Authentizität, Vielfalt, Wettbewerb

Was ist das nächste große Ding im TV?

Tanja Deuerling

Dr. Tanja Deuerling arbeitet als Formatentwicklerin, Kreativcoach, Innovationsberaterin und Hochschuldozentin.

Deutschland sieht fern. Ob klassisch „vor der Glotze“, via Streamingplattformen und Mediatheken oder auf YouTube. Die Anzahl an Angeboten hat sich potenziert, die Nutzung ist entlinearisiert, individualisiert und flexibel wie nie. Doch wofür genau interessieren sich die Zuschauerinnen und Zuschauer aktuell und in naher Zukunft? Was sind die wichtigsten nationalen und internationalen Trends im TV?

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 68-74

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Bei den hier veröffentlichten Erkenntnissen handelt es sich um Auszüge aus einer von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) im Rahmen ihrer TV- und Bewegtbildarbeit beauftragten Studie. Die Recherche hierfür orientiert sich an den gängigen Methoden zur Erfassung von Trends. Neben den im Text zitierten Studien zählen zu den Quellen die Websites von Sendern, Streamingdiensten, Distributoren und Produktionsfirmen, deutsche und internationale Branchendienste sowie leitfadengestützte Interviews mit Expertinnen und Experten der Fernsehbranche.1 Die hinter den genannten Fernsehsendungen in Klammern angegebene Jahreszahl gibt das Jahr der Erstausstrahlung an.


Noch spielt in Deutschland das lineare Fernsehen mit den klassischen TV-Sendern eine große Rolle und dominiert die nationale Bewegtbildbranche. Doch von Jahr zu Jahr gewinnen Webvideoportale und Streamingdienste sowie Mediatheken an Bedeutung. Die Zahlen der ARD/ZDF-Onlinestudie 20182 machen deutlich: Das klassische Fernsehen verliert in allen Altersstufen an Zuseherinnen und Zusehern, vor allem aber bei den unter 30‑Jährigen. Die Programme der Sender werden nach wie vor gesehen, allerdings öfter in den Mediatheken oder auf Videoplattformen. YouTube & Co. sind bei den Zielgruppen unter 50 fest etabliert. Auch die kostenpflichtigen Streamingdienste gewinnen vor allem bei den 14- bis 49‑Jährigen kontinuierlich an Bedeutung und sind nun auch in Deutschland ernst zu nehmende Player. Der Trend ist eindeutig: Die Zukunft des Fernsehens findet online statt. Die jungen Zielgruppen schauen schon jetzt Bewegtbildinhalte eher im Internet als live am Fernseher.

Dabei wollen junge Frauen und Männer unter 30 Jahren vor allem unterhalten werden, wenn sie fernsehen: Die beliebtesten Sendungen sind Unterhaltungsshows, Spielfilme und amerikanische Serien. Doch auch Information spielt eine nicht unerhebliche Rolle. So gibt in einer aktuellen Studie des Sinus-Instituts3 über die Hälfte aller unter 30‑Jährigen an, dass sie zumindest für Nachrichten den Fernseher einschalten. Andere informative Formate und auch politische Inhalte werden mit Einschränkung gefunden – und nur, wenn sie unterhaltsam verpackt sind.
 


Die wichtigsten Trendsetter

Obwohl Deutschland ein großer und bedeutender TV-Markt ist, werden hierzulande wenig Trends gesetzt. Deutsche Sender orientieren sich eher an Formaten, die schon in anderen Ländern erfolgreich sind, und investieren weniger in Eigenentwicklungen. Weltweit gelten die USA als der wichtigste Trendsetter, für Deutschland spielen wegen ihrer kulturellen Ähnlichkeiten die europäischen Nachbarn eine mindestens ebenso große Rolle. Großbritannien wird „als Inputgeber Nummer eins“ (Henrik Pabst, Red Arrow Studios International) angesehen, und auch die Niederlande liefern traditionell entscheidende Impulse. Seit rund einer Dekade machen vor allem die skandinavischen Länder auf sich aufmerksam. Im Moment gilt Belgien als der angesagte Innovator im Bewegtbildmarkt. Zudem wird Israel seit Jahren als besonders innovativ gehandelt. Neuerdings halten die internationalen Produktionsfirmen verstärkt im asiatischen Markt nach Neuem Ausschau.
 

