Blinded by the Light:

Funktionen von Rockmusik im aktuellen Kinofilm

Werner C. Barg

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Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) vertritt er die Professur „Audiovisuelle Medien“.

In letzter Zeit purzeln die Filme, die Rockmusiker oder Rockmusik im Fokus des Erzählens haben, nur so auf die Kinoleinwände. Um die Jahrtausendwende gab es schon einmal so eine Rockmusik-im-Kino-Welle. Nun ist sie also wieder da. Der Beitrag geht dem Trend nach.

Online seit 11.10.2019: https://mediendiskurs.online/beitrag/blinded-by-the-light/

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Rockmusik als Zeitkolorit

Einer, der sehr explizit und bewusst Rock- und Popmusiktitel zur Untermalung des Zeitkolorits in seinen filmischen Darstellungen eingesetzt hat, ist Regisseur Martin Scorsese. In seinem frühen Film Mean Streets – Hexenkessel (USA 1973) nutzte er 27 Musiktitel, um die Atmosphäre des Kleinkriminellenmilieus in „Little Italy“, seinem eigenen New Yorker Heimat-Kiez, zu unterstreichen und dramaturgisch zu akzentuieren; in Good Fellas (USA 1990), seinem drei Jahrzehnte umspannenden Mafiaepos, waren es schon insgesamt 42 Titel, die in der Ton-Bild-Montage des Films kurz angespielt wurden oder im On der dargestellten Szene liefen. Der offizielle Soundtrack bezeichnet zwölf Titel, die länger oder sogar vollständig im Film zu hören sind. Sie geben dem Zuschauer immer wieder die Orientierung, zu welcher Zeit die dargestellte Handlung, der Ein-, Auf- und letztlich Ausstieg des Mafiagangsters Henry Hill (Ray Liotta) gerade spielt.
 


Regisseur Ted Demme nahm in seiner Gangsterbiografie Blow (USA 2001) Scorseses Methode des Musikeinsatzes auf und nutzte im Soundtrack 32 Titel aus der Rock- und Popmusikgeschichte, um die authentische Lebensgeschichte des Drogendealers George Jung auf Grundlage des Buches How a Small-Town Boy Made $ 100 Million with the Medellín Cocaine Cartel and Lost It All von Bruce Porter zu erzählen.

Schon im Jahr zuvor wurde auch Cameron Crowes Rockmusikgeschichte Almost Famous (USA 2000) um den Musikkritiker Lester Bangs mit Philip-Seymour Hoffman und Kate Hudson in den Hauptrollen ein großer Kinoerfolg. Der Soundtrack verzeichnete 17 Titel.
 

Internationaler Musikrechtemarkt im Wandel

Viele Hollywood-Produktionen, vornehmlich Komödien und Actionfilme, nutzen nun seit der Jahrtausendwende sehr exzessiv Pop- und Rockmusiksongs. Die eigens für den Film komponierte Partitur (Score) wurde zeitweilig und wird bis heute immer wieder durch Soundtracks ersetzt, für die oft eigene Agenturen bzw. hierauf spezialisierte Music Supervisors zuständig sind. Dieser Trend gilt in gleicher, wenn nicht sogar in noch stärkerer Weise für den Einsatz von Musik in TV- bzw. Streamingserien, z. B. beim Abonnement-Fernsehsender HBO.

Ökonomischer Hintergrund dieser Entwicklung ist eine zunehmende Konzentration auf dem Markt der Musikrechte, den die drei Mayor Companies Universal, Sony und Warner durch den Aufkauf bekannter Labels wie die Londoner EMI seit der Jahrtausendwende unter sich aufgeteilt haben (vgl. Reuters 2011). Besonders Sony versucht mit hohem Kapitalaufwand den Musikrechtemarkt für sich zu erobern (vgl. Mix1.de 2016). Dennoch hält derzeit die Universal Music Group mit über 30 % den größten Marktanteil. Da ist es kaum ein Zufall, dass die Universal-Filmproduktion Radio, Rock, Revolution (GB/F/D 2009), Richard Curtis’ fiktionalisierte Nacherzählung der authentischen Geschichte des legendären Piratensenders „Radio Caroline“, mit 59 Titeln einen Rekord-Musikeinsatz von Rock- und Popmusik im Soundtrack präsentieren konnte. Curtis’ Musikfilm erzählt von den menschlichen Verwicklungen innerhalb der Crew des Piratensenders, der in den 1960er-Jahren von einem Schiff in der Nordsee Rock- und Popmusik nach Großbritannien sendete. In jener Zeit traute sich die BBC noch nicht, ihren Zuhörerinnen und Zuhörern Rockmusik von damals aufstrebenden Bands wie The Beatles, Rolling Stones oder The Hollies oder Songs von Lulu oder Leonard Cohen anzubieten, auch weil konservative Politiker Sturm liefen gegen diese neue „wilde Musik“.
 


