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Blut in der Donnerkuppel

Jenni Zylka

„Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, heißt es beim englischen Philosophen Thomas Hobbes. Weil das so sei, schrieb der Mann im Jahr 1642, müssten selbst „die Guten bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und die List, d. h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe nehmen.“ (Hobbes 1918) Mit anderen Worten: Wenn es ernst wird, wendet der Mensch Gewalt an. Man schlägt zu.

Online seit 17.10.2025: Link

Sport wird von vielen Menschen zwar ernst genommen. Aber allein „des Schutzes wegen“ prügelt sich niemand: Kampfsportler:innen gehen freiwillig auf die Matte, in den Ring oder – wie es bei Mixed Martial Arts (MMA) heißt – ins Oktagon, ein „Achteck“. Letztere kämpferische Sportart findet vor Publikum in einem achteckigen Käfig statt, dessen Wände aus Maschendrahtzaun bestehen. (Die mit Metall vergitterte oder umzäunte Bühne machte auch als „Donnerkuppel“ beziehungsweise „Thunderdome“ in George Millers drittem Mad-Max-Film ziemlich was her.)

Die Idee der MMA soll aus der Antike stammen – weil man bereits bei den Olympischen Spielen im 7. Jahrhundert vor der Zeit wissen wollte, ob Ringer oder Boxer die besseren, erfolgreicheren Kämpfer seien, führte man den „Gesamtkampf“, die „Pankration“ ein. Erlaubt war dabei alles an Schlägen, Tritten und Stößen, was dem anderen schadet und wehtut, verboten waren lediglich das Eindrücken der Augen oder das Beißen des Gegners. Verwundungen, nachhaltige Knochenbrüche oder der Tod des Unterlegenen wurden billigend in Kauf genommen. 

Das mit dem Tod ist heute anders, und es werden Techniken aus weit mehr Sportarten (Judo, Jiu-Jitsu, Kickboxen) genutzt. Doch obwohl die offiziellen Kampfregeln der MMA-Organisation Oktagon MMA mittlerweile 27 strafbare „Fouls“ auflisten, darunter das regelwidrige „Hair Pulling“, das „Rammen des Gegners mit dem Kopf auf den Boden“ oder das „absichtliche Platzieren eines Fingers in einer Körperöffnung oder einer Schnitt- oder Risswunde des Gegners“ bleibt für die überwiegend männlichen Sportler eine Menge erlaubter Gewalt übrig (vgl. Oktagon 2018). 
 

OKTAGON 78, 18.10., ab 17:25 Uhr auf RTL+ und ab 22:45 Uhr bei RTL


„MMA ist pures Adrenalin – kraftvoll, direkt, spektakulär“, sagt Inga Leschek, Chief Content Officer RTL Deutschland und freut sich angesichts der geplanten Ausstrahlung des Oktagon 78, eines Live-MMA-Events am 18. Oktober 2025: „Ab jetzt gibt’s bei RTL+ regelmäßig ein ‚Pa aufs Maul‘!“ (DWDL 2024) 

Doch ab nächsten Sommer wird es nicht nur im deutschen Privatfernsehen ein paar aufs Maul geben. Auch im Garten des Weißen Hauses schlägt man sich kraftvoll und direkt zusammen: Der größte MMA-Veranstalter, die US-amerikanische Organisation UFC (Ultimate Fighting Championship) mit Hauptsitz in Las Vegas feiert das 250-jährige Jubiläum des Landes im Juni 2026 mit einer riesigen Prügelei. Zusätzlich ist das blutige (ja, Blut ist in der Donnerkuppel erlaubt) Spektakel, bei dem anstatt der angekündigten 25 000 anscheinend doch nur 5 000 Gäste teilnehmen, aber per Public Viewing bis zu 85 000 Zuschauer:innen erreicht werden könnten, ein Geschenk eines prominenten UFC-Fans an sich selbst: Der US-Präsident, langjähriger Freund sowohl des MMA als auch des UFC-CEOs Dana White, wird am 14. Juni 2026 80 Jahre alt. (Einen australischen MMA-Kämpfer mit dem Kosenamen „The Assasssin“ läuft er übrigens nicht Gefahr einzuladen – der „Attentäter“ tritt aus Altersgründen nicht mehr an.) 
 