Die nächste „neue“ Serie

Serien gelten nach wie vor als einer der wichtigsten Trends. Der internationale Boom bewirkt, dass es immer neue Erzählweisen und Inhalte gibt und verstärkt interessante und zukunftsweisende Programme aus Europa kommen. Doch die unübersichtliche Vielfalt an neuen Serien, die im Moment weltweit für die unterschiedlichsten Plattformen produziert werden, macht es nicht leicht, klare inhaltliche Trends zu identifizieren.
 

Nichts ist absurd genug, als dass man daraus keine Serie machen könnte“ (Timo Gößler, Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF).

Die beliebtesten Genres sind nach wie vor Krimi, Mystery, Fantasy, Science-Fiction und Sitcoms. Doch was ist das nächste große Ding nach Game of Thrones und The Big Bang Theory?

Wurden die neuen Serien dafür geliebt, dass sie düster, zynisch, „edgy“ sind, bevölkert von widersprüchlichen, oft negativen Helden und Verbrechern, bewegt sich eine neue Generation von Serien hin zu ungewöhnlichen Familiengeschichten voller Wärme, positiver Werte und guter, echter Helden. Familienserien sind schon immer ein erfolgreiches Genre gewesen, aber nun rücken sie in den Fokus für neue Erzählweisen und machen sie für anspruchsvolle junge Serienfans attraktiv. Diese neuen Familienserien gehen der Frage nach, was das Menschsein in unserer Zeit und angesichts der aktuellen Herausforderungen in einer diversen Gesellschaft ausmacht. Die amerikanische Serie This is Us (NBC, 2016) wird als wichtigste Produktion dieses Trends gefeiert. Die in unterschiedlichen Zeitebenen erzählte Familiensaga ist in Amerika der Serienhit. Hierzulande wird verstärkt nach ähnlichen Stoffen gesucht. VOX zeigt seit Juni 2019 die Eigenentwicklung Das Wichtigste im Leben und die ARD adaptiert die schwedische Serie Bonusfamiljen (SVT, 2018).
 

Unterhaltung: Hauptsache Wettbewerb

Große Entertainmentformate werden traditionell als Events inszeniert. Vor allem große Liveshows erzeugen diesen Lagerfeuermoment und sind damit eine wichtige Stütze für das lineare Fernsehen. Eine der größten Herausforderungen für neue Shows wie für alle Formate ist es, in der Masse an weltweiten Anbietern sichtbar zu werden. Eine Erfolg versprechende Strategie ist es, Formate mit prominenten Namen zu besetzen, die schon per se Aufmerksamkeit erregen. Im globalen Markt hat das Namedropping eine neue Dimension erreicht. Vorläufiger Höhepunkt des Prominentenmarketings ist die Meldung von Netflix aus dem Mai 2018: Barack und Michelle Obama gehen mit ihrer neuen Produktionsfirma Higher Ground Productions eine mehrjährige und millionenschwere Partnerschaft mit dem Streamingdienst ein. Und auch Fox sicherte sich einen großen Namen und verkündete mit Spin the Wheel eine neue Show, die Justin Timberlake erfunden hat.

Verlässliche Zuschauerhits sind nach wie vor die großen Talent- und Castingshows. Mit Talent wie Singen, Tanzen oder Modeln – so suggerieren diese Shows – kann jeder in kurzer Zeit zum Star werden. Formate wie diese bieten damit Identifikationspotenziale für ein breites Publikum: 

Du musst nur den richtigen Traum verkaufen“ (Bernhard Sonnleitner, ProSiebenSat.1).

Neben den großen Klassikern werden dabei nach wie vor weitere Wettbewerbe mit neuen Mechanismen entwickelt, wie z.B. bei dem in Israel sehr erfolgreichen Format Masters of Dance (Keshet, 2018), an dem ProSieben die Rechte für eine deutsche Adaption erworben hat.

Vergleichsweise neu ist das Genre „Physical Competition“, das weltweit erfolgreich ist. Dabei werden unterhaltsame Sportwettbewerbe jenseits der klassischen Disziplinen geschaffen, an denen jeder teilnehmen kann: Auch hier sind „normale“ Menschen die Stars; damit werden diese Shows dem Bedürfnis nach Echtheit, Unberechenbarkeit und Authentizität gerecht. Im deutschen Markt gilt die Adaption der japanischen Show Ninja Warrior Germany (RTL, 2016) als Game Changer und setzte einen „Trend, der uns noch lange begleiten wird“ (Marcel Amruschkewitz, VOX).
 


Social Media als Frischzellenkur

Damit das lineare Fernsehen auch für eine junge Zielgruppe attraktiv bleibt, werden Formate ins Internet und auf Social-Media-Plattformen verlängert. Der linearen Rezeption wird eine Vielfalt an nonlinearen Angeboten zur Seite gestellt und damit eine multimediale, interaktive Welt rund um die Bewegtbildformate gebaut. Vorreiter sind neben den USA die skandinavischen Länder. Als trendsetzend wird dabei weltweit die norwegische Jugendserie SKAM (NRK3, 2015) genannt, die in Deutschland von funk adaptiert wurde (DRUCK [2018]). Das Format baut um die lineare Nutzung einen Kosmos von Charakteren auf, deren Geschichten man zusätzlich online auf sozialen Medien folgen und sich mit den fiktiven Charakteren austauschen kann.

Die britische Show The Circle (Channel 4, 2018) geht noch einen deutlichen Schritt weiter. Eine Gruppe sich fremder Menschen zieht für drei Wochen in einen Wohnblock. Die jungen Leute leben Tür an Tür, doch sie kommen ausschließlich über Social Media miteinander in Kontakt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können neben einer täglichen Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse im linearen TV über die App quasi nonstop Teil von The Circle sein.
 

Auf der Suche nach dem Authentischen

Im Bereich „Factual Entertainment“ sind nach wie vor Guilty-Pleasure-Formate wie Love Island (ITV2, 2015) vor allem beim jungen Publikum weltweit extrem erfolgreich. Doch es lassen sich zunehmend neue Stoffe ausmachen: „Ernstere Themen, die man vor fünf bis zehn Jahren nicht angefasst hätte“ (Bernhard Sonnleitner, ProSiebenSat.1). Die Grenzen dessen, was man noch im Factual Entertainment – also in als Unterhaltung geltenden Formaten – zeigen kann, werden immer weiter ausgetestet. In Israel sorgte das Format Back to Life (Channel 10, 2017) für Furore. In der Serie werden Menschen begleitet, die auf eine lebensrettende Organspende warten. Auch in Deutschland beginnt man, den Tod leicht verdaulich zu thematisieren. RTL II zeigte 2018 das Format Voller Leben – Meine letzte Liste. Hier werden Menschen begleitet, die nicht mehr lange zu leben haben.

Das Thema „Armut und soziale Ungerechtigkeit“ ist im deutschen Fernsehen gleich auf mehreren Sendern Gegenstand von Reality-Formaten. Hartz und herzlich (RTL II, 2016) feiert in Deutschland Erfolge und generiert immer neue Me-too-Formate. Mit den Mitteln des unterhaltenden Fernsehens werden die Menschen in ihren prekären Lebenswelten gezeigt und mit ihren Sorgen und Nöten dabei durchaus ernst genommen.

Insgesamt sind die neuen Factual-Entertainment-Trends vom Bedürfnis nach Authentizität, nach Echtheit und auch Unberechenbarkeit geprägt, nach „beobachtenden Formaten, die mit wenig Inszenierung auskommen“ (Torsten Zarges, DWDL.de). Ein neues Level von Authentizität ist durch technische Innovationen ermöglicht worden, wie z.B. die Fixed-Rig-Produktion. Digitale, ferngesteuerte Kameras sind dabei mit klassischer Vor-Ort-Übertragung kombiniert und lassen sich überall installieren. Jeder Ort kann so zu einem Big Brother-Haus werden und erlaubt die scheinbar unbeobachtete Beobachtung.

Der Trend zur Fixed-Rig-Produktion wurde 2010 von Channel 4 ausgelöst, als der Sender das erfolgreiche Format One Born Every Minute zeigte, eine Dokumentation aus dem Kreißsaal. In Deutschland war man zunächst skeptisch gegenüber der „Überwachungskamera-Technik“. Es dauerte einige Jahre, bis der Trend hierzulande verfing. VOX setzt seit 2017 gleich bei mehreren Produktionen auf diese Art von Umsetzung, so z.B. bei der Adaption des britischen Formats Unsere Schule (Educating … [Channel 4, 2011]). Hier wurde der Alltag einer deutschen Schule von über 30 Kameras beobachtet, eine „Chance zur Transparenz und um zu zeigen: So sind wir!“ (Marcel Amruschkewitz, VOX).

Einen noch radikaleren – und sehr umstrittenen – Schritt in Richtung Authentizität zeigt das neue Format Operation: Live (7plus 2019), das in Australien große Erfolge feiert und im deutschen Markt gerade diskutiert wird. Hier werden mit Fixed-Rig-Technik Herzoperationen und Geburten live aus dem OP-Saal im Fernsehen übertragen. Mehr Leben geht nicht.
 


Diversität und Inklusion

Das Fernsehen wird bunter und bildet die zunehmend diversere westliche Gesellschaft ab. Es finden Themen Einzug in das Mainstreamprogramm, die vorher nur in Nischen stattgefunden haben: Geschlechtsidentität und sexuelle Ausrichtungen, Menschen mit Handicaps oder auch Senioren sind Stoffe, aus denen trendsetzende Formate entstehen.

Noch zögerlich wird im deutschen wie europäischen Fernsehen das Thema „Migration und Geflüchtete“ behandelt. Hervorzuheben ist ein Format für eine junge Zielgruppe, das sich dem Thema unverkrampft und offen nähert. Berlin und wir! (ZDFtivi, 2017) begleitet Berliner und geflüchtete Jugendliche bei einem gemeinsamen Projekt und lässt sie ihre Welten, Sichtweisen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten entdecken.

Gender Identity hingegen ist in der westlichen Welt ein Thema, das immer mehr in der Mitte der Gesellschaft ankommt. Dabei treten nicht nur Protagonisten der LGBTQ-Community bei Fernsehformaten in den Vordergrund, wie z.B. bei der erfolgreichen Neuauflage des US-Formats Queer Eye (Netflix, 2018), sondern auch deren spezifische Herausforderungen, wie das Finden der eigenen geschlechtlichen Identität und das Coming-out. Die Dokuserie aus den USA Lost in Transition (TLC, 2018) beispielsweise handelt von Paaren, bei denen ein Partner sein Geschlecht infrage stellt und sein Leben ändern will. 2018 sind auch im europäischen Markt vermehrt Formate zum Thema „Transgender“ gestartet, wie z.B. die belgische Dokuserie M/V/X (één, 2018), die fünf flämische Transgender bei der Suche nach einem besseren Leben begleitet.

Ein weiteres Thema, das ein Tabu für unterhaltendes Fernsehen war und nun zunehmend aufgegriffen wird, sind Menschen mit Behinderungen. Wiederum die BBC übernimmt hier die Vorreiterrolle: Employable Me (BBC TWO, 2016) versucht, für Menschen mit Handicap einen Job zu finden. Das Format wurde 2018 von VOX als Ich, einfach unvermittelbar? (VOX, 2018) adaptiert.

An die Schmerzgrenze und darüber hinaus geht das ebenfalls aus Belgien stammende Taboe (één, 2018). Kern des weltweit adaptierten Formats ist es, über Menschen mit Übergewicht, Handicaps, Krankheiten, über Homosexuelle und Menschen mit Migrationshintergrund zu lachen. Eine Sendung also, „in der man sich über Leute lustig macht, über die man sich nicht lustig machen sollte“, so der Comedian Philippe Geubels, der das Format moderiert.
 

Politainment

In Deutschland wird eine Repolitisierung der Gesellschaft konstatiert. Doch bei der jungen Zielgruppe muss Politik transparent sein, die Verbindung zum „echten“ Leben schaffen und mehr bieten als Politikerphrasen. Aus diesem Bedürfnis entstehen zunehmend Factual-Entertainment-Formate, die Politik und Politiker aus den üblichen Orten und Strukturen ins echte Leben und zu authentischen Menschen mit ihren Problemen bringen.

Im Wahljahr 2017 gab es in Deutschland bereits TV-Formate für eine junge Zielgruppe, die als Politainment bezeichnet werden können. In Endlich Klartext – Der große RTL II Politiker-Check (RTL II, 2017) trifft der deutsch-marokkanische Kabarettist Abdelkarim deutsche Politiker und konfrontiert sie mit Menschen, deren Leben von den politischen Entscheidungen beeinflusst wird. Auch das Format Volksvertreter (ZDFneo, 2017) setzt auf Konfrontation von Politikern mit dem echten Leben. Weitere Beispiele sind im Ausland zu finden: In dem kanadischen Format Political Blind Date (tvo, 2017) findet die Konfrontation zwischen Politikern statt, die aus den Regierungsgebäuden und Parteibüros ins echte Leben geschickt werden. In jeder Episode treffen zwei Politikerinnen oder Politiker unterschiedlicher Parteien aufeinander und unterziehen ihre unterschiedlichen Konzepte einem Realitätscheck.
 

Subjektivierung im Journalismus

In Deutschland ist ein zunehmendes Interesse an Informationsformaten festzustellen. Globale Probleme wie Klimaerwärmung, Populismus, Diskriminierung und Ausbeutung interessieren gerade junge Menschen immer mehr. Gepaart ist dieser Trend mit „einem erhöhten Bedarf an glaubhaften Informationen als eine Gegenbewegung zu der interessengeleiteten Gegenöffentlichkeit“ (Sophie Burkhardt, funk).

Angesichts der Komplexität im Weltgeschehen und der zunehmend wahrgenommenen Paternalisierung durch die etablierten Strukturen erscheint eine subjektive Berichterstattung als ein glaubhafter Weg. Hierbei stehen die Journalistinnen und Journalisten beim Arbeitsprozess im Vordergrund, als authentische Menschen mit einer deutlichen Haltung. Sie nehmen die Zuschauer mit bei ihren Recherchen, lassen sie teilhaben an ihren Erkenntnissen, aber auch an ihren Zweifeln und den aufkommenden Emotionen. Vor allem bei jüngeren Zielgruppen wird diese Art von Informationsvermittlung positiv angenommen. Beispielhaft dafür ist Y‑Kollektiv (funk, 2016). Für das Onlineformat recherchieren die Reporter weltweit vor Ort aktuell brisante Themen. Der Anspruch von Y-Kollektiv ist es dabei nicht, objektiv zu sein, sondern möglichst authentisch und ehrlich.
 

Renaissance der Dokumentation

In der von den neuen Plattformen getriebenen Bewegtbildwelt „erlebt die Dokumentation eine Renaissance“ (Torsten Zarges, DWDL.de). Vor allem Netflix hat wie schon bei der fiktionalen Serie das Genre neu belebt, indem der Streamingdienst qualitativ hochwertige, z.T. horizontal erzählte Dokureihen ermöglicht. Die Themenpalette reicht dabei von Natur und Umwelt bis zum Starporträt, besonders beliebt bei den Onlineanbietern sind mehrteilige Real-Crime-Dokumentationen, wie z.B. die US-Dokuserie Flint Town (Netflix, 2018). Sie erzählt ungeschönt den oft frustrierenden Alltag in einem Polizeirevier einer strukturschwachen Stadt.

Ein weiteres zukunftsweisendes Beispiel ist bei der BBC zu finden: The Mighty Redcar (BBC TWO, 2018) ist eine mehrteilige Langzeitdokumentation im Stil einer Soap. Begleitet werden mehrere junge Leute in einer ausblutenden Industriestadt, die versuchen, mit Unterstützung ihrer Eltern trotz der widrigen Umstände ihre Zukunftspläne umzusetzen. Beachtenswert ist auch die Reportagereihe Ungleichland (WDR, 2018), die soziale Ungerechtigkeit in Deutschland thematisiert und im Netz heiß diskutiert wurde.
 


Satirische Comedy-Hybride

Satire gilt als ein probates Mittel, um sich Themen der Zeit kritisch und unterhaltsam zu nähern. Zeiten mit brisantem politischem Geschehen und drängenden Problemen in der Gesellschaft bieten dabei einen guten Nährboden für Überspitzung und Spott. Die USA sind mit berühmten Late-Night-Shows wie The Late Show with Stephen Colbert (CBS, 2015) Vorbild für politische Satire. In ganz Europa gibt es ähnliche Politshows, in Deutschland gilt Jan Böhmermanns Neo Magazin Royale (ZDF/ZDFneo, 2013) als das innovativste Angebot in diesem Genre und ist bei der jungen Zielgruppe besonders beliebt. Böhmermann und sein Team verstehen es, auf der Klaviatur der unterschiedlichen Genres zu spielen: Sie mixen Stand‑up, Talk, Musikvideo, Reportage, Magazin, Kommentar und Fiktion und erfinden so immer neue Rubriken und Specials für die Show. Eine ähnlich innovative wie unterhaltsame Produktion kommt aus Norwegen: In Stories from Norway (TVNorge, 2018) werden aktuelle Ereignisse aufgegriffen und in einer wilden Genremischung mit Elementen des Musicalfilms und des Videoclips, des Krimis sowie der Nachrichten und Dokumentation neu erzählt.
 

Fazit

Die weltweite Bewegtbildbranche ist auf der Suche nach dem nächsten großen Ding. Die Konkurrenz unter den etablierten und neuen Playern wächst ständig und zwingt sie zu Innovationen. Klassisches Fernsehen und nonlineare Angebote beeinflussen sich dabei gegenseitig und werden künftig immer weniger zu trennen sein. Galt in den vergangenen Jahren die fiktionale Serie als der wichtigste Trend, rücken die bei jungen Leuten immer populärer werdenden nonfiktionalen Formate und Informationssendungen in den Fokus.

Doch welche Inhalte machen den nächsten großen Hit aus? Überraschungserfolge mit neuen Ideen, die niemand prognostiziert hat und die oft ganz plötzlich einen neuen Trend setzen, wird es immer geben. Wahrscheinlich aber ist, dass Mystery, Fantasy und Krimi noch lange erfolgreich sein werden. Auch die großen, live ausgestrahlten Talent- und Wettbewerbsshows sowie trashige Reality-Formate bleiben den Fans wohl erhalten. Neu dagegen ist die zunehmende Anzahl an Formaten über alle Genres hinweg, die sich um Authentizität, Wahrhaftigkeit und Ernsthaftigkeit bemühen und bei denen glaubhafte Menschen mit Haltung im Vordergrund stehen. Sie sind Identifikationsfiguren, Informationsvermittler und Meinungsbildner in einer komplexen und unübersichtlichen Welt. Es finden dabei Themen Einzug in das unterhaltende Mainstreamprogramm, die lange tabu waren, wie Migration, Geschlechtsidentität, Feminismus, soziale Unterschiede, Behinderung, Krankheit und sogar Tod. Es geht um die Herausforderungen des Menschseins in unserer diversen westlichen Gesellschaft.
 

Anmerkungen:

1) Die leitfadengestützten Interviews fanden im September und Oktober 2018 mit Expertinnen und Experten der nationalen und internationalen Bewegungen in der Fernsehbranche statt. Für diese Interviews konnte ich die folgenden Ansprechpartnerinnen und ‑partner gewinnen: Marcel Amruschkewitz (Head of Creative Unit, VOX) , Sophie Burkhardt (Stellvertretende Programmgeschäftsführerin/ funk), Dirk Eggers (Leiter Fiction/Imago TV), Timo Gößler (Leiter Winterclass Serial Writing and Producing/Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF), Jennifer Mival (Head of Formats & Creative Partnerships/Seapoint), Henrik Pabst (President/Red Arrow Studios International), Bernhard Sonnleitner (Vice President International Scouting & Trends/ProSiebenSat.1 TV Deutschland) und Torsten Zarges (Chefreporter/DWDL.de, Inhaber der Agentur Zarges | creative talent connection).

2) Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2018 in: Media Perspektiven, 9/2018, S. 398 – 450. Vgl. auch: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM-Studie 2017. Jugend, Information (Multi-)Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19‑Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2017

3) SINUS-Institut 2018 nach Best-for-Planning (b4p) 2018