Unvergessliche Augenblicke der Rockmusikgeschichte

Gegenüber dieser traditionellen und aufgrund gewandelter ökonomischer Rahmenbedingungen in der Filmproduktion möglich gewordenen Verwendung von Soundtracks im Film zeichnet sich die aktuelle Musikfilmwelle dadurch aus, dass einerseits die Musikgeschichte selbst und andererseits auch inhaltliche Aspekte der Musikrezeption stärker im Mittelpunkt der filmischen Narration stehen.

Für den ersten Bereich kann Radio, Rock, Revolution als eine Art Brückenfilm gesehen werden, der das heutige Interesse an Musikgeschichte im Film 2009 schon vorwegnahm und vorbereitete.

In den aktuellen Kinofilmen wie Bohemian Rhapsody (GB/USA 2018) und Rocketman (GB/USA/CDN 2019), aber auch schon in Andreas Dresens Gundermann (D 2018) oder demnächst in Hermine Huntgeburths Lindenberg! Mach Dein Ding! (D 2020) stehen Personifikationen der Musikgeschichte im Mittelpunkt. Ikonen der internationalen und deutschen Popkultur werden anhand ausgewählter Abschnitte ihrer Biografie als private und öffentliche Persönlichkeiten in den Fokus des Erzählens gerückt.
 

Bohemian Rhapsody: Live Aid-Auftritt von Queen als Gänsehaut-Moment

In Bohemian Rhapsody wird die Geschichte von Farrokh Bulsara erzählt. Der Sohn einer Einwandererfamilie von der ostafrikanischen Insel Sansibar steigt als Freddy Mercury mit der Gruppe Queen zu einem weltberühmten Rocksänger auf. Neben dem biografischen Stationendrama, das sich episodisch auch an der Komposition markanter Queen-Hits wie We Will Rock You oder eben Bohemian Rhapsody orientiert, stehen die persönlichen Beziehungen der Musiker, besonders die zunehmende Entfremdung zwischen den Bandmitgliedern und Mercury, der mit Partyexzessen und einem klaren Bekenntnis zu seiner Homosexualität Aufmerksamkeit erzeugt und schließlich auf eine Solokarriere schielt, im Mittelpunkt der Darstellung.

Unvergesslicher filmischer Höhepunkt wird der 20-minütige Liveauftritt der Band während des legendären Live Aid-Konzerts 1985 im Londoner Wembley-Stadion. Vergleicht man den TV-Mitschnitt der BBC mit der Nachinszenierung in Bryan Singer/Dexter Fletchers1 Film so wird schnell augenfällig, dass Mercury sich im authentischen Liveauftritt sehr viel deutlicher in provokanten Gesten und Anspielungen für die sexuelle Freiheit (der Homosexuellen) einsetzte, als dies seine Filmfigur in der Verkörperung von Rami Malek tun darf. Mercurys Umgang mit dem Mikrofon und besonders mit der daran hängenden Mikrofonstange (ein Markenzeichen des Sängers) wussten die 100.000 im Wembley-Stadion im Queen-Originalauftritt sehr wohl als deutliche sexuelle Anspielung zu erkennen und johlen entsprechend.

