„Bring doch mal den Müll rein“

Kontexte von Trash-TV

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Üblicherweise versuchen wir ja, ihn zu vermeiden oder wenigstens fachgerecht zu entsorgen. Und es mangelt ebenfalls nicht an Klagen über Medienmüll, Müllmedien und die Vermüllung der Kultur ganz allgemein. Die Vielzahl der Klagen deutet aber auch an, dass hier bestimmte Logiken am Werk sind und Müll seinen ganz eigenen Reiz besitzen kann.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 2/2021 (Ausgabe 96), S. 22-25

Vollständiger Beitrag als:

 

Manche Medienthemen haben offenbar mehr als ein Leben: Etwas geschieht, etwas im Wortsinn Aufsehenerregendes, das Thema wird ausführlich be- und verhandelt, bis es ein Ergebnis gibt oder das Thema schlicht keine Bedeutung mehr hat. Es ist scheinbar abgearbeitet, aber dann taucht es erneut auf, allenfalls in einer leichten Variation. Ein solches Thema ist das traditionell schlecht beleumundete Konglomerat von Fernsehsendungen, die gemeinhin als Trash-TV bezeichnet werden. Trotz Coronapandemie schaffte es 2020 die aktuelle Staffel der RTL-Reality-Produktion Das Sommerhaus der Stars, ein Wettkampf mehr oder weniger prominenter Paare, unter die Medienthemen des Jahres, weil die Sendung mit einer Innovation aufwartete, die niemand erwartet hatte: Hier konnte so etwas wie die Trash-Version von Trash besichtigt werden.
 

Trailer Sommerhaus der Stars 2020



Von Müllmedien und Medienmüll

Tatsächlich ist das Thema „Trash“ nicht nur ein Wiedergänger in der Fernsehgeschichte, es ist sogar ein Dauerthema der Mediengeschichte insgesamt. Mehr als einmal begann ein neues Medium seine Karriere in der Schmuddelecke. Der Film war beispielsweise zunächst nur eine trashige Jahrmarktsattraktion, die erst später in billigen Ladenkinos eine feste Heimstatt fand. Die großen Kinopaläste, die zumindest architektonisch mit den wahren Tempeln der Kultur, den großen Theatern, konkurrierten, folgten mit einigen weiteren Jahren Abstand. Einen wesentlichen Beitrag zur Anerkennung des Kinofilms als Kulturgut leistete dann Jahrzehnte später das Fernsehen, das neue Schmuddelkind im Medienbetrieb.

Eine für das Programmsegment „Trash-TV“ im heutigen Sinn wichtige Variation dieses allgemeinen Phänomens wurde in der Bundesrepublik Deutschland 1984 mit der Einbeziehung privatrechtlicher Fernsehsender in die ersten sogenannten Kabelpilotprojekte eingeleitet. Mit zunehmender technischer Reichweite von RTLplus, SAT.1 und anderen Sendern gab es nun ein ernst zu nehmendes neues Schmuddelkind im gleichen Medium. Und mehr als das: Während bis zu diesem Zeitpunkt das Verhältnis von ARD und ZDF eher von Ergänzung als von echter Konkurrenz geprägt war, wurde von nun an mit härteren Bandagen gekämpft – sowohl zwischen öffentlich-rechtlichen und Privatsendern als auch zwischen den Privatsendern verschiedener Eigentümergruppen.

