Das Fernseharchiv. Der Fall: „Wer wird Millionär?“
Ist es nicht eine grandiose Verschwendung von Zeit, Geld und Talent, Fragen zu stellen, die 14-Jährige beantworten könnten, nur damit irgendwer irgendwann mit einer Million nach Hause gehen kann?“1
Die Kritiken zur neuen Quizshow Wer wird Millionär? (RTL, seit 1999) fielen nach der Premiere am 3. September 1999 noch verhalten aus. Für den Journalisten Bert Becher fühlte sie sich anfangs „ein bisschen wie an Kindergeburtstagen bei ‚Stadt Land Fluss‘“ an. „Nur nicht so anspruchsvoll“, wie er mit Verweis auf das Niveau der gestellten Fragen ergänzte (Becher 1999a). Auch die ermittelte Sehbeteiligung des Auftakts fiel mit durchschnittlich 3,66 Mio. Zuschauenden zunächst mäßig aus. Das reichte bloß für Rang sieben unter allen Sendungen des Tages. Vom späteren Kritiker:innen- und Publikumsliebling ist die Reihe zu diesem Zeitpunkt weit entfernt.
Vielleicht hatten all die anderen Kanäle von SAT.1 bis zum ZDF doch recht gehabt, die das Format zuvor abgelehnt hatten. Schließlich galt das Genre Quiz kurz vor der Jahrtausendwende als antiquiert, unbeliebt und tot. Um kein allzu großes Risiko einzugehen, gab RTL lediglich vier einstündige Ausgaben in Auftrag. Diese wurden in einer Marathon-Programmierung an einem Wochenende ausgestrahlt. Freitag, Samstag, Sonntag und Montag. Jeweils um 20.15 Uhr.
Vor dem Start hatte Moderator Günther Jauch versprochen, dass man in der Show „Uni-Professoren scheitern und weniger Gebildete triumphieren“ sehen werde (Jauch, zitiert nach Mopo 1999). Ein rein akademisches Spezialwissen werde nicht reichen, um die Million zu gewinnen. „Ohne Grips und schnelle Auffassungsgabe geht nichts“ (ebd.). Jauch selbst hatte zuvor die britische Vorlage gesichtet und war direkt begeistert gewesen:
Es ging um walisische Sprichwörter, ich habe nichts verstanden, aber sofort mitbekommen, welche Spannung von dieser Sendung ausging, durch das Studio, die Lichtstimmung, das Audiokonzept, die einfache Struktur“ (Jauch, zitiert nach Britzelmeier 2019).
Die wenigen damals existierenden Quizshows wie Jeopardy! (RTL, 1994–1998, und tm3, 1998– 2000 [von 1990–1993 unter dem Titel Riskant!]) oder Jeder gegen Jeden (SAT.1, 1996–2001) setzten auf Schnelligkeit und eine Beantwortung möglichst vieler Fragen in kurzer Zeit. Hierzu bildete Wer wird Millionär? einen bewussten Kontrast, denn die Sendung ließ den Teilnehmenden absichtlich Zeit zum Überlegen. Es handele sich um eine „sehr unprätentiöse, nicht laute, dichte und schnelle Show“ (ebd.), charakterisierte Jauch deren Umsetzung. Und so dauerte es ganze 25 Minuten, bis die allererste Kandidatin Tanja O. nach acht Fragen mit einem Gewinn von 8.000,00 DM freiwillig ausstieg. In Jeder gegen Jeden wurden in derselben Zeitspanne bis zu 100 Fragen mit zwölf Personen durchgearbeitet.
Die allererste „100 Mark“-Frage bei „Wer wird Millionär?“. Wer ist noch ein WWM Ultra? (RTL, 20.05.2023)
Naturgemäß fiel die erste Frage leicht aus. Für 100,00 DM war die Vervollständigung des Sprichworts „Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem …“ zu erraten. Als Antwortmöglichkeiten standen zur Auswahl: A: Sofa, B: Klo, C: Grill und D: Dach. Dass die harten Nüsse erst bei hohen Beträgen zum Einsatz kamen, erschloss sich offenbar nicht allen, was eine Erklärung für die eingangs zitierte Kritik an den zu simplen Aufgaben liefern könnte. Zudem waren die ersten Mitspielenden mit dem Format nicht vertraut und merklich unsicher. Anstatt zu plaudern, konzentrierten sie sich wortkarg auf den Ablauf. Dadurch wirkte zu Beginn alles noch steif und banal.
In diesem Moment zeigte sich, wo die Stärke des Formats abseits der hohen Gewinnsummen, des beeindruckenden Designs und des schnörkellosen Konzepts tatsächlich lag. Es war der Raum zur Improvisation, den die Show Jauch als Spielleiter ließ, was solch amüsante Interaktionen ermöglichte.“
Das änderte sich, als am Sonntag Erich K. auf dem Stuhl in der Arena Platz nahm. Der Chemiearbeiter aus Antersdorf war ein großer Anhänger des Fußballvereins 1860 München. Er war sogar Vorsitzender eines Fanklubs. Seine Liebe ging so weit, dass er ein Tattoo im Nacken trug: ein „S“ für „Sechziger“. Für den Sportmoderator Günther Jauch war dies eine dankbare Vorlage, die er freudig aufnahm. Von der ersten Sekunde an stimmte die Chemie zwischen den beiden. K. war selbstsicher, witzig und bot immer wieder Konter. Dazu war er schlau und wusste seine Wissenslücken durch kreative Schlussfolgerungen auszugleichen. So konnte er die Übersetzung von „da capo“ aus den Fangesängen seiner Fußballfreunde ableiten. „Sie sind ein bisschen wahnsinnig“, rief ihm Jauch irgendwann verzweifelt zu. Es war ein großes Vergnügen, die beiden bei ihrem Schlagabtausch zu beobachten. In diesem Moment zeigte sich, wo die Stärke des Formats abseits der hohen Gewinnsummen, des beeindruckenden Designs und des schnörkellosen Konzepts tatsächlich lag. Es war der Raum zur Improvisation, den die Show Jauch als Spielleiter ließ, was solch amüsante Interaktionen ermöglichte.
Bis heute überzeugt die Produktion dadurch, dass sie im Grunde eine Talkshow ist, in der auch Quizfragen gestellt werden. „Ich kann mich eine Viertelstunde lang an einer Frage abarbeiten. Wenn mir dann ein Finanzbeamter gegenübersitzt und wir über Steuern ins Gespräch kommen, lernt man manchmal mehr als in einer Stunde Polit-Talk“, erklärte Jauch in einem späteren Interview (ebd.).
Am Ende ging Erich K. mit 16.000,00 DM nach Hause. Sein Beitrag für die Durchsetzung von Wer wird Millionär? war jedoch unbezahlbar, denn nicht zuletzt sein Auftritt sorgte für die nötige Kehrtwende. Der oben zitierte Kritiker Bert Becher revidierte seine Meinung und bescheinigte der Sendung nach K.s Auftritt „etliche Pluspunkte“. Insbesondere stellte er fest, dass die „Kandidaten wie du und ich“ das „eigentlich Interessante an diesem humanen Millionenspiel“ darstellten. „Weil man sie hoffen und leiden sah. Weil man sie gleich ein wenig kennen lernte, sie manchmal nicht mochte, manchmal richtig lieb gewann“ (Becher 1999b).
Diese Begeisterung spiegelte sich auch in den Reichweiten wider, die jetzt merklich anstiegen. Die dritte Episode am Sonntag schalteten durchschnittlich schon 4,41 Mio. Menschen ein. Weil die Ereignisse vom Wochenende in zahlreichen Büros und Arbeitspausen Gesprächsstoff gewesen sein dürften, kletterte der Wert zum vorläufigen Finale am Montag auf 7,58 Mio. Personen an. In der für RTL besonders relevanten Zielgruppe sah demnach jeder Dritte zu.
Angesichts dieses Trends verkündete man bereits am Tag darauf eine schnelle Fortsetzung. Sie lief mit zehn Folgen ab dem 27. Januar 2000 wieder als Marathon. Einen regelmäßigen Rhythmus am Freitag, Samstag und Montag bekam Wer wird Millionär? erst im Oktober 2000, wo sich die Sendung zu einem Dauerbrenner entwickelte, der nach 25 Jahren längst zum festen Inventar des deutschen Fernsehprogramms gehört.
Anmerkung:
1 Altona, H. von: A. a. O.
Literatur:
Altona, H. von: Quo vadis, Günther Jauch? In: Tagesspiegel, 05.09.1999, S. 39
Becher, B.: Kritisch gesehen. Wer wird Millionär? In: Hamburger Abendblatt, 06.09.1999a, S. 11
Becher, B.: Und keiner ist nun Millionär. In: Hamburger Abendblatt, 08.09.1999b, S. 9
Britzelmeier, E.: „Äh, äh, ich glaube, es ist B“. Interview mit Günther Jauch. In: Süddeutsche Zeitung, 02.09.2019, S. 20
Mopo: Der Millionen-Marathon. In: Hamburger Morgenpost, 03.09.1999