Das Porträt: Stephan Packard

Alexander Grau

Dr. Stephan Packard ist Professor für Kulturen und Theorien des Populären an der Universität zu Köln. Seine akademischen Wurzeln hat Packard in der Literaturwissenschaft, in der er auch promoviert wurde. 2015 erhielt der damals noch in Freiburg lehrende Medienkulturwissenschaftler den renommierten Heinz-Maier-Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Neben der psychosemiotischen Medienanalyse beschäftigte er sich in den letzten Jahren vor allem mit Phänomenen medialer Kontrolle, also mit Zensur, Propaganda, staatlicher und kommerzieller Überwachung und anderen Aspekten der strittigen Gestaltung von Kommunikation. Zudem ist Packard Vorsitzender der Gesellschaft für Comicforschung.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 2/2018 (Ausgabe 84), S. 70-73

Vollständiger Beitrag als:

Keine Kultur ohne Medien. Keine Medien ohne Kultur. Medien und Kultur, wie immer man diese beiden unscharfen Begriffe im Detail definieren mag, bedingen sich gegenseitig. Denn Medien sind nicht einfach nur neutrale Übermittler, die kulturelle Botschaften oder Inhalte transportieren. Und Kultur bezeichnet keine intelligiblen Inhalte, die losgelöst sind von der Art ihrer medialen Vermittlung. Medien schaffen Kultur und zugleich sind sie deren Produkt. Akademisch ausgedrückt: Kultur und Medien stehen in einem reziproken Verhältnis.

Das ist keine Neuigkeit. Umso erstaunlicher ist es, dass explizit medienkulturwissenschaftliche Ansätze im weiten Bereich medienwissenschaftlicher Forschung eher selten sind. Und wenn, dann verstecken sie sich hinter mediensoziologischen, kommunikations- oder bildwissenschaftlichen Untersuchungen. Zwar gibt es inzwischen zahlreiche medienkulturwissenschaftlich ausgerichtete Lehrstühle, eigenständige medienkulturwissenschaftliche Institute gibt es aber nur an den Universitäten in Freiburg, Köln und Düsseldorf.

Das Fach „Medienkulturwissenschaft“ ist ein Ergebnis des sogenannten Cultural Turns in den Geisteswissenschaften, also des zunehmenden Interesses an Inhalten und Strukturen der Alltags- und Populärkultur. Ausgehend von literaturwissenschaftlichen Fragestellungen weitete man das klassische philologische und hermeneutische Instrumentarium sowohl inhaltlich als auch methodisch. Im Zentrum des Interesses standen nun nicht mehr allein Werke der Hoch-, sondern auch der Unterhaltungs- und Gebrauchsliteratur, der Werbung, Comics, Fernsehen und andere den Alltag prägende Medienformate. Mithilfe vor allem strukturalistischer und semiotischer Methoden sollten so Medieninhalte als Teil unserer Alltagskultur und ihres Zeichencodes analysiert werden.

Auch Stephan Packards akademische Wurzeln liegen in den Literaturwissenschaften. „Ursprünglich“, erzählt er, „habe ich mit Mathematik angefangen, dann mit Neuerer deutscher Literatur, Anglistik und Philosophie. Im zweiten geisteswissenschaftlichen Semester bin ich schließlich bei der Komparatistik gelandet.“

Das war, wie Packard betont, durchaus eine Überzeugungstat, zugleich ergänzt er: „Ich mache wahnsinnig gerne, was ich mache. Wenn ich aber noch ein zweites Leben zur Verfügung hätte, würde ich Mathematik gerne noch einmal nachholen. Es hilft einfach bei bestimmten Fragen in der Literaturwissenschaft, wenn man überprüfen kann, ob man einen Begriff wirklich analytisch aufziehen kann oder nicht.“
 

Psychosemiotische Analyse des Comics

Bei diesem theoretischen Anspruch war es nur folgerichtig, dass Packard sich den Arbeiten von Roman Jakobson und Charles Sanders Peirce zuwandte, also einem der prominentesten Vertreter strukturalistischer Theorie und einem der bedeutendsten Begründer nicht nur der modernen Semiotik, sondern auch des philosophischen Pragmatismus.

