführt: Die Medien bieten inzwischen jedermann ein Forum, und im Netz herrscht angesichts der Angebotsmenge ein noch härterer Kampf um Aufmerksamkeit, die man am besten durch Tabuüberschreitungen erreicht – angesichts aktueller Hassbotschaften oder absurder Falschmeldungen in sozialen Netzwerken wirken die verbalen Entgleisungen der damaligen Talkshows rückblickend eher harmlos. So sieht es auch Arabella Kiesbauer: „Wir haben Tabus überschritten, und das wollten wir auch. Manchmal ging das schief. […] Das war eine andere Zeit damals. Das Internet hat inzwischen die Funktion des Talks übernommen und ist der Marktplatz geworden, der unsere Sendung war. Wenn eine Sendung heute nach drei Ausstrahlungen nicht funktioniert, wird sie abgesetzt. Wir dagegen durften monatelang experimentieren“ (Kiesbauer 2020).

Nach den Talkshows machte Big Brother ab dem Jahr 2000 das Private zum öffentlichen Ereignis. Kurt Beck, Vorsitzender der Rundfunkkommission und Ministerpräsident der Landes Rheinland-Pfalz, sah darin einen Verstoß gegen die Menschenwürde und forderte die Landesmedienanstalten auf, die Show bereits vor der ersten Ausstrahlung zu verbieten (Beck 2000). Etwas später startete RTL mit Deutschland sucht den Superstar (DSDS) eine Castingshow, in der völlig unbegabte, dafür aber sehr skurrile Kandidaten gegen einige begabte Sänger antraten. Dafür mussten sie sich von der Jury, allen voran Dieter Bohlen, herbe, teils beleidigende Kommentare anhören.

Ab 2016 ging es bei RTL auch im Sommerhaus der Starsum die inszenierte Darstellung der scheinbar ungefilterten Erlebnisse mäßig bekannter Promis. Wer ins Fernsehen will, muss nur unterhaltsam sein – und das ist vor allem dann der Fall, wenn die Selbstwahrnehmung des eigenen Talents massiv mit der Fremdwahrnehmung differiert. Oft waren die Kommentare und herabwürdigenden Beleidigungen so verletzend, dass Kritiker darin sogar einen Verstoß gegen die Menschenwürde vermuteten.
 

 

Wie wirken solche Beleidigungen auf den Zuschauer? Kritiker von DSDS befürchteten, Jugendliche – vor allem Fans von Dieter Bohlen – könnten sich diese Formen der Beleidigung aneignen und in ihr Verhaltensrepertoire anderen Menschen gegenüber aufnehmen. Andere sprachen von Fremdschämen, davon, dass man anhand der emotionalen Verletzungen der Kandidaten lerne, sich vorsichtshalber bei solchen Castings zurückzuhalten, wenn man sich seiner Gesangsqualitäten nicht sicher sei. Oder man könne lernen, mit Frustration und Enttäuschung umzugehen.

tv diskurs widmete sich in mehreren Titelthemen und Beiträgen über die Jahre hinweg diesen Fragen. Argumente für die Ausstrahlung wurden genauso diskutiert wie solche, die dagegen ins Feld geführt wurden. tv diskurs vermittelte hier, es gab kein „Richtig“ und kein „Falsch“, der Diskurs musste eigenständig ein Ergebnis herbeiführen, er sollte versachlicht werden und eine ergebnisorientierte Sicht eröffnen.

Inzwischen bemühen sich auch die privaten Sender, mehr sozialverträgliche und gesellschaftlich relevante Inhalte anzubieten. Die Sender haben das Gemeinwohl stärker in den Blick genommen. Bohlen musste DSDS verlassen und wurde durch Florian Silbereisen ersetzt, auch das Konzept der Sendung wurde komplett überarbeitet. Heute stehen mehr die Gesangstalente im Vordergrund. Es geht nicht mehr so sehr darum, möglichst freakige, völlig untalentierte Personen vorzuführen.
 

Gewaltdarstellung und die Angst vor Nachahmung

Beim Start der Selbstkontrolle 1994 standen ganz andere, eher klassische Themen des Jugendschutzes im Vordergrund, so z. B. die Darstellung harter und selbstzweckhafter Gewaltszenen: Kinder könnten, so die Befürchtung, dadurch nachhaltig verängstigt werden; oder sie könnten lernen, Gewalt sei ein normales und erlaubtes Mittel, um Interessen durchzusetzen oder Konflikte zu lösen.
 

