Beteiligung macht glücklich

Eva Lütticke im Gespräch mit Tim Gensheimer

In der Forschungsreihe Wie ticken Jugendliche? untersucht das SINUS-Institut seit 2008 jugendliche Lebenswelten. Alle vier Jahre wird ein umfassender Bericht veröffentlicht, der sich intensiv mit dem Alltag, den Erfahrungen und den Zukunftswünschen der jungen Generation auseinandersetzt. mediendiskurs sprach mit dem Politikwissenschaftler Tim Gensheimer, Senior Research & Consulting am SINUS-Institut und Co-Autor der Untersuchung, über die jüngsten Ergebnisse der Studie. Im Fokus stehen dabei die Themen „soziale Ungleichheit“ und „Diskriminierung“ sowie der Umgang der Jugendlichen mit Krisen.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 4/2024 (Ausgabe 110), S. 54-59

Vollständiger Beitrag als:

 

Ihre Jugendstudie identifiziert verschiedene universelle Werte wie soziale Geborgenheit, Selbstbestimmung und Sicherheit. Haben sich diese Werte in den letzten Jahren verändert?

Die grundlegenden Werte haben sich seit der letzten Studie im Jahr 2020 kaum verändert: Soziale Geborgenheit, Sicherheit, Leistung, Selbstbestimmung – das sind weiterhin zentrale Werte, auf die sich so gut wie alle Jugendlichen einigen können. Was sich jedoch verändert hat, ist ihre Gewichtung. Die Bedeutung von Gesundheit hat beispielsweise zugenommen, was wir vor allem auf die Auswirkungen der Coronapandemie zurückführen. Auch das Thema „Sicherheit“ hat an Bedeutung gewonnen, insbesondere im Zusammenhang mit materieller Sicherheit sowie einem geregelten und stabilen Leben.

Spielt der Angriffskrieg in der Ukraine eine Rolle bei diesem verstärkten Sicherheitsbedürfnis?

Der Krieg in der Ukraine hat Jugendliche stark beschäftigt, vor allem in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn. Gerade aus der Zeit der ersten Kriegswochen berichteten uns die Jugendlichen über Angstgefühle und große Sorgen. Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen wie die Inflation und steigende Lebenshaltungskosten dürften dazu beitragen, dass das Thema „materielle Sicherheit“ zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Ein Begriff, der in der aktuellen Studie auftaucht, ist der Regrounding-Trend. Was genau bedeutet das?

Der Regrounding-Trend beschreibt die Tendenz von Jugendlichen, sich in unsicheren oder turbulenten Zeiten stärker auf grundlegende Werte wie Familie, Freundschaften und Heimat zu besinnen. Es geht dabei um emotionalen Rückhalt und Sicherheit in gefestigten und vertrauensvollen sozialen Beziehungen, nicht um politisch-traditionelle Vorstellungen von Heimat oder Familie. Diese Sehnsucht nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Geborgenheit hat sich insbesondere durch die Coronapandemie verstärkt.

Haben sich die Lebenswelten der Jugendlichen in der aktuellen Studie verändert oder sind sie im Vergleich zur Vorgängerstudie relativ konstant geblieben?

Die Lebenswelten haben sich in der aktuellen Studie etwas verändert. Wir haben nach wie vor sieben Lebenswelten, die die Vielfalt unter Jugendlichen abbilden und die weitgehend vergleichbar mit der Vorgängerstudie sind. Eine Ausnahme ist die ehemals „postmaterielle Lebenswelt“, die jetzt „neo-ökologisch“ genannt wird. Sie hat sich von einem eher normativ geprägten Ansatz hin zu einem pragmatischeren Ansatz entwickelt, besonders in Bezug auf Themen wie den Klimawandel.

Interessant ist auch, dass es Unterschiede gibt, wie stark Jugendliche in ihrer Heimat oder ihrer Familie verwurzelt sind. Was sagen diese Unterschiede über die Bedürfnisse und Sorgen der Jugendlichen aus?