„Sowohl die strukturalistische als auch die pragmatistische Semiotik ist ein ganz wichtiges Fundament meiner Arbeiten“, betont Packard.

In seiner Promotionsschrift, die unter dem Titel Anatomie des Comics 2006 beim Wallstein Verlag veröffentlicht wurde, entwarf er eine psychosemiotische Medienanalyse, indem er die formal strenge Ausarbeitung von Zeichenrelationen in der Tradition von Peirce mit der Psychosemiologie Jacques Lacans verband, der die Lehre Freuds um strukturalistische Theorieelemente erweiterte, um so das Unbewusste in der Sprache methodisch präziser fassen zu können.

Entsprechend grundlegend untersuchte Packard in seiner Arbeit unterschiedliche Formen des Comics und deren Wirkungsmechanismen. „Es ging mir damals um eine umfassende Theorie der Zeichenverwendung im Comic“, erläutert der Wissenschaftler, „also nicht um ausführliche Interpretationen einzelner Comics, sondern um jeweils kurze Illustrationen der Möglichkeiten, die dem Comic überhaupt zu Gebote stehen.“

Die semiotische Theorie von Peirce ermöglicht es laut Packard, jeden Zeichengebrauch zu erklären. Die psychologische Motivation der jeweiligen Zeichenverwendung sei mit diesem Ansatz allein jedoch nicht aufzudecken. Zu diesem Zweck griff Packard auf Lacans Begriff des Begehrens zurück: „Es ging darum, zu erklären, weshalb in einer speziellen Lektüreinterpretation eine bestimmte Zeichenverwendung gewählt wird, obwohl auch andere gewählt werden könnten.“ Auch auf einer wimmeligen Comicseite etwa falle der Blick zuerst auf offene Gesichter. Das sei keine große Überraschung, da menschliche Gehirne dafür gemacht seien, Gesichter zu privilegieren. Wenn man sich das jedoch bewusst mache, könne man so den semiotischen Aufbau einer Comicseite rekonstruieren.

Zudem hätten Comics auch eine stark historische Dimension, die er in seiner Dissertationsschrift allerdings nicht mitberücksichtigt habe. „Comics“, hebt Packard hervor, „sind immer Laboratorien gewesen. Also Orte, an denen sehr viel ausprobiert wird und das heißt auch: in denen gespiegelt wird, was in anderen Medien stattfindet. Das ist häufig eine appropriative Ästhetik, die nachmacht, was anderswo beobachtet wird.“
 

Historische Semiotik

Dieser historischen Perspektive widmete sich Packard nach seiner Dissertation 2004. In seinem ursprünglich als Habilitationsschrift geplanten Forschungsprojekt „Empfindsame Zeichen“ untersucht er die Verbindung von sentimentaler Kultur und Kunst im 18. Jahrhundert mit der zeitgleich aufblühenden Semiotik und deren Renaissancen. Ziel ist dabei, Ansätze zu einer systematischen Affektsemiologie zu gewinnen: „Es geht dabei darum, den Zusammenhang von Affekttheorien, vor allem im 18. Jahrhundert, mit der kontemporären Semiotik zu beschreiben und das gleichzeitig als Muster zu nehmen, um überhaupt die Historisierung von Semiotik zu rekonstruieren.“

Semiotische Theorien, so der Wissenschaftler, hätten häufig eine starke Nähe zur Mathematik. Sie seien somit ahistorisch. Dieses Interesse an einer ahistorischen Methodik sei aber seinerseits massiv historisch geprägt und kontextabhängig. „Und genau um diese historische Einbettung der jeweiligen Semiotiken geht es in dem Projekt“, so Packard.

