Das Imperium schlägt zurück

Mit welchen Strategien die klassischen TV-Sender auf den Erfolg von Netflix & Co. reagieren

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Was vor 20 Jahren noch wie Science-Fiction klang, ist dank Mediatheken und Streaming­diensten längst Wirklichkeit: Fernsehen immer und überall; jeder Zuschauer ist sein eigener Programmdirektor. Aber ist es eigentlich noch korrekt, diese Form der Nutzung als „fernsehen“ zu bezeichnen? Viele junge Leute besitzen gar kein Fernsehgerät mehr; die Filme und Serien von Anbietern wie Netflix oder Amazon werden ohnehin überwiegend auf Laptops und Tablets geschaut. Auch ältere Zielgruppen haben die Qualität dieser Dienste längst entdeckt und nutzen zudem die Angebote der etablierten Sender zu­neh­mend zeitversetzt. Ist das der Anfang vom Ende des klassischen Fernsehens?

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Ebenso wie „Kino“ steht „Fernsehen“ traditionell für zweierlei: Der Begriff bezeichnet sowohl den Inhalt wie auch das Medium. Wer mit dem Fernsehen groß geworden ist, assoziiert mit dem Wort daher zum Beispiel ein Wohnzimmer, in dem die Familie gemeinsam Wetten, dass ..? schaut. Das Bild eines einsamen Nutzers, der auf seinem Laptop eine Sendung in der Mediathek aufruft, ist mit dieser Szenerie zwar kaum vergleichbar, doch der Vorgang ließe sich im weitesten Sinne ebenfalls als „fernsehen“ bezeichnen. Aber gilt das auch für eine eigens und ausschließlich für Netflix produzierte Serienfolge, die dieser Nutzer im Zug auf seinem Tablet anschaut? Und wenn immer mehr Menschen die Streamingdienste entdecken und die Angebote von ARD und ZDF, von RTL und Sat.1 zunehmend zeitversetzt anschauen: Wird das linear ausgestrahlte Fernsehen dann nicht irgendwann überflüssig?
 

„Alles unter einem Dach“

Ja und nein, sagt Medienwissenschaftler Dr. Gerd Hallenberger (Marburg):

Letztlich sind Streamingdienste nur ein weiteres von vielen Begleitphänomenen einer allgemeinen Medienentwicklung.“

Sie seien allerdings ein Indiz dafür, dass „Fernsehen“ als Begriff nicht mehr zeitgemäß sei, „denn es gibt längst einen Wettbewerb zwischen jeder nur erdenklichen Form von Bewegtbild mit Ton. Die Herkunft dieser Bilder ist ebenso vielfältig wie die Bildschirme und Displays, auf denen sie angeschaut werden: hier klassische Medien wie Kino, Fernsehen, DVD, dort das Internet mit Mediatheken, Streamingdiensten oder anderen Plattformen wie YouTube.“

Netflix & Co. stünden dabei vor allem für die Globalisierung dieser Entwicklung, weil sie auf der ganzen Welt funktionieren müssten, während die Eigenproduktionen des Fernsehens regional oder national ausgerichtet seien.

Hallenberger zitiert einen Werbeslogan aus seiner Jugend – „Kaufhof bietet tausendfach alles unter einem Dach“ – und betrachtet dementsprechend Sender wie ARD, ZDF, RTL und Sat.1 als „Kaufhäuser des Fernsehens“, weil sie von Nachrichten über Sport bis zu Filmen und Shows alles bieten. Gerade deshalb „können sie jedoch kein scharfes Profil entwickeln, im Gegensatz zu einer Boutique wie Netflix, die für hochwertige Serien steht“; und spätestens seit Martin Scorseses Mafia-Epos The Irishman auch für hochwertige Spielfilme.
 