 

Der Medienpsychologe Jo Groebel u. a. veröffentlichten 1993 eine viel beachtete Studie über Gewaltprofile im Fernsehen (Groebel/Gleich 1993). Die Autoren unterzogen die öffentlich-rechtlichen sowie die privaten Sender einer Inhaltsanalyse und präsentierten einen Index von dargestellten gewaltsamen Tötungen. Dabei wurden über 70 Tote pro Stunde gezählt. Durch die mediale Normalität des Tötens könne bei Jugendlichen die Hemmschwelle, selbst Gewalt anzuwenden oder diese zu akzeptieren, gesenkt werden, so das Fazit der Untersuchung.

Die Hypothese, dass das in Filmen gezeigte Lösen von Konflikten oder das Durchsetzen von Interessen mit Gewalt einen Lerneffekt auf den Zuschauer haben könnte, ist durchaus plausibel. Umso wichtiger ist es, dass man diese naheliegende Idee einer kritischen Überprüfung unterzieht und versucht, sie durch wissenschaftliche Untersuchungen zu verifizieren – oder zu falsifizieren. Das ist aber nicht so einfach, denn man kann den Faktor „medialer Gewaltkonsum“ von anderen Variablen (z. B. familiären oder persönlichen Dispositionen) kaum isolieren. Selbst wenn man herausfände, dass sogenannte Heavy User häufiger gewalttätig agieren und mit dem Gesetz in Konflikt kommen als andere, könnte das auch daran liegen, dass gewaltbereite Menschen überproportional gerne Gewaltfilme sehen.

Der Wiener Kommunikationswissenschaftler Jürgen Grimm hat über 1.300 Probanden verschiedene Szenen mit „harmloser“ Gewalt und mit „dreckiger“ (detaillierter) Gewalt vorgeführt. Das Ergebnis: Die relativ erträglich dargestellte Form des Tötens – man sieht die Kugel aus dem Revolver schießen, nach dem Schnitt liegt das Opfer tot am Boden – führt eher zu Allmachtsfantasien und zu Gewaltbereitschaft als die hart dargestellte Gewalt, die nur schwer erträglich ist. Grimm geht zum einen davon aus, dass bei der harten Gewalt das Leiden der Opfer erkennbarer ist und dadurch eine erhöhte Empathie entsteht. Gleichzeitig möchte der Nutzer alles vermeiden, um in eine solche Situation zu geraten, und geht deshalb der Gewalt aus dem Weg. Allerdings stellte die Forschergruppe in den Untersuchungen andere Effekte fest, mit denen man nicht gerechnet hatte: Durch die entstehende Empathie stieg die Bereitschaft, radikaler und mit weniger Rücksicht gegen Gewalt und Verbrechen vorzugehen (Grimm 1998).

Die Gewaltwirkungsforschung hat zahlreiche Studien hervorgebracht, die in ihren Aussagen allerdings widersprüchlich sind. Während die Katharsistheorie vermutet, in medialer Gewalt könnten reale Gewaltfantasien abreagiert werden, geht die sozial-kognitive Lerntheorie Albert Banduras davon aus, dass die Aggressionsbereitschaft durch „Lernen am Modell“ entsteht. Allerdings wird dieses Lernen durch soziale Erfahrung und kognitive Beurteilung eingeordnet, es gibt also keine linearen Imitationen. Inzwischen wird vor allem auf den Kontext hingewiesen: Üben attraktive und sympathische Personen Gewalt mit Erfolg aus, so hat das vermutlich eher eine Lernwirkung, als wenn Gewalt von brutalen, unsympathischen und letztlich erfolglosen Kriminellen angewandt wird. Der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Michael Kunczik und seine Kollegin Astrid Zipfel haben die wichtigsten Ergebnisse der Gewaltwirkungsforschung in verschiedenen Beiträgen dargestellt. Kunczik schlug u. a. vor, der Jugendschutz solle normativ vorgehen, da trotz der vielen Forschungsergebnisse kaum eine verwertbare wissenschaftliche Aussage konkret umzusetzen sei (Kunczik 2000).
 

Sexualdarstellungen und Sexualethik

Außerdem stand die Vermehrung expliziter sexueller Darstellungen mit dem vorrangigen Ziel, den Betrachter sexuell zu stimulieren, im Zentrum der Kritik. Tatsächlich wurden im privaten Fernsehen Inhalte ausgestrahlt, die vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen bis dahin verschmäht worden waren, so z. B. die 13 Folgen des Kinoerfolgs Schulmädchen-Report, von denen noch einige Jahre vorher niemand gedacht hatte, dass so etwas jemals im Fernsehen laufen könnte.