2010 wurde Packard auf eine Juniorprofessur am damals neu gegründeten Institut für Medienkulturwissenschaft in Freiburg berufen – sein offizieller Wechsel von der Literatur- zur Kulturwissenschaft. „Die Themen, die ich ab diesem Moment bearbeitet habe, haben sich gar nicht drastisch geändert“, hebt Packard hervor. „Ich habe bereits zuvor zu Comics, Schrift und anderen medialen Formen gearbeitet. Das dann Medienwissenschaft zu nennen, ist durchaus folgerichtig.“

In diesem Zusammenhang steht auch Packards Interesse für die transmediale Narrations- und Fiktionsforschung:

Auch hier gilt mein Interesse wiederum der Historisierung vermeintlich überzeitlicher Begriffe, in diesem Fall des Transmedialen. Dass heute im Film und im Computerspiel nicht weniger erzählt wird als im Roman, verweist nicht einfach auf eine grundsätzliche menschliche Erzählfreude, sondern auch auf Besonderheiten dieses Heute.“

Dazu gehöre auch die Frage nach der aktuellen Neuerfindung des Virtuellen als kulturelles Konzept, das das Verständnis und den Gebrauch höchst unterschiedlicher Medien bestimmt – vom Comic bis zur Virtual Reality.
 

Mediale Kontrolle, Zensur, Überwachung

Mediengebrauch, Mediennutzung, das Zur-Verfügung-Stellen von Medieninhalten und das Bereitstellen von Plattformen, die geeignet sind, Inhalte zu veröffentlichen – das alles hat auch mit Macht zu tun. Macht jedoch wird im Medienbereich durch die Überwachung von Medieninhalten ausgeübt, die bewusste Steuerung von Information, etwa in Form von Werbung oder Propaganda, oder die direkte Intervention, etwa durch Zensur.

„Macht funktioniert nur dort“, so der Medienwissenschaftler, „wo im Prinzip vorstellbar ist, dass jemand der Macht nicht folgt. Eine grundlegende Form der Machtausübung ist daher die Überwachung, bei der der Überwachte mitarbeitet. In heutigen Überwachungssituationen weiß der Überwachte eigentlich, dass er ständig beobachtet wird, er führt aber wieder und immer wieder Suspensionen in diese Überzeugung ein. Wir tun immer wieder so, als wären wir es unter bestimmten Umständen nicht.“

Die moderne digitale Überwachung unterscheide sich daher substanziell von der althergebrachten analogen Form. In den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts habe die Menge an Informationen die Überwacher überfordert. Die Überwachung sei ineffizient gewesen, da sie versucht habe, zu viele Informationen zu verwalten. „Dieses Problem haben wir nicht mehr. Wir können die gesammelten Daten beliebig genau auswerten. Wir müssen uns nicht mehr entscheiden, ob wir wissen wollen, ob Menschen tendenziell eine bestimmte Nachricht glauben oder ob ein Einzelner eine bestimmte Nachricht glaubt.“

Unbekannt sei gegenwärtig, so Packard, ob es dieser Sachverhalt auch ermögliche, das Verhalten von Menschen gezielt zu steuern. Die gegenwärtige Diskussion um Cambridge Analytica mache das deutlich. Da sei einerseits der Albtraum, man könne eine Bevölkerung steuern hinsichtlich dessen, was sie glaube und wie sie handle. Andererseits sei damit auch immer eine Utopie verbunden, das Versprechen, dass es irgendwo eine Schaltzentrale gebe, dass eine Gesellschaft tatsächlich steuerbar sei. Jede Verschwörungstheorie arbeite somit auch immer mit der Vision, Gesellschaften seien tatsächlich zu lenken. Letztlich seien Verschwörungstheorien eine Art von Kontingenzverweigerung.

