Das Ende von Lust und Leidenschaft
James Bond fackelte nicht lange, weder bei seinen Gegnern noch bei seinen Bettbekanntschaften. Wenn er eine Gespielin wollte, nahm er sie sich. Das war in den 1960er-Jahren ganz normal, zumindest im Kino: Zunächst sträubten sich die Frauen noch, dann gaben sie sich willig hin. Der Geheimagent hatte zwar den Charme eines Dockarbeiters, aber er sah immerhin aus wie Sean Connery. Niemand fand das anstößig; trotzdem kamen diese Szenen aus heutiger Sicht einer Vergewaltigung gleich. Tatsächlich hatten die frühen Filme der 1962 gestarteten Reihe allesamt eine Altersfreigabe ab 16 Jahren. Das änderte sich erst 1977 mit Der Spion, der mich liebte (ab 12).
In ihrem Dokumentarfilm Brainwashed – Sexismus im Kino1 (2022) erzählt Nina Menkes die Geschichte des von Männern geprägten Kinos. Typisch dafür ist ein Kameraschwenk, der bei den Füßen einer möglichst spärlich bekleideten Frau beginnt und sich dann langsam den Körper entlang bis zum Gesicht vorarbeitet. Sehr verbreitet ist auch die Detailansicht von Po oder Busen. Diese Art der Darstellung war im Mainstream-Kino den Frauen vorbehalten. Bei Männerkörpern hätte ein Großteil der männlichen Zuschauer solche Blicke höchstwahrscheinlich als „schwul“ empfunden.
Trailer Brainwashed – Sexismus im Kino (Madman Film, 02.03.2023)
So alt wie das Kino
Sex im Film ist so alt wie das Kino. Doch je populärer das Filmvergnügen wurde, desto strenger wurden – gerade in den USA – die Zensurauflagen. Katholische Massenbewegungen sorgten mit Boykottdrohungen dafür, dass jede Andeutung von Unsittlichkeit unterblieben. In den 1950er-Jahren zum Beispiel durften Leinwandküsse nicht länger als vier Sekunden dauern. Findige Regisseure umgingen die Regeln, indem sie die Fantasie des Publikums anregten. Auf diese Weise schuf Fred Zinnemann in seinem Hollywood-Klassiker Verdammt in alle Ewigkeit (1953) einen der berühmtesten Momente der Filmgeschichte: Die für damalige Verhältnisse unerhört leidenschaftliche Strandszene mit Burt Lancaster und Deborah Kerr hielt sich strikt an die Auflagen, ließ aber keinerlei Fragen offen.
Perfekt ausgeleuchtet
Bei der Inszenierung der Geschlechter gab es jahrzehntelang deutliche Unterschiede. Hauptdarstellerinnen waren perfekt ausgeleuchtet, weshalb ihr Antlitz zwar makellos, aber zweidimensional wirkte. Männer hingegen durften selbstredend Falten haben, auf ihre Gesichter fiel auch mal ein seitliches Licht, sodass die Nase einen Schatten warf – auf diese Weise bekamen sie Tiefe. In Romanzen waren sie nicht selten fast doppelt so alt wie ihre Filmpartnerin. Nur zwei Beispiele von vielen: Haben und Nichthaben (1944) von Howard Hawks mit Humphrey Bogart (geb. 1899) und Lauren Bacall (geb. 1924) oder zehn Jahre später Sabrina (1954) von Billy Wilder mit Humphrey Bogart und Audrey Hepburn (geb. 1929). Während John Wayne noch als altes Raubein im Sattel saß, endeten die Karrieren der meisten weiblichen Stars in der Regel deutlich früher. Zumindest daran hat sich nicht viel geändert: Spätestens im Alter von Ende vierzig werden Rollen für Frauen immer rarer.
Nackt mit zwölf
Weil sich die Zeiten ändern, unterliegt die Darstellung von Lust und Begehren ständigen Veränderungen. In den freizügigen 1970er-Jahren wandelte sich die Darstellung weiblicher Körper geradezu radikal. Die Entwicklung machte nicht mal vor Kindern halt. Erotisierende Nacktaufnahmen einer Zwölfjährigen wie von Brooke Shields in Louis Malles Lolita-Variation Pretty Baby (1978) wären heutzutage undenkbar. Allerdings klagte Sarah Kim Gries (35) kürzlich auf ihrem TikTok-Kanal, sie sei vor gut 20 Jahren als ebenfalls zwölfjährige Darstellerin der weiblichen Hauptrolle Vanessa in der Filmreihe Die wilden Kerle (2003–2008) sexualisiert worden. Noch heute bekomme sie Zuschriften von Männern, die ihr schreiben, sie hätten damals als bereits Erwachsene beim Gedanken an Gries sexuelle Handlungen an sich vollzogen.