In Bohemian Rhapsody wird zum Rhythmus der Musik von Mercurys vermeintlich „obszönen“ Gesten immer weggeschnitten auf die Gesichter und Aktionen der Bandmitglieder. Diese Montagen sind durchaus dramaturgisch begründet, denn der Live Aid-Auftritt zeigt in der Filmfiktion, wie die Band nach dem Zwist mit Mercury nun wieder in der gemeinsamen Aktion zusammenwächst: Alle Beteiligten haben neuerlich Spaß am Zusammenspiel und genießen die überwältigende Reaktion des Publikums im Stadion. Zugleich „entschärft“ der Schnitt aber auch Mercurys Auftritt. Dies wird besonders in der Szene deutlich, in der Mercury sich im Original mit dem Rücken zum Publikum stellt, vorbeugt und den Zuschauerinnen und Zuschauern seinen Hintern hinstreckt. Eine ziemlich klare sexuelle Geste, die im Film dadurch eliminiert wird, dass die Regie in der Szene des niedergebeugten Sängers auf eine Großaufnahme des Gesichts schneidet, das zwischen den gespreizten Beinen Richtung Publikum schaut und lächelnd die Ovationen desselben goutiert.
 


Klare dramaturgische Funktionen erfüllen auch Tonmischung und Sounddesign im Kinofilm. Bedingt durch die damaligen Techniken der Aufnahme und der Mischung, ist die Tonaufnahme des BBC-Live-Mitschnitts auf die Stimme des Sängers im Vordergrund und auf die Band im Tonhintergrund konzentriert. Dadurch rückt der Sound des Publikums nur in wenigen Momenten der Band- bzw. Gesangspausen in den Tonvordergrund. Im digital überarbeiteten und neu akzentuierten Ton des Kinofilms wird dagegen auf die Reaktionen des Publikums ein sehr viel stärkeres Gewicht gelegt. Zwischenschnitte auf Einzelpersonen oder kleine Gruppen begeistert johlender Fans unterstreichen diese Akzentverschiebung bei der Darstellung des Auftritts bei Live Aid. Durch die modernen Toneffekte wird für den Zuschauer fast physisch spürbar, welch ein berauschendes Gefühl es für einen Rockstar sein muss, die Resonanz von 100.000 Zuschauenden zu erfahren. Damit wird der Schlussauftritt der Band, in dem die Schauspieler zur Originalmusik im Play-back singen, zum emotionalen Höhepunkt des Films. Er zeigt die Wiedervereinigung von Freddy Mercury, dem Leadgitarristen Brian May und den anderen Queen-Mitgliedern unter den Rhythmen der eigenen Musik. Er soll aber auch zeigen, wie stark das Publikum das Revival der Gruppe annahm und Queen wiederum den neuerlichen Erfolg ihrer Wiederkehr genoss, was dann leider durch Mercurys frühen AIDS-Tod sechs Jahre später jäh gestoppt wurde.
 

Rocketman: Bildgewaltige Musiker-Biografie

Dexter Fletcher, der nach dem Weggang von Bryan Singer schon bei dem Film Bohemian Rhapsody die Regie übernommen hatte, ohne allerdings später in den Credits Erwähnung zu finden, schuf wenig später mit seiner Elton-John-Biografie Rocketman ein zweites großes Biopic über einen Megastar des Brit-Pop. In enger Abstimmung mit Elton John schuf Fletcher eine Musiker-Biografie, die die Schattenseite des Starruhms, die Alkohol- und Drogensucht von Elton John, in der grandiosen Verkörperung des britischen Newcomer-Stars Taron Egerton expliziter und schonungsloser zeigt und das Privatleben des Popstars weniger „weichgespült“ darstellt, als dies in Bohemian Rhapsody geschieht. Der Film wurde von der FSK dann auch für Zuschauer ab 12 Jahren empfohlen, während Bohemian Rhapsody noch eine FSK-6-Freigabe erhalten hatte.