Privatsender orientierten sich dabei natürlich nicht zuletzt an Konzepten, die sich auf dem global wichtigsten kommerziell ausgerichteten Fernsehmarkt der Welt bewährt hatten, den USA. Dort hatte sich in den 1980er-Jahren eine bemerkenswerte Veränderung im Bereich der nachmittäglichen Talkshows ereignet: Nachdem zunächst nur die Themen aus Gründen der Quotensteigerung immer skandalträchtiger geworden waren, wurde nun ein ganz anderes Spektakel aufgeführt. In bestimmten Shows ging es immer weniger um Gespräche als um den Skandal auf der Bühne, um Beschimpfungen, Gebrüll, um Handgreiflichkeiten bis hin zur Schlägerei. So etwa 1988 in einer Folge der Talkshow Geraldo, in deren Verlauf sogar die Nase des Moderators Geraldo Rivera gebrochen wurde. Der Vorfall führte zur Etikettierung der Sendung als Trash-TV, einem Label, das sich dank einer ganzen Reihe vergleichbarer Shows schnell etablierte. Ein weiterer wichtiger Pionier war The Morton Downey Jr. Show, die extrem konservative politische Inhalte ins Trash-TV einführte und außerdem den Gastgeber als unsympathische Figur – Downey pöbelte nicht nur auf der Bühne herum, er war auch Kettenraucher und das wichtigste Bühnenrequisit ein riesiger Aschenbecher.
 

Morton Downey Jr show: White Supremacy




Was in den USA „Trash Talk“ genannt wurde, hieß dann etwas später in Deutschland „Krawall-Talkshow“. Eingeführte Talk-Regeln verletzen, um damit Aufmerksamkeit zu erzeugen, hatte sich in den USA als Erfolgsrezept erwiesen, also konnte man es auch hier probieren.

Shows wie Explosiv – Der heiße Stuhl (RTL) konnten sich zwar nicht dauerhaft etablieren, dafür war die zahmere Variante, tägliche Talkshows im Nachmittagsprogramm, über viele Jahre ein Quotengarant. Vor dem Hintergrund der deutschen Talkshow-Geschichte, in der spätabendliche Gespräche mit Prominenten dominierten, waren auch alle Daily Talks schon ein dramatischer Regelbruch und wurden oft ebenfalls als Trash bezeichnet.


Demokratisierung oder Demontage der Gesprächskultur?

Wie so oft in der Mediengeschichte wurde Trash Talk in den USA und später dessen Äquivalent in Deutschland zwar vom Feuilleton einhellig als geschmacklos, furchtbar und – tatsächlich – als Müll empfunden, gleichzeitig fand er sein Publikum, auch unter denen, die ihn ablehnten. Gründe dafür lassen sich durchaus finden, wenn man ältere Verwandte einbezieht (vgl. Keller 2009, S. 50 ff.): Trash Talk setzte wie die 1967 gestartete Phil Donahue Show auf Publikumsbeteiligung und Alltagsthemen (auch kontroverse) und wie die Oprah Winfrey Show (ab 1986) auf persönliche Bekenntnisse. Im Unterschied zu älterem Gesprächsfernsehen kamen hier vor allem Fernseh-Laien mit ihren (tatsächlichen oder angeblichen) privaten Anliegen vor, die redeten, wie sie auch im Alltag redeten (tatsächlich oder angeblich). Und nicht Prominente, die mit ihrem Auftritt professionelle Ziele erreichen wollten. Weil bei diesen jederzeit erkennbar war, dass ihr Auftritt eine Inszenierung war, konnte Trash Talk – wie abstoßend er auch war – immerhin mit vermeintlicher Authentizität punkten.

Die Annahme war dabei völlig ausreichend, wie Mitte der 1990er-Jahre das Phänomen des „Talkshow-Tourismus“ in deutschen Nachmittagsshows bewies: Einige Akteurinnen und Akteure waren mit völlig unterschiedlichen – erfundenen – Geschichten in mehreren Shows aufgetreten, doch der nachfolgende Skandal hielt sich in Grenzen. Es zeigte sich, dass dem Publikum der Unterhaltungswert der Sendung wichtiger war als die Frage, ob die Geschichte tatsächlich stimmte oder nicht.

Eine frühe Zwischenbilanz zum Thema „Trashfernsehen“ in Deutschland erkennt sogar einen wichtigen gesellschaftlichen Nutzwert: In einer Gesellschaft, die auf Konsens baut, aber zusehends heterogener wird, bietet Trash eine Chance, Abgrenzung ohne Ausgrenzung zu praktizieren, und wirkt damit gesamtgesellschaftlich integrativ – die ausgestellte Differenz in Verhalten oder Lebensstil bleibt als TV-Spektakel im Spielerischen und gefährdet damit nicht das gesellschaftliche Ganze (vgl. Hickethier 2000, S. 26 f.).
 

John Cena Teaches Hugh Jackman Reverse Trash Talking (2020)



Aufmerksamkeit und Erregung

Was mit Trash Talk begann, differenzierte sich bald aus – zum Fernsehtrash wurden bald auch Gerichtsshows und Scripted Reality gezählt, auch neuartige Formate wie Big Brother, Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! und Der Bachelor. Allen gemeinsam war, dass sie aus älterem Fernsehen bekannte Grundideen aufgriffen, kombinierten und für eine neue (Medien-)Zeit re-kontextua­li­sierten. Fanden zu Zeiten ausschließlich öffentlich-rechtlichen Fernsehens beispielsweise Gesprächsrunden als zivilisierter Austausch im Rahmen gehobener Gesellschaft und dazu in einem als staatstragend empfundenen Medium statt, gab es nun scheinbar weitgehende Regellosigkeit, was einerseits schockierend, aber andererseits auch irgendwie erfrischend war. Auf vergleichbar freizügige Weise gingen andere Trash-Formate etwa mit den Regeln von dokumentarischen Formen, von Spiel- oder Kennenlernshows um. Die Regellosigkeit war allerdings nur eine scheinbare, denn tatsächlich prägten nun Marktregeln, was und wie zu sehen war – was für Trash-TV bald Probleme schuf.

Wer in einen Raum kommt, in dem viele Menschen laut reden, muss selbst noch lauter reden, um gehört zu werden. Trash-TV begann seine Karriere in einer Zeit beständig zunehmender Medienkonkurrenz, in der immer mehr Angebote um die begrenzte Aufmerksamkeit des Publikums wetteiferten. Die Steigerung der Lautstärke, der Reizmenge und Reizintensität war also dringend erforderlich, um in der Konkurrenz der Sender und Sendungen zu bestehen.
 

Dschungelcamp 2020 | Dschungelprüfung: Hör mal, wie behämmert! - Das 1-Stern-Fiasko



Aber ebenso wie sich ein Tabu genau einmal brechen lässt, lassen sich skandalöse Talkshow­themen und als menschenverachtend eingeschätzte Spielshow-Settings nicht beliebig steigern – weshalb derartige Formate auch als „kannibalistisch“ bezeichnet werden: Sie fressen sich früher oder später selbst auf, weil keine Steigerung mehr möglich ist. Schwanger mit 13? Ist als Talkshowthema uninteressant, wenn letzte Woche schon eine schwangere 12-Jährige in der Sendung war. Känguruhoden als „Delikatesse“ im Dschungelcamp? Schockiert auch nur beim ersten Mal.

Dank der Erweiterung des Medienensembles um Internet und Social Media, Videoportale und Podcasts entstanden zwar weitere Möglichkeiten zur Steigerung der medialen Lautstärke, aber ebenfalls begrenzte – und zwar durch gesetzliche Vorgaben. Als Resultat verschwand Trash-TV nicht oder wurde generell zahmer, stattdessen hatte sich die mediale Grundlautstärke im Vergleich zu Zeiten vor Privatsendern und Digitalmedien deutlich erhöht.
 

Medienwandel und Gesellschaftswandel

Und nicht nur die Lautstärke: Aus vielerlei Gründen veränderte sich in wichtigen Bereichen gesellschaftliche Kommunikation insgesamt. In aller Verkürzung: Während alte Gewissheiten schwanden, es den Kindern nicht mehr unbedingt besser gehen und die Rente keineswegs sicher sein würde, sorgten immer neue Krisen für zusätzliche Verunsicherung und den umso stärkeren Wunsch nach einfachen Lösungen für komplexe Probleme und Eindeutigkeit – egal ob Schwarz oder Weiß, Hauptsache nicht Grau. Diesen Anforderungen kommt Trash-TV perfekt entgegen: Es produziert Erregung ohne Zwischentöne für eine durch verschiedene Krisen dauerhaft erregte Gesellschaft (vgl. Pörksen 2018).

Wie kurz der Weg von medialem zu anderem Trash ist, zeigte sich schon in den USA der 1980er-Jahre. Rush Limbaugh und andere brachten politischen Trash Talk ins Radio und unterstützten den Aufstieg der New Right. Limbaugh war ein eifriger Unterstützer von Donald Trump und erhielt 2020 konsequenterweise die höchste zivile Auszeichnung der USA, die Presidential Medal of Freedom.


Dichtung und Wahrheit

Was sich schon lange abgezeichnet hatte (vgl. Glynn 2000), mit Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten wurde es offensichtlich: Aus Medientrash war ein allgemeines Kulturphänomen geworden, das Grelle und Laute lauerte nun überall. Die Postmoderne hatte das Ende der „großen Erzählungen“, der großen Theorien, bedeutet. An deren Stelle traten viele kleine, und das Erzählen überhaupt wurde zu einem zentralen Thema (vgl. Fahrenwald 2011), was in den Kultur- und Sozialwissenschaften als „narrative turn“ bezeichnet wurde. Wo es um die Konstruktion von Sinn und Identität geht, werden Geschichten erzählt – selbst traditionelle Nachrichten und dokumentarische Formen verzichten nicht auf Storytelling.

Gruppiert man diese Geschichten, werden zwei Arten von Erzählungen sichtbar: Geschichten auf der Grundlage von Tatsachen und Vernunft und Geschichten auf der Grundlage von Unterhaltungs- und Reizwert (vgl. Seeßlen 2017, S. 8 ff.). Aus Fakten wie Fiktionen lässt sich eine gefühlte Realität basteln, doch letztere ist im Zweifelsfall einfacher, klarer, bunter, lauter. Donald Trump ist eine hybride Figur zwischen Medienrealität und außermedialer Realität, er war Reality-TV-Star und (u.a.) Immobilienunternehmer. Damit steht er in einer kleinen, aber feinen Traditionslinie: US-Präsident Ronald Reagan war früher Schauspieler gewesen, ebenso der ehemalige kalifornische Gouverneur Arnold Schwarzenegger, den mit seinem Gouverneurskollegen Jesse Ventura aus Minnesota zudem ein sportlicher Hintergrund verbindet – Schwarzenegger begann als Bodybuilder, Ventura als Wrestler, was wiederum von der Schauspielerei gar nicht so weit entfernt ist.
 

New York Magazine Donald Trump's Worst Moments From The Apprentice



Sie alle sind Profis im Geschichtenerzählen, und mehr als seine Vorgänger machte und macht sich Trump einen wichtigen Umstand zunutze: Wie wir unser Leben empfinden, hängt nicht nur an schnöden Fakten und konkreten Lebensumständen, mindestens so wichtig kann die Erzählung sein, als deren Teil wir uns sehen. Trumps Appell an seine Wählerschaft war schlicht: „Vergesst die langweiligen Fakten, wollt Ihr nicht Teil einer GROSSARTIGEN Geschichte sein, von MAGA?“

Und diese Geschichte ist natürlich auch von läppischen Fakten wie Wahlergebnissen völlig unabhängig …
 

Literatur:

Fahrenwald, C.: Erzählen im Kontext neuer Lernkulturen. Eine bildungstheoretische Analyse im Spannungsfeld von Wissen, Lernen und Subjekt. Wiesbaden 2011

Glynn, K.: Tabloid Culture. Trash Taste, Popular Power, and the Transformation of American Television. Durham/London 2000

Hickethier, K.: Trashfernsehen und gesellschaftliche Modernisierung. In: U. Bergermann/H. Winkler (Hrsg.): TV-Trash. The TV-Show I Love to Hate. Marburg 2000, S. 23‑37

Keller, H.: Die Geschichte der Talkshow in Deutschland. Frankfurt am Main 2009

Pörksen, B.: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München 2018

Seeßlen, G.: Trump! Populismus als Politik. Berlin 2017