Das Schicksal der Kaufhäuser ist bekannt. Trotzdem sind Netflix, Amazon Prime Video, Apple TV+ und das demnächst startende Disney+ nicht automatisch das neue Fernsehen und somit die Totengräber der etablierten Programme; es gibt ja auch weiterhin loyale Kaufhof­kunden. Theoretisch können die Sender noch zwei oder drei Jahrzehnte auf die Treue der „Babyboomer“ aus den geburtenstarken Jahrgängen hoffen; deren jüngste Vertreter sind heute zwischen 50 und 60 Jahre alt. Andererseits hat sich längst auch bei älteren Nutzerinnen und Nutzern herumgesprochen, dass die Streamingdienste gerade im Serienbereich eine Premium­ware zu bieten haben, die es anderswo in dieser Qualität nur selten gibt.

Das Fernsehen ist tot, es lebe das Fernsehen? Erneut lässt sich Hallenberger nur ein „Jein“ abringen:

Die Sender haben auf die Entwicklung reagiert und eigene image­kräftige Boutiquen gegründet, in denen sie Produktionen zeigen, die in den Hauptprogrammen zumindest in der Hauptsendezeit keinen Platz fänden.“

Das ZDF zum Beispiel tut sich in dieser Hinsicht mit seinem Ableger Neo hervor. Hier zeigen die Mainzer unter anderem eigenproduzierte Serien wie Dead End (2019 – ) oder die TV-Adaption von Patrick Süskinds Roman Das Parfum. Und weil auch die öffentlich-rechtlichen Sender wissen, was die Stunde geschlagen hat, stellen sie „junge“ und horizontal erzählte Serien wie Bad Banks (2018, ZDF/Arte) in der Regel zum Sendestart komplett in die Mediathek. Dort bieten die Privat­sender schon längst auch exklusive Inhalte an; ARD und ZDF werden nachziehen. Wer sich als Erwachsener registriert, hat zudem beim ZDF auch tagsüber Zugriff auf Produktionen wie etwa Parfum (2018 – ), die aus Jugendschutzgründen ansonsten erst ab 22 Uhr zugänglich sind.
 


„Jetzt und alles“

Die Frage, ob Streamingdienste den Fernsehmarkt nachhaltig verändern werden, stellt sich also gar nicht mehr; das haben sie mit ihrer „Jetzt und alles“-Philosophie längst getan. Dafür steht nicht zuletzt der PR-Slogan von Joyn, der gemeinsamen Streamingplattform der ProSiebenSat.1-Senderfamilie mit Disovery (Eurosport): „Wann Primetime ist, entscheidest du.“

Diese Bedürfnisse würden mittlerweile von allen Sendern berücksichtigt, sagt Martin Berthoud, seit über 20 Jahren Leiter der Hauptabteilung Programmplanung im ZDF; die Unterschiede zwischen Netflix & Co. und der Mediathek eines klassischen TV-Senders seien daher auf den ersten Blick gar nicht mehr so groß. Aber dann zählt er auf, was die Attraktivität dieser Dienste ausmache: Sie böten einen großen Zugänglichkeits- und Nutzungskomfort und seien auf per­sönliche Nutzungsmuster zugeschnitten. Der Rest folgt schlagwortartig: „Breite des gleich­zeitig zugäng­lichen Angebots, spitze Ziel­gruppen­ansprache, globales Inhalte­profil, hoch­preisiges, hoch­wertiges Produktions­level.“ Berthoud ist überzeugt, dass sich der Wett­bewerb weiter beschleunigen werde:

Formate und Formatmarken sowie schnelle, frequente Inno­vations­zyklen gewinnen noch größere Bedeu­tung für die Ver­ankerung eines Diens­tes im Publikum.“