MMA ist pures Adrenalin – kraftvoll, direkt, spektakulär.“



Gegen die Sportprügeleien unter den Augen einer deutschen oder US-amerikanischen Öffentlichkeit lässt sich also nicht viel einwenden: MMA ist ein Kampfsport, genau wie Boxen oder Karate. Laut seiner Fans hatte er (viel zu) lange mit Vorurteilen zu tun; dass man ihn oft als „zu brutal“ abstempele, erklärt der MMA-Fighter Andreas Kraniotakes in einem Interview mit der „Men’s Health“ aus dem Jahr 2015 mit dem knalligeren Bild: „Eine Platzwunde am Schädel blutet vielleicht stark, ist aber nach einer Woche wieder verheilt. Manche Fußballer-Verletzung, etwa ein Kreuzbandriss, ist erst nach 6 Monaten auskuriert. Da sagt jedoch keiner, der Sport sei zu brutal.“ (Reiher 2015) Zudem habe die MMA kaum eine Lobby, heißt es weiter. Und dass das aktive Betreiben von (Kampf‑)Sport die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fördern könne, würde wohl niemand bestreiten: Neben den positiven körperlichen Aspekten könne „Kampfsport das Selbstbewusstsein der Kinder schulen und ihnen helfen, die eigenen Grenzen kennenzulernen“, so Kraniotakes; „Disziplin“ lerne man ebenfalls (ebd.). 

Dennoch: Ist das Schlagen als Sport wirklich komplett harmlos? Denn was man bei diesen Kämpfen tatsächlich sieht, teilweise ausschnitthaft vergrößert, mit Sound unterlegt und von Moderator:innen beschrieben, wirkt unzweifelhaft brutal: Als bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) Ende der 2000er-Jahre Anträge zur Ausstrahlung von UFC-Kämpfen bei Sport1 im Spätabendprogramm eingingen, wurden sie teilweise nicht wie beantragt stattgegeben. Laut FSF-Gutachten gebe es „Attacken“, in einem Zeitraum von „mindestens 3 Minuten“, in dem ein Kämpfer „auf den Kopf des am Boden liegenden (…)“ einschlage. Später stürze sich einer „nach einem Schläfenkick auf den liegenden Gegner“ und malträtiere diesen „mit Schlägen auf dem Kopf (…), bevor der Kampfrichter den Kampf abbreche“ (FSF-Gutachten vom 17.12.2008). Mit dem Argument, es finde ein „Gewaltexzess“ statt, votierten einige Ausschussmitglieder damals ganz gegen die Ausstrahlung. Viele der geprüften Sendungen wurden jedoch im Nachtprogramm ab 23 Uhr für ein Publikum ab 18 Jahren freigegeben. Dass Oktagon selbst bei den Veranstaltungen nur Live-Zuschauer:innen ab 18 zulässt und auch auf der RTL+-Website „ab 18“ verlangt wird, zeigt, dass diese Einschätzung richtig war.
 


Die eigentliche Frage müsste jedoch lauten: Wieso will man so etwas überhaupt sehen?“



Also was soll passieren, wenn Erwachsene Männern dabei zusehen, wie sie sportlich drei Minuten lang auf den Kopf eines am Boden Liegenden einschlagen? Zunächst sind unmittelbare Bilder stärker als ein abstraktes Wissen über Regelwerk und Training: Auch wenn das Gehirn theoretisch „Sport“ weiß, meldet es „Gewalt“. 

Dazu kommt, dass die in den Medien oft beschriebene, auch physische Verrohung der Gesellschaft tatsächlich nachweisbar ist: Nicht nur zeigen Kriminalstatistiken seit Jahren eine Zunahme von körperlichen Gewalttaten. Belegt ist auch, dass der steigende Hass im Netz sich in der realen Welt auswirkt – etwa, wenn die Gewalt aufgrund digitaler Radikalisierungen oder nach Hasspostings stattfindet. 

Die eigentliche Frage müsste jedoch lauten: Wieso will man so etwas überhaupt sehen? Der Archäologe Harald Meller, der Historiker Kai Michel und der Anthropologe Carel van Schaik haben zum Thema soeben ein Buch veröffentlicht. In Die Evolution der Gewalt: Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen untersuchen sie den Anstieg von Gewalt, „starken Führern“ und Kriegslust in einer unsicheren, von gewalthaltigen Konflikten geprägten Welt. „Gewalt gegen Menschen ist eine Bankrotterklärung aller Menschlichkeit“, heißt es dort (Meller et al. 2025, S. 10). 

Neben der Erforschung der historischen Gewalt- und Empathieentwicklung, die – wie auch andere Anthropolog:innen bestätigen – eng mit dem Sesshaftwerden des Menschen zusammenhing, weil dadurch Land, Raum und (vermeintliche) Bedrohung durch „fremde“ Eindringlinge eine andere Rolle spielten, lautet ihre These, dass der Mensch von Grund auf ein friedliches Wesen sei. Die Kampflust sei durch eine Reihe von fehlgeleiteten Verhaltensmustern, Fehlinterpretationen und falschen Traditionen entstanden. 