Die Wirkung der Darstellungen von Sexualität war – neben den Gewaltdiskursen – die Initialzündung für die Gründung der FSF und so auch später für tv diskurs. Gleich in der ersten Ausgabe wurden zwei unterschiedliche Positionen zu Sexualdarstellungen gegenübergestellt: Der Pädagogikprofessor Dr. Horst Scarbath vertrat die Auffassung, „daß damit unterschwellig auch ganz bestimmte Impulse des Mediums mit rüberkommen, die gar nicht im Vordergrund des kindlichen oder jugendlichen Interesses stehen, nämlich zum Beispiel die Abwertung der Frau oder die Verkürzung der Sexualität auf Lustgewinn. Die Geschlechtsrollenspiele sind ja neuerdings in den pornographischen Produktionen sehr unterschiedlich, es gibt einmal in der Tat eine allzeitige Bereitschaft zu sexueller Befriedigung und die allzeitige Potenz. Es gibt aber durchaus auch Gewalt, es gibt auch hierarchische Geschlechtsrollenmuster, neuerdings interessanterweise auch von der Frau gegenüber dem Mann“ (Scarbath 1997, S. 42). Der Psychologieprofessor Dr. Herbert Selg plädierte dagegen dafür, normale Pornografie „Erotographie“ zu nennen und nur die Darstellung von Sexualität in Verbindung mit Gewalt als das eigentliche Problem zu sehen: „‚Pornographie‘ soll jenes Material bezeichnen, das sexuell stimuliert oder stimulieren kann, dabei aber deutlich aggressive Anteile enthält. Solche Aggressionen liegen nicht etwa nur in reißerischen Vergewaltigungsdarstellungen vor, sondern allgemein dann, wenn in den entsprechenden Passagen Menschen abgewertet, degradiert werden, ohne daß der Kontext zu einer Reflexion darüber anregt“ (Selg 1997, S. 48).

Der Konflikt zwischen diesen beiden Positionen eskalierte, als Filme mit sexuellen Darstellungen, die von der Selbstkontrolle als erlaubte Erotikfilme, von den Landesmedienanstalten allerdings als verbotene Pornografie eingestuft wurden, gehäuft im Pay-TV ausgestrahlt wurden. tv diskurs wählte den Umgang mit der Darstellung von Sexualität als Titelthema der dritten Ausgabe: Lust statt Liebe? Probleme der Darstellung von Sexualität in den Medien (tv diskurs, Ausgabe 3, 3/1997). Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) befragt alle vier Jahre in einer Studie Jugendliche zu ihrer Haltung gegenüber Sexualität. Das Ergebnis: Der mediale Trend zu einer offenen, auf den Lustgewinn orientierten Sexualität spiegelt sich in der Werteorientierung Jugendlicher nicht wider. Es scheint, als würde die hohe mediale Stimulanz eher zu einem an Treue und Partnerschaft orientierten Verhalten führen (vgl. Amann 1998). Das zeigt: Medienwirkung funktioniert nicht linear, das Gezeigte wird nicht automatisch von den Rezipienten übernommen, sondern Medienwirkung entwickelt sich interaktiv, das Gezeigte wird auf der Grundlage eigener Erfahrungen, Einstellungen und Wünsche verarbeitet. Der meist männliche Jugendliche empfindet Pornografie zwar als kurzfristig stimulierend, möchte aber auf keinen Fall, dass sich seine Freundin so verhält wie die Darstellerinnen in den Filmen. tv diskurs führte ein Interview mit dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Ernst Benda, über die verfassungsrechtliche Einordnung von Pornografie (2001). Die Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Volkmar Sigusch (2001) und Prof. Dr. Gunter Schmidt (2001) vertraten in derselben Ausgabe die Auffassung, dass sich bei Jugendlichen eher eine konservative, an Treue orientierte Sexualmoral etabliere.
 

 

Die öffentliche Diskussion ging allerdings in eine gänzlich andere Richtung. Verschiedene Untersuchungen (so z. B. Grimm u. a. 2010) wiesen nach, dass ein großer Teil der (vor allem männlichen) Jugendlichen pornografische Videos aus dem Internet konsumiert. Der Konsum werde aber mit der ersten Freundin meist beendet. Mädchen würden seltener und meist durch Dritte veranlasst, Pornografie anzusehen.

Aber nicht nur Pornos, sondern auch Musikclips gerieten in die Kritik. So stellten sich dort viele Sängerinnen sehr freizügig und sexy dar: „Durch halbnackte Popstars und pornoartige Musikvideos bekommen Kinder nach Ansicht von Stephanie zu Guttenberg ein völlig verzerrtes Bild von Sexualität. Dies mache sie zugleich anfällig für sexuelle Gewalt, warnt die Frau von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) in ihrem neuen Buch, aus dem die ‚Bild‘-Zeitung Auszüge druckte“ (AFP/sip 2010).

Kritiker sprachen von einer „Pornografisierung der Gesellschaft“. Auch darüber berichtete tv diskurs und versuchte, über diese These einen sachlichen und wissenschaftlich orientierten Diskurs herzustellen.
 

Angsterzeugung und Angstbewältigung

Können sich Kinder oder Jugendliche durch Gewaltdarstellungen so ängstigen, dass sie traumatisiert werden und diffuse, nicht zu verarbeitende Angst von ihnen Besitz ergreift? In Ausgabe 2 führte tv diskurs ein Interview mit dem Wiener Psychologen Prof. Dr. Peter Vitouch zu dieser Frage (Vitouch 1997). Darin vertrat er die These: Kinder und Jugendliche wachsen in einer Gesellschaft auf, in der es verhältnismäßig wenig Anlass zu großen Ängsten gibt. Heranwachsende lernen dadurch nicht, mit ihren Ängsten umzugehen und diese auszuhalten. So entwickeln sich diffuse Ängste, die konkretisiert werden wollen. Bei der Rezeption von Horrorfilmen entsteht beim Zuschauer ein Angstniveau, das fast so hoch ist wie bei realen Gefahren – aber es ist kontrollierbar: Er weiß, dass nach anderthalb Stunden der Film zu Ende und die Normalität wiederhergestellt ist. Notfalls kann er wegschauen oder sich vergegenwärtigen, dass die Story eine Erfindung ist und es sich bei den Opfern um Schauspieler handelt. So lernt er, Angst auszuhalten. Allerdings kann man mit solchen rationalen Erklärungen besorgte Eltern, die selbst bei solchen Filmen Angst erleben und diese in ihrer Fantasie bei Kindern potenziert sehen, nur schwer überzeugen. So wurde der Umgang mit Angst durch Gewaltdarstellungen ebenfalls ein Dauerthema in tv diskurs. Der Psychologieprofessor Dr. Wolfgang Michaelis beschrieb in einer dreiteiligen Serie mit dem Titel Unsere Kinder sollen ohne Angst aufwachsen unser Angstsystem als Überlebensstrategie und zeigte auf, dass wir lernen müssen, mit ihr produktiv umzugehen (vgl. Michaelis 2005).
 

Erfundene Realität

Reales Leben zu filmen und im Fernsehen aufzuführen, wäre zwar preiswert, ist aber nicht besonders unterhaltsam. Fiktive Wirklichkeit lässt sich zuspitzen und besser verkaufen, wenn man ihr dramaturgisch auf die Sprünge hilft. Mit Richterin Barbara Salesch gab es die erste Gerichtsshows, die zunächst reale Fälle behandelte, später aber gescriptet wurde.

Ähnlich wie bei den Talkshows ging es in den Gerichtsshows um sexualisierte Themen und Absonderlichkeiten. Es wurde vor Gericht gestritten, geschrien, beschuldigt und beleidigt. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Befürchtet wurde, dass jugendliche Zuschauer eine völlig falsche Vorstellung von der Rechtsprechung und der Situation vor Gericht entwickeln könnten.

Dieser Streit eskalierte, als die Produktionsfirma filmpool, zuständig auch für Richterin Barbara Salesch, nach dem gleichen Prinzip scheinbar reale, in Wirklichkeit aber erfundene Familiendramen präsentierte: Es handelte sich um eine Art Pseudo-Dokusoap. Die Scripter verfassten keine Drehbücher mit vorgegebenen Dialogen, sondern entwickelten nur den Plot, die Schauspieler wurden aus einem Pool von gecasteten Personen genommen.

