Anatomie des Amoklaufs

Malaiischer Mĕngamok und School Shooting

Madlen Sell

Wiesbaden 2021: Springer VS
Rezensent/-in: Lothar Mikos

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 1/2023 (Ausgabe 103), S. 96-97

Vollständiger Beitrag als:

Anatomie des Amoklaufs

In ihrer Dissertation beschäftigt sich die Psychologin und Medizinerin Madlen Sell mit der Frage, ob sogenannte School Shootings als Amokläufe gelten können. Um es vorwegzunehmen: Können sie nicht. Aber dazu später mehr.

Das Ziel der Untersuchung ist es, „neben auslösenden Faktoren und Ursachen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Amok und School Shooting herauszuarbeiten“ (S. 1). Relevant ist diese Fragestellung, weil es sich um extreme Formen menschlicher Aggression handelt. Bevor Sell sich den beiden Phänomenen historisch nähert, liefert sie zunächst Begriffsdefinitionen, wobei sie zwischen Amok, Pseudo-Amok und School Shooting unterscheidet. Amok sticht dabei durch die „Plötzlichkeit seines Auftretens, seines rätselhaften Motiv­charakters und seiner Explosivität“ sowie einer Tötungsabsicht (S. 7) hervor. Pseudo-Amok dagegen ist zwar ebenfalls sehr aggressiv, hat aber eher spielerischen Charakter, da hier in der Regel niemand verletzt wird.

Bei School Shooting handelt es sich um gezielte Angriffe von ein oder zwei Schülern auf eine Schule, bei denen Schüler:innen und/oder Lehrer:innen getötet werden sollen: „Die im deutschsprachigen Raum klassischerweise als School Shooting bezeichneten Taten entsprechen am ehesten sogenannten Rampage Shootings: Ein aktuelles oder ehemaliges Schulmitglied wählt die eigene Schule bewusst als Tatort und tötet dort gezielt Mitglieder der Schule. Tatmotivierend steht die symbolische Bedeutung der Einrichtung, d. h. der Angriff auf die Institution Schule, im Vordergrund“ (S. 15). Aus der folgenden Diskussion verschiedener Aggressionstheorien kommt die Autorin zu dem Schluss, dass für ihre Studie die „Unterscheidung zwischen impulsiver und instrumenteller Aggression von besonderer Relevanz“ ist (S. 35), und schließt sich bezüglich der Ursachen von Aggression der allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnis an, dass es keine monokausalen Erklärungen gibt, sondern ein komplexes Gefüge von persönlichen, sozialen und kulturellen Faktoren eine Rolle spielt.

Die Entwicklung des Amoklaufs seit seiner Herkunft aus dem Malaiischen Archipel stellt Sell über einen Zeitraum von mehr als 500 Jahren dar. Reiseberichte von Händlern aus dem 16. und 17. Jahrhundert zeugen von Amokläufen in Indonesien und Malaysia: „Das malaiische Wort ‚mĕngamok‘ beschreibt den wütenden, bewaffneten Angriff einzelner oder mehrerer Männer, der mit der Verwundung oder Tötung möglichst vieler Menschen einhergeht und ohne Rücksicht auf das eigene Leben erfolgt. Dabei lassen sich kollektive, kriegerisch-militärtaktische und individuelle Angriffe unterscheiden“ (S. 82). Kollektiver Amok galt als „ritualisierte Kriegshandlung“ (ebd.), die die Autorin mit dem nordgermanischen Berserkergang vergleicht. Individuelle Amokläufe geschahen plötzlich, und die Wütenden verletzten Personen in ihrer direkten Umgebung meist mit einem Dolch. Sell führt die Tötungsart auch darauf zurück, dass Dolche permanent verfügbar waren und immer mitgeführt wurden. Ein Schelm, wer dabei an die Schusswaffen in den USA denkt.

School Shootings unterscheiden sich davon. Die Autorin hebt noch einmal hervor, dass es sich um ein äußerst seltenes Phänomen handelt. Ausführlich behandelt sie die Beispiele der Schießereien an der Columbine High School und der Realschule in Winnenden sowie historische Fälle in Deutschland aus den Jahren 1871 und 1913. Die Täter planen ein School Shooting meist über einen längeren Zeitraum hinweg, die Taten können also nicht als spontan gelten. Die beiden Täter in Columbine hatten „die Umsetzung ihrer Fremd- und Selbsttötungsfantasien von langer Hand geplant und monatelang akribisch vorbereitet“ (S. 103). Am Beispiel des Falles aus Bremen von 1913 argumentiert die Autorin sehr überzeugend, dass es kein School Shooting im klassischen Sinne war, sondern eine „politisch-religiös motivierte Tat“ (S. 160), die sie im historischen Kontext von Bismarcks Kulturkampf gegen den politischen Katholizismus sieht. Hinzu kam, dass der Täter an einer paranoiden Schizophrenie litt (vgl. S. 167).

Zwar gibt es einige Gemeinsamkeiten zwischen Amokläufern und School Shootern, doch zeigt sich, „dass sich School Shooter und Amokläufer hinsichtlich bestimmter Merkmale wie Alter, Bewusstseinszustand sowie Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt deutlich unterscheiden. School Shooter sind im Durchschnitt etwa zehn bis zwanzig Jahre jünger als Amokläufer. Sie handeln mehrheitlich bei klarem Bewusstsein. Im Gegensatz zu klassischen Amokläufern gehen sie sehr kontrolliert und zielgerichtet vor und das über einen längeren Zeitraum hinweg, der von Minuten bis Stunden reichen kann, wie aus Videoaufnahmen der Taten an Schulen eindeutig hervorgeht“ (S. 200). Während Amokläufer oft Reue empfinden, ist diese Regung School Shootern fremd. In Bezug auf die Aggressionstheorien stellt Sell fest:

Während klassischer Amok dem Bereich der impulsiven, ungerichteten Aggression zugeordnet werden kann, handelt es sich bei School Shooting um eine Form instrumenteller, zielgerichteter Aggression“ (S. 202).

Die Autorin plädiert anschließend dafür, nicht mehr von Schulamoklauf zu sprechen, sondern von „Schulanschlag“ (ebd.).

Madlen Sell hat mit ihrem Buch eine sehr wichtige Grundlage für den Diskurs über Gewalthandlungen in Form von Amokläufen und School Shootings geschaffen, weil sie die Muster und Strukturen nicht nur analysiert, sondern auch sehr detaillierte Beschreibungen von Fallbeispielen liefert.

Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos