Anthologieserie

Systematik und Geschichte eines narrativen Formats

Kilian Hauptmann, Philipp Pabst, Felix Schallenberg (Hrsg.)

Marburg 2022: Schüren
Rezensent/-in: Florian Krauß

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 101-102

Vollständiger Beitrag als:

Anthologieserie

Seit einigen Jahren ist in Feuilleton und Fernsehkritik verstärkt von Anthologieserien die Rede. Mit einzelnen, in sich abgeschlossenen Folgen oder jeweils zu Ende erzählten, inhaltlich und stilistisch unterschiedlichen Staffeln gelten solche Serien oft als narratives Gegenmodell zu „serials“ mit ausufernden horizontalen Handlungsbögen. Eine tiefer gehende Analyse und Theoretisierung der Anthologieserie stand in der deutschsprachigen Medienwissenschaft aber bislang aus. Der von Kilian Hauptmann, Philipp Pabst und Felix Schallenberg herausgegebene Sammelband schließt die entsprechende Lücke.

In der Einleitung wird zunächst dieses Buzzword durch eine Begriffs- und Definitionsarbeit fundiert. Hier unterteilen die drei Herausgeber die „auf den ersten Blick neuartige Hybridform“ (S. 9) in „Episodenanthologien und Staffelanthologien“ (S. 10). Als Leitfrage ihres Bandes stellen sie heraus, wie Anthologieserien Äquivalenz und Kohärenz herstellen. Anschließend ordnen sie diese Serienausprägung in die vor allem US-amerikanische Fernsehgeschichte ein und gleichen sie mit „familienähnliche[n] Begriffe[n]“ (S. 15) wie der Reihe oder der Miniserie ab.

Dirk Rose systematisiert den Terminus „Anthologieserie“ weiter, indem er auf die Anthologieforschung in Literatur- und Buchwissenschaft zurückgreift und drei zentrale Forschungsperspektiven entwickelt: auf das Material, das in Anthologien versammelt wird, auf den Markt, in dem Anthologien „kulturökonomische Produkte“ (S. 52) sind, sowie auf die Marke, die Anthologieserien herausbilden und ausformen.

Die weiteren Beiträge wenden sich spezifischeren Serienbeispielen zu: Gleich zwei Autor*innen setzen sich z. B. mit der HBO-Produktion True Detective auseinander: Moritz Baßler mit der strukturellen Äquivalenz zwischen ihren Staffeln, Irene Husser mit den zeitlichen Strukturen in der Narration. Kilian Hauptmann untersucht Kohärenzbildungen anhand von anthropologischen Elementen in der Serie Fargo; Sebastian Berlich und Johannes Ueberfeldt legen dar, wie sich Black Mirror in einen Modus der „dynamische[n] Selbstbeobachtung“ (S. 177) ergibt. Philipp Pabst und Felix Schallenberg erkunden den Zusammenhang von anthologischer Form mit Ästhetik anhand der Science-Fiction-Animationsserie Love, Death & Robots. Sven Grampp nimmt ein älteres Beispiel, Walt Disney’s Disneyland aus den 1950er-Jahren, zum Ausgangspunkt, um Ähnlichkeitsrelationen in Anthologieserien und die epistemische Voraussetzung einer solchen Beobachtung zu diskutieren. Während Grampp den Band so um fernsehhistorische Betrachtungen erweitert, eröffnet Raphael Krause Perspektiven auf die deutsche Fernsehfiktion: Er legt den hybriden Charakter des Erfolgsformats Tatort – zwischen Episoden-, Fortsetzungs- und Anthologieserie – dar. Martin Hennig nimmt ein bestimmtes Genre in den Blick, indem er Ästhetik, Erzählformen und kulturelle Funktionen von Horroranthologien in Film und Fernsehen beleuchtet. Bezüge zum Horrorgenre sind auch im Beitrag von Ilona Mader und Nicole Mattern gegeben, da sie hier u. a. an American Horror Story den Anthologiebegriff verhandeln.

Durch die verschiedenen Aufsätze entsteht ein facettenreicher Blick auf das gegenwärtige, aber auch in der Fernsehgeschichte immer wieder relevante Phänomen der Anthologieserie. Nur am Rande ist zu bemängeln, dass die Herausgeber in der Einleitung allzu pauschal behaupten, dass Anthologieserien Kohärenz und Äquivalenz weniger über Figuren und Diegese als vielmehr über formale Ähnlichkeiten konstituieren. Sie unterschlagen, dass viele der später analysierten Serien, wie beispielsweise True Detective, ausgesprochen „character-driven“ sind. Damit verknüpft ist auch ihre Aussage angreifbar, dass Parasozialität in der Rezeption von Anthologieserien nur noch eine untergeordnete Rolle spiele. Dies lässt sich nicht nur bei horizontal erzählten „Staffelanthologien“ (S. 10), sondern zudem bei früheren Anthologieserien mit immer wiederkehrenden Moderator*innenfiguren bezweifeln (die die Herausgeber selbst in dem historischen Rückblick anführen). Hier hätte dem Band wohl ein genauerer, gegebenenfalls auch empirisch fundierter Blick auf Rezeptionsweisen gutgetan. Eine ausführlichere Thematisierung der Zuschauer*innen wäre auch angesichts des theoretischen Befundes in Dirk Roses Beitrag spannend gewesen, dass sich angesichts von stärkeren Rezeptionsaktivitäten im „Zeitalter des ‚sharings‘ und der ‚collaborative economy‘ […] ganz neue Perspektiven für die Anthologieforschung“ (S. 54) ergeben. Der Verortung in Medienkultur- und Literaturwissenschaften geschuldet, bleiben in dem Sammelband auch Ökonomie und Produktionszusammenhänge von Anthologieserien weitgehend außen vor.

Als weiteres Desiderat lässt sich feststellen, dass sich der Band, abgesehen von den Beiträgen zum Tatort und zum britischen Science-Fiction-Drama Black Mirror, nur um US-amerikanische Serien dreht und so wie das Gros der aktuellen Serienforschung nicht englischsprachige Produktionen vernachlässigt. Aber zu US-amerikanischen Anthologieserien liefert das Buch einen vielschichtigen, immer wieder auch historisch kontextualisierten Blick. Zudem etabliert es wichtige Begriffsdefinitionen zu diesem Serientypus, die künftige Forschungen befruchten können.

Dr. habil. Florian Krauß