„Als wir 1999 bei Sat.1 mit Richterin Barbara Salesch angefangen haben, gab es noch echte Beklagte, eine echte Richterin und rechtskräftige Urteile durch ein Schiedsgericht. Die Quoten waren allerdings desaströs, die Fälle meist langweilig – und wir waren kurz davor, abgesetzt zu werden. Vor diesem Hintergrund haben wir uns überlegt, wie es wäre, alles zu scripten und auf Laiendarsteller zurückzugreifen. Zum einen spielte der Kostenfaktor hier natürlich eine Rolle, zum anderen wären wir recht schnell an unsere Grenzen gestoßen, wenn wir eine tägliche Sendung mit immer neuen Schauspielern hätten besetzen wollen. Und nicht zuletzt brachten die Laiendarsteller mit ihrer eigenen Sprache eine ganz neue Authentizität in die Sendung“ (Wesseler 2012, S. 33).

Die Kritik war vehement, dies sei eine Art Lügenfernsehen, weil die Menschen in dieser scheinbaren Dokumentation glaubten, an der Realität der dargestellten Personen teilzunehmen. Die Figuren waren, so jedenfalls die Kritik, ungebildet und überschritten ständig Tabus, die Sprache war nicht gerade elaboriert. Wieder gab es die Befürchtung, das Sprachniveau und die Konfliktlösung könnten von Kindern und Jugendlichen übernommen werden – vor allem, weil sie glaubten, das vorgeführte Verhalten entspreche der Realität. Wenn Ihr Fernseher lügt titelte Spiegel.de 2011 und stellte eine Dokumentation des NDR vor: „Hartz IV-Empfänger, Dicke und Punks, das sind die Quotenbringer der unzähligen ‚Scripted Reality‘-Formate im deutschen Fernsehen. Eine NDR-Dokumentation blickt hinter die Kulissen der gestellten TV-Wahrheiten und zeigt, wie nachgeholfen wird, wenn das echte Leben mal wieder nicht schrill genug ist“ (Lenz 2011).
 


Unsere Erfahrung zeigt ganz klar, dass es unseren Zuschauern in erster Linie darum geht, gut unterhalten zu werden. Ob das gescriptet ist oder nicht, ist zweitrangig, solange es authentisch ist.



tv diskurs wählte Scripted Reality als Titelthema: Alles nur Theater? Fernsehen zwischen Bühne und Wirklichkeit (tv diskurs, Ausgabe 61, 3/2012) und präsentierte sowohl die Position der Kritiker als auch die der Produktionsfirmen. Um herauszufinden, ob Jugendliche in der Lage sind, zu erkennen, dass es sich um Fiktion handelt, und ob der Vorwurf stimmt, die Sendungen vermittelten den Eindruck, ganz Deutschland bestehe nur aus Hartz-IV-Empfängern, führte die FSF eine Inhaltsanalyse durch, gefolgt von einer qualitativen Befragung Jugendlicher. Das Ergebnis war ähnlich wie bei den Talkshows: Tatsächlich waren die jeweiligen Milieus ungefähr so vertreten, wie es der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprach. Besonders auffällige Milieus und deren vulgäre Sprache blieben allerdings stärker im Gedächtnis.1 Die Vermutung der Produktionsfirma wurde letztlich bestätigt: „Unsere Erfahrung zeigt ganz klar, dass es unseren Zuschauern in erster Linie darum geht, gut unterhalten zu werden. Ob das gescriptet ist oder nicht, ist zweitrangig, solange es authentisch ist. Das ist tatsächlich relevant. Wenn wir artifiziell werden und Geschichten erzählen, die nicht mehr der Lebensrealität entsprechen, dann schalten die Leute ab, aber wenn es eine große Authentizität hat und die Geschichten spannend sind, dann packt es die Zuschauer auch“ (Wesseler 2012, S. 34).
 

 

tv diskurs heißt jetzt mediendiskurs

Die Themen, die für den Jugendschutz relevant sind, spielten in tv diskurs immer eine große Rolle, sind allerdings nur ein Teil der Debatte darüber, wie sich eine Gesellschaft und ihre Bürger*innen mit der rasant wachsenden Mediatisierung und Technisierung arrangieren, welche Bedeutung Medien für die Demokratie, die Wertebildung, die Partnerwahl, die Persönlichkeitsentwicklung oder die Arbeitswelt haben und welche Kultur der Kommunikation dadurch entsteht. Auch diesen Themenfeldern hat sich tv diskurs – und das in jüngster Zeit verstärkt – gewidmet und diese auch breit diskutiert.

Die klassischen Diskurse über die Schwerpunkte der Medienwirkungen haben sich in den letzten 25 Jahren verändert. In der Medienpolitik und im Medienrecht geht es heute mehr um Datenschutz, um die Diskussionskultur in den sozialen Netzwerken, insbesondere in Bezug auf Hasskommentare, und um fahrlässige oder bewusste Falschdarstellungen von realen Ereignissen oder Fakten.