Älteren Fernsehschaffenden muss die aktuelle Situation wie ein Déjà-vu vorkommen, denn in den Anfangsjahren des „dualen Fernsehsystems“ – ein Begriff, der heute antiquiert anmutet – gab es eine ganz ähnliche Wettbewerbssituation: 1992 ist RTL erstmals Marktführer bei 14- bis 49‑Jährigen geworden. Diese Zielgruppe war für das teilweise recht freche Programm der neuen Sender deutlich offener als die älteren Zuschauerinnen und Zuschauer. Gerade RTL (anfangs noch RTLplus) setzte mit der legendären Tortenshow Alles Nichts Oder?! (1988 – 1992), mit Tutti Frutti-Erotik (1990 – 1993) oder der Satiresendung RTL Samstag Nacht (1993 – 1998) ganz neue Akzente. ARD und ZDF haben die 1984 gestartete Konkurrenz zunächst nicht ernst genommen; das änderte sich erst, als ihnen die Zuschauer wegliefen. Heute sind öffentlich-rechtliche und kommerzielle Sender gleichermaßen betroffen: Der Rückgang der klassischen Nutzung des Fern­sehens („lineare Sehdauer“) in der Alters­gruppe der 14- bis 29‑Jährigen sowie mehr und mehr auch der über 30‑Jährigen zeigt, wie sehr sich die neuen Seh­gewohn­heiten in diesen Alters­gruppen etabliert haben. Ihre Groß­eltern haben noch in die Programm­zeitschrift geschaut, um zu wissen, was läuft. Ihre Eltern haben den Fern­seher angemacht und sich durch die Programme geschaltet, bis sie auf eine interessante Sendung stießen. Die Nutzer von heute müssen nicht mal mehr einen Such­begriff eingeben: Dank ihrer Algorith­men wissen Netflix und Amazon genau, was sie sehen wollen.
 

Auf der Höhe der Zeit

Die etablierten Sender haben längst erkannt, dass sich ihre Mediatheken dieser Entwicklung anpassen müssen. Berthoud erwartet daher, dass sich die „ehemals rein linearen Bewegt­bild­anbieter noch konsequenter zu linearen/non-linearen Video­platt­formen entwickeln und ihre Media­theken zu eigen­ständigen Aus­spielkanälen ausbauen“. Aber das sind nur die technischen Rahmen­bedin­gungen. Um ein nachgefragtes Video­angebot zu etablieren, führt der ZDF-Vordenker weiter aus, benötige ein An­bieter eigene und nach Mög­lich­keit einzig­artige Angebots­profile sowie „interessante Programme, die etwas mit­zuteilen haben, die berühren, die auf der Höhe der Zeit und mit eigener Hand­schrift erzählt und gestaltet sind“. Unab­dingbar sei zudem eine dauernde Rück­kopplung mit den Zuschauer­bedürf­nissen.

Zum Anforderungsprofil gehöre außerdem eine vielfältige Genre- und Themenstruktur, die sich aus nationalen gesellschaftlichen und kulturellen Erfahrungen speise. Sender bräuchten mehr denn je die Fähigkeit, immer wieder Lebensgefühl und Nutzungsbedürfnisse klar umrissener Zielgruppen zu treffen. All das könne öffentlich-rechtliches Fernsehen in der neuen Wett­bewerbs­situation in die Waag­schale werfen. Ausbauen müsse es dagegen seine Fähig­keit, die Seh­bedürf­nisse junger Zuschauer­gruppen zu treffen. Voraus­setzung sei allerdings, Videos technisch auf der Höhe der Zeit zugänglich zu machen. Unterm Strich sieht Berthoud dank der öffentlich-rechtlichen Programm­kompetenz gute Voraus­setzungen, auch in diesem Wett­bewerb zu bestehen.

Aber was ist mit den Privatsendern? Junge Zielgruppen waren schließlich mal ihre Kern­kompetenz, sie sind also viel stärker von der Entwicklung betroffen als ARD und ZDF. RTL reagiert mit dem Selbst­bewusst­sein eines Senders, der die Markt­führer­schaft bei den TV-Zuschauern unter 50 seit 1992 nie wieder abgegeben hat. Henning Tewes, neben anderen Aufgaben Co-Geschäftsleiter von TV Now, dem Videoportal der RTL-Mediengruppe, räumt zwar ein, dass Video­inhalte noch nie so relevant wie heute gewesen seien, verweist jedoch auf die Kern­kompetenz der RTL-Senderfamilie:

Unsere DNA sind attraktive, relevante und lokale Inhalte, mit denen wir die Menschen informieren, unterhalten und bewegen, wo immer sie uns sehen wollen. Wir sind ein streamender Broadcaster – oder kürzer: Wir sind der deutsche Mainstreamer, der über 30 Millionen Menschen am Tag erreicht.“

Anders formuliert:

Wo wir bisher stark durch Broadcasting waren, werden wir jetzt noch stärker durch Streaming.“

Die Antwort von Diana Schardt, Sprecherin von ProSiebenSat.1, fällt differenzierter, aber nicht weniger selbstbewusst aus. Zunächst skizziert sie die Rahmenbedingungen und sorgt mit konkreten Zahlen dafür, dass jeder weiß, worum es geht:

Es gibt aktuell 200 Live-Sender und über 50 Streamingplattformen in Deutschland. 14- bis 49‑Jährige verbringen heute im Schnitt zwei Stunden mit linearem Fernsehen und eineinhalb Stunden mit Video-on-Demand.“

Das größte Wachstum verzeichneten die Premiuminhalte. ProSiebenSat.1 bewegt sich in diesem Umfeld nach eigenem Verständnis als „Premium Content House“: Dazu zählen natürlich die Sender und ihre Websites, aber auch Joyn. Das Streamingportal hat ebenso wie TV Now von der RTL-Gruppe neben einem großen werbefinanzierten Angebot mittlerweile auch einen kosten­pflich­tigen Premiumbereich (Plus+), hier läuft zum Beispiel Dignity (2019), eine eigen­produ­zierte Serie über die chilenische Colonia Dignidad.
 

Alle Rekorde gebrochen

Schardts weitere Ausführungen verdeutlichen jedoch, welche enorme Bedeutung im neuen Fernsehen bekannte Programmmarken haben. Während ein Anbieter wie Netflix dank vieler Dutzend hochwertiger Serien quasi sein eigener Leuchtturm ist, setzt eine Sendergruppe wie ProSiebenSat.1 auf etablierte Titel wie The Voice of Germany oder Galileo; bei Produktionen mit Joachim Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf genügt ohnehin das Etikett „Joko & Klaas“. Entscheidend, so Schardt, sei es, linear und digital erfolgreich zu sein; und zwar „unabhängig von der Zielgruppe“. Sie verweist auf The Masked Singer (Sommer 2019). Der einzige wahrhaftige Showknüller des Jahres 2019 hat bei ProSieben lauter Rekorde gebrochen. Gut 38 % Marktanteil im Finale, 50 % bei der finalen Enthüllung, durchschnittlich 7 Mio. TV-Zuschauer pro Folge, mehr als 26 Mio. Videoabrufe über alle Plattformen:

Das zeigt, dass Live-Fernsehen weiterhin eine unvergleichbare Kraft hat, Menschen zusammenzubringen und zu begeistern.“

 


Hallenberger geht ohnehin davon aus, dass das klassische lineare Fernsehen noch eine ganze Weile erhalten bleibt. Existenzgarantien seien zum Beispiel die Übertragungen von Sport­ereig­nissen: „weil die allermeisten Zuschauer solche Angebote live wahrnehmen wollen.“ Außer­dem gebe es ja nach wie vor einige Marken­artikel, die am nächsten Tag Gesprächs­thema seien, allen voran der Tatort als letztes Lager­feuer der Nation. Wettbewerbs- und Casting­shows seien eben­falls ein typisches Live-Programm, weil man sonst nicht an der Ab­stimmung teilnehmen könne. Es ist kein Zufall, dass diese Sen­dun­gen auch das Gros der jährlichen Top 50 ausmachen: Fuß­ball­spiele, Tatort, Shows. Abgesehen davon punkten die etablierten Sender mit Sen­dungen, die bei Kritikern verpönt, aber beim Publikum sehr beliebt sind. Hallen­berger nennt diese Sparte „For You“-Fernsehen:

Ratgebermagazine mit Gesichtern, die oft nur regional bekannt sind. Das ist eine Programmfarbe, die sich Netflix und Amazon nicht leisten können und wollen, weil ihr internationales Publikum dafür viel zu disparat ist.“

Das Gleiche gelte für Sendungen, die in irgendeiner Form „Heimat“ signalisieren, von Volksmusik- und Schlagershows bis zu Ausflugsreportagen. Das Fazit des Medienwissenschaftlers klingt nur auf den ersten Blick paradox: „‚Fernsehen‘ wird gleichzeitig immer globaler und immer lokaler.“