Prüdes Hollywood
Die Dokumentation Prüdes Hollywood2 (2024) beschreibt eine gegenteilige Entwicklung. Der Titelzusatz lautet zwar „Laster, Lust und Leidenschaft im Film“, doch Autorin Viola Löffler behauptet, das Mainstream-Kino werde „immer verklemmter.“ Die zitierten Statistiken scheinen das zu bestätigen: In den 250 erfolgreichsten Filmen der letzten gut 20 Jahre habe es einen Rückgang der Sexszenen um 20 % gegeben. Die Autorin vergisst zwar, eine Referenzgröße anzugeben – zumal viele Kassenknüller Familienfilme sind –, aber der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger bestätigt den Eindruck: weniger Sex, dafür mehr Gewalt. Als Beleg für ihre These führt Löffler jedoch ausgerechnet das wirbelnde Effektespektakel Twisters (2024) an – ein in diesem Zusammenhang völlig untaugliches Beispiel: Katastrophenfilme kommen traditionell ohne Sex aus; das galt auch für die frühen Werke des Genres aus den ansonsten sehr lockeren Siebzigern (Flammendes Inferno, Erdbeben, beide 1974). Im Internet gab es offenbar eine rege Debatte darüber, warum sich das potenzielle Liebespaar am Ende von Twisters nicht küsst – was im Kontext von Löfflers Dokumentation zumindest deplatziert wirkt: Gilt ein Leinwandkuss schon als Sex?
Prüdes Hollywood (Irgendwas mit ARTE und Kultur, 12.04.2025)
„Backlash“ unter Trump?
Auch sonst lässt die Autorin allzu viele Fragen offen. Sie erwähnt zwar, dass es nach den 2017 veröffentlichten „MeToo“-Berichten über die sexuellen Übergriffe des Filmproduzenten Harvey Weinstein ein Umdenken in Hollywood gegeben habe, aber angesichts der reaktionären „Backlash“-Bestrebungen der Trump-Regierung stellt sich die Frage, ob das Pendel nicht wieder in die andere Richtung ausschlagen wird. Und noch ein Gedanke fehlt, obwohl er eigentlich das interessanteste Element der Entwicklung ist: Welche Rückschlüsse lassen sich eigentlich von der Filmstatistik „Weniger Sex, mehr Gewalt“ auf die Gesellschaft ziehen? Die liberalen Bewegungen der Siebziger oder die größere Sensibilität der letzten Jahre gegenüber Personen, die irgendwie anders sind, konnten nicht kaschieren, dass die USA im Grunde ein vom Puritanismus geprägtes Land sind.
Schwache Männer, starke Frauen
Kein Kinotrend hat das stärker verdeutlicht als die Erotikthriller der 1990er-Jahre (laut Löffler 500 an der Zahl). In Filmen wie Paul Verhoevens Basic Instinct (1992), dem Klassiker des Genres, wurde das männliche Begehren prompt bestraft. Auf geradezu perfide Weise verkehrten diese Produktionen die weibliche Emanzipation in ihr Gegenteil: Von selbstbestimmten, sexuell aktiven Frauen ging eine tödliche Gefahr aus. Aus christlicher Sicht ist Eva ohnehin an allem schuld – schließlich hat sie Adam einst dazu verführt, vom Baum der Erkenntnis zu essen; anschließend wurden sich beide ihrer Nacktheit bewusst. Allerdings lässt sich dieser Sündenfall auch ganz anders betrachten: Ihr Mut, dem Gebot eines von den Christen stets als männlich betrachteten Gottes zu trotzen, machte Eva zur ersten Feministin. Im Grunde haben Männer Angst vor Frauen, jenen „unbekannten Wesen“. Kein Wunder, dass sie ihnen nur eine Rolle als „zweites Geschlecht“ zubilligten, wie Simone de Beauvoirs Klassiker Das andere Geschlecht (1949) im Original hieß.
„Der Elefant im Raum“
Wie sehr sich mittlerweile auch die filmischen Rahmenbedingungen verändert haben, zeigt nicht zuletzt die Arbeit von Ita O’Brien. Die ehemalige Tänzerin ist gewissermaßen die Erfinderin eines neuen Berufszweigs der Filmbranche: Intimitätskoordinatorinnen (in der Tat meist weiblich) achten darauf, dass sich alle Beteiligten bei Liebes- und Nacktszenen wohlfühlen. In der Zeit vor „MeToo“, erzählt sie in einem Interview mit dem „ARTE Magazin“, seien solche Momente „der Elefant im Raum“3 gewesen: „Alle wussten, dass sie kommen würden, aber niemand sprach darüber.“ Auch die Regisseure hätten sich nicht gerade auf diese Drehtage gefreut. Neben dem Verzicht auf die inhaltlich zwar völlig irrelevanten, aber dennoch obligaten Aufnahmen von Hauptdarstellerinnen unter der Dusche ist die Einführung von Intimacy Coaches das deutlichste Zeichen dafür, dass sich seit „MeToo“ etwas geändert hat.