Die Wohnumgebung und ein festes soziales Netz sind für alle Jugendlichen wichtige Bezugspunkte. Es gibt aber jugendliche Lebenswelten, die stärker verwurzelt sind als andere. Es zeigt sich beispielsweise, dass Jugendliche aus finanziell weniger gesicherten Familien oft nach emotionaler und finanzieller Sicherheit suchen. Sie sind mehr mit den grundlegenden Alltagsproblemen beschäftigt. Jugendliche, die diese Sorgen nicht haben, können sich stärker mit nicht materiellen Themen wie Gerechtigkeit und Umweltschutz auseinandersetzen. Dies lässt sich gut durch die Maslow’sche Bedürfnispyramide erklären: Die Grundbedürfnisse müssen erfüllt sein, bevor man sich intensiver mit anderen Dingen beschäftigen kann.  

 


„Rassismus beispielsweise [ist ungerecht], oder wenn jemand trans ist oder so, finde ich auch komisch, wenn man dagegen ist.“
 

(männlich, 14 Jahre, Migrationshintergrund, „Adaptive“)


 

In Ihrer Studie haben Sie festgestellt, dass Diskriminierung und soziale Ungleichheit ebenfalls zentrale Themen für Jugendliche sind. Können Sie das näher erläutern?

Das Thema „Diskriminierung“ ist für Jugendliche sehr präsent, insbesondere in der Schule. Sie berichten von verschiedenen Formen, von herablassenden Bemerkungen und Ausgrenzungen bis hin zu wahrgenommener systematischer Ungleichbehandlung im Unterricht, beispielsweise bei der Notengebung. Die Jugendlichen berichten auch, dass Lehrkräfte nicht unbeteiligt sind und sich zumindest unbewusst ebenfalls diskriminierend verhalten. Als Auslöser von Diskriminierung im Schulkontext werden ein Migrationshintergrund, Übergewicht, nonkonformes Aussehen oder Armut genannt.

Bildungschancen und Ungleichheit waren auch Aspekte in Ihrer Studie. Was genau kritisieren die Jugendlichen?

Die Jugendlichen sehen den Bildungserfolg und die Bildungschancen als stark ungleich verteilt. Besonders die äußeren Bedingungen sind zentrale Faktoren. So hängt der Bildungserfolg maßgeblich von der sozialen Herkunft ab – von dem finanziellen Status des Elternhauses oder einem möglichen Migrationshintergrund. Auch die familiäre Unterstützung in Bildungsfragen, die Wohnumgebung, die Qualität der Schule und das Verhalten der Lehrkräfte – ob diese als fair wahrgenommen werden – haben großen Einfluss. Gleichzeitig betonen die Jugendlichen aber auch, dass Eigenmotivation und persönliches Engagement ebenfalls entscheidend sind. Dennoch werden die äußeren Faktoren insgesamt als wichtiger angesehen.

Ich habe den Eindruck, dass das Thema „Klassismus“ in den Medien zunehmend an Bedeutung gewinnt. Es ist interessant, dass auch die Jugendlichen diese Problematik in ihrem schulischen Umfeld wahrnehmen.

Man kann es vielleicht so zusammenfassen: Es hängt stark vom Elternhaus ab; und da kommen eben verschiedene Faktoren zusammen: Werde ich von meinen Eltern unterstützt? Wie ist die finanzielle Situation im Elternhaus? Wo und wie wohne ich? Und ein Migrationshintergrund ist eben auch ein zentraler Faktor.

Sehen die Jugendlichen auch Lösungen oder Strategien, wie sie mit Diskriminierung umgehen können?

Viele Jugendliche tun sich schwer, Diskriminierung als solche zu erkennen oder sie einzuordnen. Oft nehmen sie Diskriminierung nur bei anderen wahr und nicht bei sich selbst. Und zwei Sätze später erzählen sie dann von einem Vorfall, den wir eigentlich als diskriminierend definieren würden. Gleichzeitig haben einige Jugendliche Strategien entwickelt, etwa das Gespräch mit Eltern, Freund:innen oder anderen Vertrauenspersonen. Viele sind aber unsicher, ob sie sich an Lehrkräfte wenden können, da sie befürchten, nicht ernst genommen zu werden oder als Petze zu gelten.

Welche langfristigen Folgen sehen die Jugendlichen durch Diskriminierung?

Kurzfristig führt Diskriminierung bei Jugendlichen zu emotionalen Verletzungen und Ausgrenzung. Die Betroffenen fühlen sich dann schlecht, sie fühlen sich verletzt und sie fühlen sich ausgeschlossen. Langfristig sehen die Jugendlichen, dass diskriminierte Menschen unter erschwerten Bedingungen aufwachsen oder leben müssen. Sie sehen keinen sozialen Rückhalt und auch verringerte Chancen im Berufsleben.