Zudem zeichnet sich Rocketman durch eine intelligente Erzählkonstruktion aus, die nicht linear und chronologisch, sondern in Rückblenden die Geschichte von Reginald Kenneth Dwight aufrollt. Dwight ist schon in jungen Jahren ein virtuoser Pianist, der sich später Elton John nennt und unter diesem Namen seine Megarockkarriere startet. Auch nutzt Regisseur Fletcher surreale Szenen, um wichtige Momente im Leben des Musikers zu akzentuieren oder auch auf seine Probleme, etwa auf die Einsamkeit des Rockstars jenseits der jubelnden Massen bei seinen Auftritten, hinzuweisen. So verbindet Fletcher z. B. die Szene, in der sich John, von Alkohol und Drogen halb betäubt, während einer Party im eigenen Haus in selbstmörderischer Absicht in den Pool stürzt mit einer Vision der Hauptfigur, die sich selbst am Grund des Pools als Junge am Klavier sieht. Durch solche Szenen, die mit entsprechend markanter Musik unterlegt sind, steht Rocketman in der Tradition britischer Musikfilmklassiker wie Ken Russells Verfilmung der Rockoper Tommy (GB 1975) von The Who, in der Elton John zudem einen markanten Auftritt mit dem Song Pinball Wizard hat.
 


Paramount Pictures vertreibt Rocketman weltweit im Kino. Die Produktions- und Verleihfirma gehört zu Universal International Pictures und ist damit auch wiederum eng mit der Universal Music Group verbunden, die bei UIP-Filmproduktionen ihren Musikrechtepool zur Geltung bringen kann.
 

Yesterday: eine faszinierende Idee – leider verschenkt

Direkt von Universal wird Yesterday (Regie: Danny Boyle, GB 2019) vertrieben. Der Regisseur und sein Drehbuchautor Richard Curtis, Regisseur von Radio, Rock, Revolution, gehen in ihrem Film von einer fantastischen Grundidee aus: Was wäre die Welt ohne The Beatles?

Nach einem mysteriösen weltweiten Stromausfall haben (fast) alle Menschen die legendären Hits der Kultband aus Liverpool vergessen. Nur der bislang erfolglose Sänger und Liedtexter Jack Malik (Himesh Patel) hat exakt zum Zeitpunkt des Strom-Blackouts einen Fahrradunfall und stellt danach fest, dass berühmte Beatles-Stücke wie Yesterday für seinen Freundeskreis völlig neu sind. Nicht ohne schlechtes Gewissen und die Befürchtung, irgendwann doch als Liederdieb entlarvt zu werden, beginnt Jack sein Wissen in klingende Münze umzusetzen.

War eben noch Jugendfreundin Ellie (Lily James) seine Agentin, wechselt er jetzt zur karriereorientierten Debra (Kate McKinnon). Sie stellt ihn vor die Wahl, im „Haifischbecken“ der Musikbranche berühmt und reich zu werden oder als Unbekannter im normalen Alltagsleben ungesehen zu bleiben. Er entscheidet sich für die Karriere und damit auch dagegen, Ellie, die ihn schon lange still liebt, endlich auch seine Liebe zu gestehen. Jack wird mit den „neu entdeckten“ Beatles-Songs zum Superstar. Er spielt mit Ed Sheeran (himself), der augenzwinkernd erkennen muss, dass seine Songs mit denen von Jack alias The Beatles nicht ganz mithalten können.

Durch seine Berühmtheit werden aber auch weltweit einige wenige Menschen auf ihn und „seine“ Songs aufmerksam, die wie Jack auch noch wissen, wer The Beatles waren. Jack gerät in Bedrängnis. Der Erfolgsdruck wächst ihm über den Kopf. Am Ende kehrt er zu Ellie zurück, gesteht ihr seine Liebe, entscheidet sich für ein beschauliches Leben als Musiklehrer in Ellies Schule in der britischen Kleinstadt und gibt seine Musikkarriere auf.
 


Die Botschaft des Films, die Finger von der „bösen“ Unterhaltungsbranche zu lassen, daheim zu bleiben und eine ausgeglichene „Work-Life-Balance“ zu leben, mag stark der „romantischen Ader“ des Autors von Notting Hill (GB/USA 1999), Curtis, entsprungen sein, für Danny Boyle, der einst mit anarchischen (Genre‑)Filmen wie Trainspotting (GB 1996) oder 48 Days Later (GB 2002) zu den „jungen Wilden“ im britischen Kino gezählt wurde, bedeutet diese Auflösung des romantischen Konflikts in Yesterday eine erstaunliche Kehrtwende, allerdings eine, die dem Publikum offenbar gefällt: Mit knapp 800.000 Zuschauenden lässt Yesterday Boyles letzten Film, die Fortsetzung von Trainspotting (T2 Trainspotting, 2017), mit knapp 170.000 Zuschauenden an den deutschen Kinokassen weit hinter sich.

