Camp – eine Theorie des schlechten Geschmacks

Clemens Schwender

Prof. Dr. Clemens Schwender ist Lehrbeauftragter für Medienanalyse und -geschichte an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.

Konnte Theodor W. Adorno 1944 noch gegen die Produkte der Kulturindustrie wettern, fand Susan Sontag in ihrem 1964 erstmals erschienenen Artikel Anmerkungen zu „Camp“ einen kulturtheoretischen Zugang zum schlechten Geschmack.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 2/2021 (Ausgabe 96), S. 52-54

Vollständiger Beitrag als:

Camp ist eine Haltung und eine Erlebnisweise gegenüber dem Künstlichen. Darum umfasst Camp alle Bereiche von Architektur, bildender Kunst, Literatur und Theater bis hin zu Film, Musik und Mode. Selbst Personen können „campy“ sein. Ebenso wie hohe Kunst notwendigerweise nach Schönheit, Bedeutung und Wert strebt, gibt sich Camp trivial und oberflächlich. Kitsch erfährt eine ästhetische Aufwertung. Ästhetik und Ironie stehen dabei über dem Inhalt, der Moral und der Tragödie. Tragik findet bei Camp nicht statt, sondern nur noch deren Gestik: der schmachtende Blick, der Handrücken an der Schläfe.

Susan Sontag formuliert keine abgeschlossene Theorie, sondern listet Beschreibungen, Beispiele und Statements auf. Die 58 Anmerkungen lesen sich wie Fußnoten zu einem nicht vorhandenen Theorietext. Dies ist äußerst erhellend und dabei amüsant zu lesen. Allein die Beispiele machen klar, was gemeint ist, und die Leserinnen und Leser können eigene ergänzen.
 

The NET: Camp: Notes on Fashion (2019)



Stil ist alles

In den Beschreibungen gibt es keine Gut-Schlecht-Wertung. Stil ist alles. Man nimmt ihn als die eigentliche Aussage. So muss man sich nicht mehr mit dem Inhalt befassen und kann das Phänomen genießen. „Camp hat die Macht, Erfahrungen umzuformen.“ (Sontag 1982, S. 324) So gibt es ein unfreiwilliges Camp, das erst interpretiert werden muss: Dazu zählt der deutsche Schlager, der mit inbrünstigem Pathos schmachtet. Es gibt aber auch das intendierte Camp: Gebäude auf der Pfaueninsel in Berlin wurden bereits als visuelle Ruinen geplant. Der Jugendstil lebt davon, dass die Objekte nicht nur das sind, was sie sind, sondern dass sie diese in Stil verwandeln: Eingänge zur Pariser Metro sehen aus wie Käfer mit Chitinpanzer, Lampen wie Blüten.
 

Camp braucht den Unterton des Künstlichen, des Überspitzten. Camp ist überdreht. Die Werke orientieren sich am Künstlichen und an der Übertreibung. Camp-Kunst ist häufig dekorative Kunst, wie sie insbesondere der Jugendstil entwickelt hat.


Zum Ursprung des Begriffs „Camp“ gibt es unterschiedliche Interpretationen. Zunächst findet man ihn im Begriffsfeld von „affektiert, kitschig und tuntig“. Es wurde vermutet, dass „Camp“ in diesem Sinne möglicherweise vom französischen Begriff „se camper“ abgeleitet ist, was „übertrieben posieren“ bedeutet. Später entwickelte sich daraus eine allgemeine Beschreibung der ästhetischen Entscheidungen und des Verhaltens schwuler Männer. Camp verweist aber auch auf den Begriff des Campus, des Universitätsgeländes amerikanischer Universitäten, wo sich Gleichgesinnte inoffiziell austauschen, um sich über Dinge zu verständigen, die man gut finden kann. Camp ist nicht unbedingt eine Eigenschaft der Objekte, sondern eine Übereinkunft der Nutzerinnen und Nutzer.

Der eigentliche Ausgangspunkt liegt im 18. und frühen 19. Jahrhundert in der Figur des Dandys, der – frei von ökonomischen Zwängen – durch die Armenviertel der Vorstädte flaniert, um sich am Elend der anderen zu erfreuen. Die soziale Lage ist ihm gleichgültig. Er nimmt das Erlebnis einzig ästhetisch wahr und sieht alles als Theater. Das Dandytum wie auch Camp nehmen die Welt als durch und durch ästhetische Erfahrung. Beides sind Erlebnisweisen, die durch einen ausgeprägten Sinn für das Kunstmäßige, die Oberfläche und die Symmetrie, sowie durch die Freude am Pittoresken gekennzeichnet sind.

Der Dandy – wie die Anhängerinnen und Anhänger von Camp – kann die schlechte Kultur goutieren, weil er nicht dazugehört. Beide Gruppen betrachten die Welt von außen und können sie genießen. Camp ist das Dandytum im Zeitalter der Massenkultur und macht ebenso keinen Unterschied zwischen dem einzigartigen Gegenstand und dem Trash als Massengut. Camp stellt eine bestimmte Art des Ästhetizismus und der Extravaganz dar, bei der es nicht um Schönheit geht, sondern um den Grad der Kunstmäßigkeit. Stil betonen heißt, den Inhalt zu vernachlässigen. Im Camp löst sich die Moral im Stil auf.

Im naiven, nicht intendierten Camp gibt es eine Ernsthaftigkeit, die ihr Ziel verfehlt. Die Urheberinnen und Urheber hatten nicht die Absicht, Camp zu schaffen. Es gibt Dinge, die sind so schlecht, dass sie schon wieder gut sind. Camp vergnügt sich an den Künsten der Massen. Triviales lässt sich genießen. Camp ist in Ansätzen die intellektuelle Version von Kitsch.

Zu den modernen Phänomenen, die man als Camp identifizieren kann, gehört die Figur Freddie Mercury mit seiner Band „Queen“. Bereits der Bandname ist eine Anspielung auf eine Dragqueen, also eine Person, die meist männlich ist und extravagante Kleidung und Make-up verwendet, um weibliche Geschlechterrollen zu Unterhaltungszwecken nachzuahmen und diese zu übertreiben. Dragqueens werden mit schwulen Männern und schwuler Kultur in Verbindung gebracht. Musik und Gesang von Freddie Mercury machen in dem Stück Bohemian Rhapsody Anspielungen auf die klassische Oper, eine Kunstgattung mit deutlichen Elementen der Übertreibung. Mercurys Art, sich zu kleiden, und seine Posen bei seinen Auftritten sind prätentiös und wollen eine Bedeutung mit dem Anschein von Wichtigkeit vorgeben.
 

Queen: Bohemian Rhapsody (1975)



Eurovision Song Contest

Ob Guildo Horn mit seiner Band „Die Orthopädischen Strümpfe“ auch in diese Aufzählung gehört, wäre zu diskutieren. Seine überzogene Darstellungsweise lässt sich nicht leugnen. Das Event, bei dem Horn seinen wichtigsten Auftritt hatte, war 1998 der Eurovision Song Contest, der eindeutig dem naiven Camp zuzurechnen ist. Horn belegte mit dem Stück Guildo hat euch lieb! den 7. Platz.

Die als Wettbewerb aufgezogene Veranstaltung präsentiert Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die jeweils meist europäische Länder vertreten. Jede teilnehmende Nation reicht ein Original-Lied ein, das als Liveübertragung im Fernsehen aufgeführt wird. Gerade kleinere Länder haben kaum eine andere Gelegenheit der Darstellung, es sei denn, es wird über lokale Desaster berichtet. Die Veranstaltung bietet die Chance, einmal nicht durch negative Ereignisse in die Schlagzeilen zu kommen. Die oft folkloristischen Präsentationen sind voll von Pathos, die durch Gesang, Musik, Kostüme und Tanz dargeboten werden. Die Auftritte sind ernst gemeint und damit offen für die Sichtweise von Camp.

Die Veranstaltung hat eine große schwule Anhängerschaft. Gewinnertitel wie im Jahr 2014 Rise Like a Phoenix von Conchita Wurst oder 1998 Diva von Dana International sind eindeutige Nutzungsangebote an ein homosexuelles Publikum. Auch die norwegische Band „Lordi“, deren Mitglieder in ihren Fantasyoutfits auftraten, ist in ihrem Gehabe übertrieben und damit einer Camp-Interpretation zugänglich.

Camp lässt den Kitsch hochleben und zelebriert den schlechten Geschmack aus einer Haltung der Distanz zur bemühten Ernsthaftigkeit.