Was ich sehr spannend finde: Einige Jugendliche erkennen sogar einen Zusammenhang zwischen Diskriminierung und globalen sozialen Konflikten. Sie sehen Diskriminierung als eine Wurzel für viele politische und gesellschaftliche Spannungen in der Welt.

 


Bei mir ist es jetzt nicht so in meinem Umfeld, dass irgendwie jemand aufgrund seiner Hautfarbe und so weiter anders behandelt wird. Aber auf den sozialen Medien bekomme ich so was oft mit, dass eine Person irgendwie anders behandelt wird wegen ihrer Hautfarbe und so weiter. Und ich finde so eine Ungerechtigkeit gar nicht gut.“
 

(weiblich, 15 Jahre, Migrationshintergrund, „Traditionell-Bürgerliche“)


 

Soziale Medien spielen im Alltag der Jugendlichen eine große Rolle. Haben sie im Zusammenhang mit Social Media auch Diskriminierung erlebt?

Ja, die Jugendlichen haben uns berichtet, dass sie Diskriminierung oder auch Rassismus auf Social Media wahrnehmen. Es gibt entsprechenden Content, aber vor allem sind es Kommentare unter Beiträgen, die das zeigen.

Erkennen die Jugendlichen Diskriminierung oder Ungleichheit auch in anderen medialen Formaten, etwa im Reality-TV?

Ja, soziale Ungleichheit, besonders in Bezug darauf, wenn jemand finanziell schlechtergestellt ist, fällt ihnen auf. Sie bemerken beispielsweise im Reality-TV, dass Menschen, denen es nicht gut geht, oft herablassend oder lächerlich dargestellt werden. Bei sogenannten Poverty-Porn-Formaten wie Armes Deutschland oder Familien im Brennpunkt sehen viele diese Darstellung sehr kritisch, da sie einen respektlosen Umgang mit den Betroffenen aus reinen Unterhaltungszwecken erkennen. Es gibt jedoch auch einige, die diese Formate als unterhaltsam empfinden und das auch offen zugeben.

Auf der anderen Seite wird auch beobachtet, wenn soziale Ungleichheit in umgekehrter Richtung dargestellt wird, etwa durch Influencer, die einen besonders wohlhabenden Lebensstil präsentieren. Dieser Kontrast bleibt den Jugendlichen ebenfalls nicht verborgen. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Aufmerksamkeit und Empathie für soziale Ungleichheit geschaffen werden können, wenn diese sachlich und respektvoll in den Medien dargestellt wird.

Jugendliche schätzen es besonders, wenn Heldengeschichten gezeigt werden – also wenn Menschen es geschafft haben, sich aus einer schwierigen Lage heraus zu verbessern. Diese Art von Geschichten hinterlässt positive Gefühle.

Sehen die Jugendlichen Fortschritte in der Art und Weise, wie mit Diskriminierung und sozialer Ungleichheit umgegangen wird? Sind sie optimistisch, dass sich etwas verändert?

Die Perspektiven der Jugendlichen sind da durchaus zweigeteilt. Auf der einen Seite sehen sie positive Entwicklungen: Themen wie Rassismus und Diskriminierung sind stärker im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert, Minderheiten sind sichtbarer und besser vertreten als früher. Das wird als Fortschritt empfunden. Auf der anderen Seite ist vielen bewusst, dass insbesondere Rassismus ein tief verwurzeltes Problem ist, das wahrscheinlich nie ganz verschwinden wird. Es gibt auch die Sorge, dass sich die Fronten in der Gesellschaft verhärten und nicht alle bereit sind, an einer diskriminierungsfreien Gesellschaft mitzuwirken.

Kommt bei den Jugendlichen das Gefühl der Machtlosigkeit auf, gerade wenn es um gesellschaftliche Probleme geht?

Ja, das ist oft der Fall, vor allem im Zusammenhang mit politischen Themen. Viele Jugendliche haben das Gefühl, dass ihre Anliegen nicht ernst genommen werden, insbesondere von Erwachsenen. Sie fühlen sich abgewertet und hören oft Dinge wie: „Du bist zu jung, du hast keine Erfahrung.“ Gleichzeitig glauben Jugendliche, dass man durch Engagement etwas bewirken kann. Einige haben sogar Positivbeispiele aus der Schule, wo sie sagen, dass sie etwas bewirken konnten – und das macht sie glücklich. Beteiligung macht glücklich, könnte man sagen.

Das hängt vermutlich mit dem Gefühl der Selbstwirksamkeit zusammen, oder?

Ja, genau. Es ist ein demokratischer Lernprozess: Wenn ich mich engagiere, kann ich etwas bewirken, auch wenn es nicht immer glattläuft und es Hindernisse gibt.

 


„Ich denke, in Deutschland gibt es auf jeden Fall mehr Leute, die offen für dieses Thema sind und sich damit auch auseinandersetzen würden. Und die niemanden aufgrund eben von Hautfarbe, Religion, sexueller Orientierung diskriminieren würden. Aber es gibt, und auch besonders in Sachsen, zu viele, für die das normal ist, dass es nicht natürlich ist, eine andere Religion zu haben oder eben anders zu lieben. Und die sind einfach zu laut und machen zu sehr auf sich aufmerksam.“
 

(männlich, 16 Jahre, „Neo-Ökologische“)
 


 

Welche Hindernisse gibt es für die Jugendlichen, wenn es um gesellschaftliche Beteiligung geht?

Da gibt es neben „den Erwachsenen“, wie vorhin beschrieben, noch weitere Hürden. Einige Jugendliche wissen nicht, wo oder wie sie sich beteiligen können. Andere sagen, sie haben keine Zeit; oder sie scheuen sich davor, sich zu exponieren und dadurch vielleicht unbeliebt zu machen. Das spielt alles eine Rolle.

Die Themen „Diskriminierung“ und „Rassismus“ scheinen für die Jugendlichen sehr relevant zu sein, trotzdem zeigen sie wenig ausgeprägtes politisches Engagement. Woran könnte das liegen?

Politische und gesellschaftliche Themen haben keinen allzu großen Stellenwert für Jugendliche. Beispielsweise haben die Jugendlichen in unseren Gesprächen über ihre Zukunft zunächst über ihre Sorgen im persönlichen Umfeld gesprochen, etwa Schule, Ausbildung oder Familie. Gesellschaftliche Themen kamen erst später ins Spiel. Wenn wir sie jedoch konkret auf politische oder gesellschaftliche Themen ansprechen, dann sind sie durchaus sprechfähig und interessiert. Diese Themen sind aber nicht immer sofort im Alltagsbewusstsein präsent.  

Was müsste geändert werden, damit Jugendliche sich stärker engagieren, insbesondere im Bereich der Diskriminierung?

Nicht nur beim Thema „Diskriminierung“, sondern allgemein müssen Jugendliche das Gefühl haben, ernst genommen zu werden und dass ihre Stimmen gehört werden. Konkrete Maßnahmen könnten sein, mehr Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen, damit die Jugendlichen das Gefühl haben: Hier ist mein Platz, hier darf ich etwas sagen. Politische und Mitbestimmungsprozesse sollten einfacher, verständlicher und einladender gestaltet werden. Sichtbare Erfolge sind ebenfalls wichtig, damit Jugendliche sehen, dass ihr Engagement tatsächlich etwas bewirken kann.

Welche Maßnahmen oder Initiativen wünschen sich die Jugendlichen, um Rassismus, Ungleichheit und Diskriminierung in ihrem Alltag entgegenzuwirken?

Die Jugendlichen haben deutlich gemacht, dass sie sich eine stärkere Sensibilisierung in Schulen wünschen. Sie betonen die Notwendigkeit, ein Bewusstsein und Empathie für alle Formen der Diskriminierung zu fördern. Es geht nicht nur um Rassismus, sondern um jegliche Art von Diskriminierung. Wichtig ist auch, dass Regeln und Konsequenzen für diskriminierendes Verhalten klar und konsequent durchgesetzt werden sollten. Das bedeutet, dass schlechtes Verhalten nicht ohne Konsequenzen bleiben sollte – es geht um Gerechtigkeit.

Tim Gensheimer ist Politikwissenschaftler, Senior Research & Consulting am SINUS-Institut und Co-Autor der SINUS-Jugendstudie 2024.

Eva Lütticke studierte Medienwissenschaften (M.A.) an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Zurzeit arbeitet sie als Redakteurin bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).