Dennoch bleibt bedauerlich, dass fast die ganze zweite Hälfte des Films von dem Konflikt der On/Off-Beziehung zwischen Jack und Ellie dominiert und damit die erzählerische Chance verschenkt wird, die Idee, die popkulturelle Bedeutung so berühmter „Marken“ wie The Beatles oder der Harry-Potter-Saga, die beim Stromausfall für die Menschheit auch in Vergessenheit geraten ist, tiefgründiger, auch satirisch bissiger auszuloten. Der Seitenhieb auf die Beatles-Epigonen Oasis ist ein schöner Gag, aber Yesterday hätte eine gelungene Gesellschaftskomödie zur Bedeutung von (Pop‑)Kultur in unserer Gesellschaft im Gewand eines rasanten Musikfilms werden können. So entlässt der Film sein Publikum mit einem schalen Geschmack im Mund aus dem Kino, ein Geschmack übrigens, den auch Kritiker wie Konrad Lehmann zunehmend z. B. bei der aktuellen (deutschen) Popmusik selbst verspüren: „Die Popmusik von heute ist kein Rock. Sie ist auch kein Punk. Sie singt nicht von Protest und Anklage. Im Gegenteil. Deutsche Popmusik ist tönendes Biedermeier; sie singt von häuslicher Harmonie und Bescheidenheit: ‚Lieber auf Wolke vier als wieder ganz allein.‘ Träume müssen realistisch sein. ‚Und wenn sie tanzt, ist sie woanders‘ – sonst aber immer in derselben alternativlosen Scheiße, is’ halt so“ (Lehmenn 2019). Dieses Lebensgefühl vermittelt auch Danny Boyles Film Yesterday und mag damit durchaus ein Lebensgefühl der Zielgruppe treffen.
 

Rockmusik als Lebenshilfe und Befreiung

Ihrem eigenen Werk treu geblieben ist dagegen Gurinder Chadha. Mit Kick It Like Beckham (GB/D/USA 2002) schuf die englische Regisseurin indischer Abstammung einen packenden Coming-of-Age-Film, in dem der Fußballsport für ihre Filmheldinnen zu einer wichtigen Lebenshilfe wird. Nun zeigt sie in Blinded by the Light (GB/USA 2019), dass Rockmusik auch für manchen Jugendlichen Orientierung auf dem Weg zum Erwachsenwerden sein kann. Javed (Viveik Kalra), Sohn pakistanischer Einwanderer, wächst in der englischen Autostadt Luton auf. Die dort ansässigen Ford-Werke sind 1987, dem Jahr, in dem die Handlung des Films einsetzt, in der Krise. Viele Arbeiter, darunter auch Javeds Vater (Kulvinder Ghir) verlieren ihre Arbeit. Sozial degradiert, pocht der Vater in der Familie umso mehr auf sein traditionelles Recht als Patriarch und Familienoberhaupt.
 


Für seinen Sohn stellt er sich eine Karriere als Jurist oder Wirtschaftsmanager vor, doch der sensible Javed schreibt lieber Gedichte. In ihnen setzt er sich in poetischer Weise z. B. mit den Anfeindungen als „Paki“ in einer feindlichen, von Skins beherrschten Umgebung auseinander. Schreibend entflieht er aber auch der Enge des konservativen Elternhauses und besonders dem Druck seines Vaters, der umso aggressiver auf die Wünsche des Jungen reagiert, je mehr er durch seine eigene berufliche Misere den eigenen Lebenstraum, in der Fremde sein Glück machen zu wollen, entschwinden sieht. Als ein Klassenkamerad Javed die Musik von Bruce Springsteen vorspielt, findet der Teenager in den Songs des „Boss“ genau den „Spirit“, der ihm hilft, seinen eigenen Weg zu finden, einen Weg, den schließlich auch Javeds Vater akzeptieren wird.