Der Name tv diskurs ist daher schon länger nicht mehr zeitgemäß. Deshalb heißt das Magazin von nun an mediendiskurs. Es geht weiterhin um das Verhältnis von Gesellschaft und Medien und wie man diesen Prozess über Inhalteprüfungen, Medienbildung oder das Medienrecht sozialverträglich gestalten kann. Dazu beizutragen, dass Menschen in unserer Gesellschaft darüber in einen von Respekt geprägten kontroversen, aber zivilisierten Diskurs treten können, ist weiterhin Anliegen dieses Magazins.
 

Anmerkung:

1) Bergmann, A./Gottberg, J. von/Schneider, J.: Scripted Reality auf dem Prüfstand. Eine Studie. Berlin 2012. Abrufbar unter: https://fsf.de

Literatur:

AFP/sip: Stephanie zu Guttenberg warnt vor dem Porno-Chic. In: welt.de, 13.09.2010. Abrufbar unter: https://www.welt.de

Amann, S.: Jugendliche und ihre Einstellungen zu Liebe, Sexualität und Partnerschaft. Die Sexualaufklärung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und ihre zentralen Ergebnisse zur Jugendsexualität. In: tv diskurs, Ausgabe 4, 1/1998, S. 80–91

Beck, K.: Position des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck zur Diskussion um Big Brother und vergleichbare Sendeformate. In: tv diskurs, Ausgabe 13, 3/2000, S. 42–43

Benda, E.: Jugendschutz und öffentliche Sauberkeit. Die Medienfreiheit und ihre Einschränkung durch Gesetze. In: tv diskurs, Ausgabe 15, 1/2001, S. 28–35

Grimm, J.: Der Robespierre-Affekt. Nichtimitative Wege filmischer Aggressionsvermittlung. In: tv diskurs, Ausgabe 5, 2/1998, S. 18–29

Grimm, P./Rhein, S./Müller, M.: Porno im Web 2.0. Die Bedeutung sexualisierter Web-Inhalte in der Lebenswelt von Jugendlichen. Berlin 2010

Groebel, J./Gleich, U.: Gewaltprofil des deutschen Fernsehprogramms. Eine Analyse des Angebots privater und öffentlich-rechtlicher Sender. Opladen 1993

Hurard, F.: Jugendschutz im französischen Fernsehen. Kennzeichnung und Sendezeitbeschränkung. In: tv diskurs, Ausgabe 2, 2/1997, S. 20–23

Kiesbauer, A.: „Wir haben Tabus überschritten“. Interview von Carolin Werthmann. In: Süddeutsche Zeitung, 13.03.2020

Kunczik, M.: Normativ vorgehen. Was kann der Jugendschutz mit der Wirkungsforschung anfangen? In: tv diskurs, Ausgabe 14, 4/2000, S. 38–43

Lenz, P.-L.: Wenn Ihr Fernseher lügt. NDR-Doku über Fake-TV. In: Spiegel.de, 04.05.2011. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de

Michaelis, W.: Unsere Kinder sollen ohne Angst aufwachsen. In: tv diskurs, Ausgaben 31–33, 1/2005, S. 74–81; 2/2005, S. 78–83; 3/2005, S. 62–67

Scarbath, H.: Werkanalytischer Blick statt Vor-Urteilen. In: tv diskurs, Ausgabe 1, 1/1997, S. 40–47

Schmidt, G.: In Phantasiewelten spazieren gehen. Wie die Sexualisierung der Öffentlichkeit auf Jugendliche wirkt. In: tv diskurs, Ausgabe 15, 1/2001, S. 46–53

Selg, H.: Pornographie und Erotographie. Psychologische Vorschläge zur Sprachregelung. In: tv diskurs, Ausgabe 1, 1/1997, S. 48–51

Sigusch, V.: Thrill der Treue. Über Alterswahn und Jugendsexualität. In: tv diskurs, Ausgabe 15, 1/2001, S. 38–45

Vitouch, P.: Gewaltfilme als Angsttraining. Kontrollierbare Angstreize simulieren den Umgang mit realen Ängsten. In: tv diskurs, Ausgabe 2, 2/1997, S. 40–49

Wesseler, F.: Authentisch, aber nicht dokumentarisch. Scripted Reality gibt nicht vor, die Realität abzubilden. In: tv diskurs, Ausgabe 61, 3/2012, S. 32–37