Der letzte Tango in Paris
Nacktszenen werden laut O’Brien mittlerweile ähnlich sorgfältig vorbereitet wie riskante Stunts: „Wir kümmern uns um die technische Anleitung und zeigen, wie etwas echt wirkt, obwohl es simuliert ist.“ Im Vordergrund stehe dabei das Einverständnis aller Beteiligten. Vor dem Dreh kläre sie mit den Mitwirkenden, welche Körperteile nackt gezeigt und wo sie berührt werden dürfen. Früher sei es undenkbar gewesen, „beim Vorsprechen mit dem Regisseur darüber zu reden, was einem unangenehm ist. Schauspielerinnen hätten große Angst gehabt zu sagen: ‚Ich möchte mein Oberteil nicht ausziehen.’“ Wer sich weigerte, „galt als schwierig oder unprofessionell“ (ebd.). Das berüchtigtste Fehlverhalten in dieser Hinsicht waren die Dreharbeiten zu Bernardo Bertoluccis Skandalfilm Der letzte Tango in Paris (1972) mit Marlon Brando: Hauptdarstellerin Maria Schneider hatte erst unmittelbar vor dem Dreh einer Vergewaltigungsszene von einer Änderung des Skripts erfahren. Die Französin, damals nicht mal 20 Jahre alt, traute sich nicht zu protestieren. Sharon Stone wurde bei Basic Instinct auf ähnliche Weise überrumpelt. Als sie die berühmte Szene, in der sie in ihrer Rolle während einer Befragung durch Polizisten die Beine übereinanderschlägt, das erste Mal im Kino sah, war sie schockiert: Verhoeven hatte sie unter Hinweis auf einen technischen Vorwand überredet, ihren Slip auszuziehen, und ihr versichert, im fertigen Film werde nicht zu erkennen sein, dass sie keine Unterwäsche trage.
Mit Blick auf Asien
Anders als zu Zeiten, als Hollywood ausländische Einspielergebnisse als willkommenes Zubrot betrachtete, weil der einheimische Markt groß genug war, sind die Produktionsunternehmen längst auch auf Einnahmen aus anderen Kulturen angewiesen. Dank technischer Möglichkeiten ist es heutzutage kein Problem, potenziell anstößige Szenen zu bearbeiten. In Christopher Nolans internationalem Hit Oppenheimer (2023) zum Beispiel gibt es eine Szene, in der sich der Titelheld (Cillian Murphy) mit seiner langjährigen Liebschaft Jean Tatlock (Florence Pugh) zum Rendezvous trifft. Während sich die beiden unterhalten, sitzt die Geliebte nackt in einem Sessel – allerdings nur in der westlichen Version; für weniger freizügige Märkte wie Indien und Indonesien wurde sie digital bekleidet.
„Nicht in Afghanistan“
Natürlich stößt die Zurückhaltung in Sachen Sex nicht ausschließlich auf Zustimmung – und das gilt keineswegs nur für Männer. Löffler hat für ihre Dokumentation unter anderem mit Catherine Breillat gesprochen. Die französische Regisseurin (geb. 1948) stammt aus einem streng katholischen Elternhaus. Das erklärt womöglich, warum sie unter anderem dank der angeblich nicht simulierten Sexszenen in dem äußerst kontrovers diskutierten Drama Romance (1999) als „schamlose Skandalnudel des französischen Arthaus-Kinos“ gilt, wie Löffler sie tituliert. Dazu passt Breillats empörte Reaktion auf die vermeintliche Zensur: „Wir sind hier doch nicht in Afghanistan!“ Viele Regisseurinnen haben ohnehin den männlichen Blick bedient: weil sie beweisen wollten (oder mussten), dass auch Frauen „Männerfilme“ drehen können.
Anmerkungen:
1) Brainwashed – Sexismus im Kino, USA 2022, Buch, Regie und Produktion: Nina Menkes
2) Prüdes Hollywood – Laster, Lust und Leidenschaft im Film, Deutschland 2024, Buch und Regie: Viola Löffler
3) Frauke Fentloh: Elefant im Raum. Interview mit Ita O’Brien. In: Arte-Magazin 4/2025, S. 26–27. Abrufbar unter: www.arte-magazin.de