Javeds „Erweckungserlebnis“ durch Springsteens Rocksongs wird in Gurinder Chadras Film in einer wunderbaren Szene dargestellt. Während Javed mit seinem Walkman im strömenden Regen durch sein Viertel läuft, werden Passagen der Songtexte, die Javed hört, auf Mauern und Häuserwände projiziert. So wie einst der junge Springsteen das Schreiben von Rockmusik als Chance für sich erkannte, der Enge seines katholischen Elternhauses in New Jersey zu entfliehen, so erkennt auch Javed in dieser Szene des Films, wie die Rockmusik ihm helfen kann, sich selbständig, unabhängig und souverän zu machen von den Zwängen, die ihn umgeben.

Auch in anderen aktuellen Musikfilmen spielt das Freiheitsmotiv, das mit Rockmusik einhergehen kann, eine wichtige Rolle: In A Star Is Born (US 2018) empfindet Hauptfigur Jackson Maine (Bradley Cooper) seine eigene Musik – R & B mit Rockelementen – als Befreiung von den immer wiederkehrenden depressiven Schüben.

Und in Andreas Dresens Film Gundermann (D 2018) verschafft das Komponieren und Singen poetischer Texte der Titelfigur Gerhard Gundermann (Alexander Scheer), Liedermacher, Rockmusiker und Baggerfahrer im Braunkohletagebau, einen Freiraum für seine Kritik am „real existierenden Sozialismus“ in der DDR. Gundermanns kritische Haltung speist sich nicht aus der Ablehnung, sondern aus einem tiefen Glauben an das sozialistische Gesellschaftsexperiment. Durch seine kritischen Eingaben als Arbeiter an die Werksleitung bemüht er sich um Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, scheitert aber immer wieder – so zeigt es der Film – an den dogmatisch-verbohrten Haltungen der Parteifunktionäre. In vielen seiner Lieder kritisiert er in verklausulierter Form eine Gesellschaft, die durch die Parteidiktatur der SED und die kleinen und großen Fehlentscheidungen ihrer Funktionäre in ihrer Vision einer neuen, gerechteren und solidarischen Welt immer stärker zum Scheitern verurteilt sein könnte. Zugleich verstrickt er sich in das SED-Herrschaftssystem und lässt sich als Stasispitzel anwerben.
 


Fazit

Während in früheren Filmepochen der Musikeinsatz mehrheitlich illustrativ war, gehen mit dem aktuellen Trend zum Musikfilm im Kino grundsätzliche Veränderungen einher: Einerseits rückt die moderne Geschichte der Rock- und Popmusik – zumeist dargeboten als Biopic bekannter Protagonisten der Rockszene – selbst in den Mittelpunkt filmischer Erzählung und zum anderen werden die Wirkungen und Bedeutungen von Rock- und Popmusik in der Alltagskultur der Menschen in filmischen Erzählungen ausdifferenziert dargestellt.
 

Anmerkung:

1) Dexter Fletcher übernahm kurzfristig in der Endphase des Films die Regie, nachdem gegenüber Regisseur Bryan Singer Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs bekannt geworden waren und er daraufhin die Produktion verlassen musste (vgl. Musikexpress 2018).

Literatur:

Lehmann, Konrad: Verrauchte Wut, verlöschtes Leben. Die Popmusik hat resigniert. Eine Brandrede. In: www.heise.de, 29.09.2019 (letzter Zugriff: 07.10.2019)

Mix1.de: Michael Jackson : Sony kauft Musikrechte für 750 Millionen. In: www.mix1.de, 15.03.2016 (letzter Zugriff: 07.10.2019)

Musikexpress: „Bohemian Rhapsody“ und „Rocketman“: Was das Regie-Chaos mit dem Film über Elton John zu tun hat. In: www.musikexpress.de, 05.11.2018 (letzter Zugriff: 07.10.2019)

Reuters: Musiklabel EMI wird zerschlagen – Sony kauft Musikrechte. In: https://de.reuters.com, 12.11.2011 (letzter Zugriff: 07.10.2019)