Dass Menschen „zutiefst kriegerische Kreaturen“ seien, nennen sie ein „misanthropisches Phantasma (…), das uns allen schadet“ (ebd., S.15). Zu Freuds Ausführungen über Triebe, die zu schlimmen Dingen führen, schreiben sie: „Solche Trieb- und Instinktlehren werden das ganze 20. Jahrhundert virulent bleiben und spuken teils noch heute herum, obwohl sie wissenschaftlich unhaltbar geworden sind“ (ebd., S.29). Etwa die unter anderem auf Gendertheorien beruhende „Triebstau“-Theorie des biologistischen Rassenkundlers und Zoologen Konrad Lorenz, wegen der Menschen zuweilen noch heute glauben, ein zackiger Faustkampf könne ihnen guttun – schließlich würden sich vor allem im Männerkörper Aggressionen aufstauen, die ebenso regelmäßig entladen werden müssten wie die männlichen Hoden, quasi um Schlimmeres zu verhindern.

Auch beim eingangs zitierten Thomas Hobbes verbindet das Buch dessen Zeit mit persönlichen Erfahrungen: „Zu seinen Lebzeiten tobten der Dreißigjährige Krieg und der Englische Bürgerkrieg, der in der Hinrichtung des Königs Karl I. gipfelte – und Hobbes zur Flucht ins französische Exil zwang. Er war wiederholt Zeuge, wie ein Kollaps der Staatsgewalt in ein fürchterliches Morden mündete. Der Philosoph entwarf also die zu seiner kriegerischen Gegenwart passende kriegerische Vorgeschichte.“ (ebd.)

Und dennoch ist Gewalt anscheinend für viele Menschen richtiggehend attraktiv. Weil sie nahe bei dem Wort „Kraft“ (wie im obigen „kraftvoll“) angesiedelt ist? Weil sie – im Gegensatz zu MMA, Karate oder Boxen – sehr simplen Regeln folgt? Oder weil man mit ihr so oft zum Ziel kommt? 
 

ENGIZEK VS HUMBURGER | FREE FIGHT | OKTAGON 77 (OKTAGON Deutschland, 13.10.2025)



Vielleicht sollte man bedenken, dass die Hobbes zugeschriebene Aussage über den Menschen als des Menschen Wolf ursprünglich aus einer Komödie des römischen Dichters Titus Plautus stammt. Sie ist eigentlich viel länger und etwas anders formuliert: „Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist“ (Projekt Gutenberg-DE 2009). In der Szene im zweiten Akt, aus der sie stammt, will ein Kaufmann einem Sklaven sein Geld nicht anvertrauen, weil er ihn nicht kennt. Weder eine sadistische Lust am Schmerz des anderen noch sportlicher Ehrgeiz, noch eine Selbstaufwertung durch Gewaltanwendung sind also das Motiv. Sondern schlicht die Angst vor dem Unbekannten, dem Fremden, der nur so lange „bedrohlich“ wirkt, bis man weiß, wer er ist. Oder, passend zum zeitlichen Ursprung des MMA in den Worten des Methusalix aus Asterix’ Das Geschenk Cäsars: „Ich hab nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier!“ Kaum verwunderlich, dass bei Asterix regelmäßige Gewaltorgien folgen. Dabei werden aber vor allem Römer verkloppt. Und die waren bekanntlich selbst nie zimperlich.
 

Quellen:

DWDL: Drei-Jahres-Deal. Deal mit Oktagon: RTL setzt langfristig auf MMA. In: DWDL.de, 20.12.2024. Abrufbar unter: www.dwdl.de 

Hobbes, T.: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 62–68. Abrufbar unter: www.zeno.org 

Meller, H./Michel, K./Schaik, C. van: Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte. München 2024

Oktagon: CSMMA Profi-Regeln (von der Referee-Kommission am 30. Juli 2018 vorgeschlagen und beschlossen). In: Oktagon. Abrufbar unter: https://oktagonmma.com

Projekt Gutenberg-DE: Maccus Titus Plautus. Asinaria oder Eseleien. Übersetzt von Artur Brückmann. In: Projekt Gutenberg-DE, 23.06.2009. Abrufbar unter: www.projekt-gutenberg.org

Reiher, N.: Pro & Kontra. MMA in der Kritik. In: Men’s Health, 15.07.2015. Abrufbar unter: www.menshealth.de