Hinzu komme, dass Manipulationen heutzutage sehr viel subtiler funktionierten, als wir uns das traditionellerweise vorstellten und es in unserer Kultur als Bild verankert sei. Packard erläutert:

Im klassischen Science-Fiction-Roman stellen wir uns eine Person vor, die in einen Apparat geschnallt und einer psychischen Manipulation ausgesetzt wird. Die Verfahren, mit denen wir es jetzt zu tun haben, denken Individuum und Kollektiv zusammen. Für die Manipulation eines Wahlausgangs ist es gar nicht notwendig, einzelne Individuen komplett umzudrehen, es reicht eben aus, die 2 bis 3 % der Unentschiedenen zu beeinflussen.“

Diesen Effekt erreiche man, indem man Informationen in einem Netzwerk so breit streue, dass kollektiv kommunikative Erfahrungen gemacht würden, die gewisse Ansichten verstärken – am besten durch kontroverse Erfahrungen, also das Erleben von Uneinigkeit.

Wichtig seien hierbei nicht mehr die alten wenigen ausgewählten Gatekeeper, sondern vernetzte Influencer und Multiplikatoren, Rollen also, die jeder abwechselnd für jeden anderen spielen könne: symmetrische Netzwerkverhältnisse anstelle der alten asymmetrisch verteilten Positionen. Über diese Multiplikatoren würden Grenzziehungen und affektive Haltungen gestreut.

„Wir wissen“, erläutert der Medienwissenschaftler, „dass es in dieser Hinsicht im amerikanischen Wahlkampf konzertierte Aktionen von PR- bzw. Propagandastrategien gab, die mit gesammelten Social-Network-Daten arbeiteten. Solche Versuche gab es im Prinzip schon zwei Wahlperioden vorher. Neu war im letzten Wahlkampf allerdings, dass diese Verfahren konzentriert im Verborgenen abgelaufen sind.“ Das Problem sei somit weniger, dass Fake News verbreitet würden, sondern dass die Akteure nicht offen zutage träten.

Möglichkeiten, Falschmeldungen oder Verschwörungstheorien entgegenzutreten – etwa indem man entsprechende Videos mit Wikipedia-Einträgen verbinde, wie das kürzlich von YouTube-Chefin Susan Wojcicki vorgeschlagen wurde –, sieht Packard skeptisch: 

Wir haben es mit Netzwerkeffekten zu tun. Das alles ist theoretisch zwar noch gar nicht erfasst, es ist allerdings zu vermuten, dass in dem Moment, in dem Verschwörungstheorien im Umlauf sind, die Einblendung von verlässlichen Datenquellen eher dazu führt, dass auch diesen Quellen gegenüber Misstrauen aufgebaut wird.“

Zudem würden solche technischen Lösungsversuche nicht die psychologische Motivation der Nutzer berücksichtigen. Ein wesentlicher Aspekt sei auch hier die Kontingenzbewältigung. Es gebe einfach eine ungeheure Menge an Informationen, die man als verantwortungsbewusster Bürger und Wähler mit in Betracht ziehen sollte. Das würde die Menschen überfordern. In dem Moment aber, in dem man 90 % der Quellen nicht glaube oder nur noch eine Kontroverse als wirklich wahlentscheidend ansehe, habe man die Möglichkeit, die Informationen zu reduzieren, die man verarbeiten muss. Man müsse daher davon ausgehen, dass Aufklärungsangebote, wie von Wojcicki vorgeschlagen, das Bedürfnis vieler Nutzer nach Einfachheit ignorierten.

„Nehmen Sie die letzte US-Wahl: Über Donald Trump Bescheid zu wissen, war einfach, es war leicht, sich ihn zu merken, es war leicht, sich zu merken, was er gesagt hat. Es war sehr viel aufwendiger, dasjenige zu diskutieren, was seine republikanischen Kontrahenten und später seine demokratische Kontrahentin gesagt haben.“

An dieser Stelle, so Packard, bräuchten wir eine Kulturtechnik, die es sowohl Individuen als auch Plattformen leichter mache, Informationsfluten zu verwalten. Hinzu kommen müsse das Delegieren von Vertrauen:

Wir sollten dahin kommen, dass man bestimmte Quellen deshalb für vertrauenswürdig hält, weil jemand, dem man in einem bestimmten Bereich dieses Urteil eher zutraut, diese Quelle benennen kann und empfiehlt. Wir brauchen eine Ethik der Kuration in sozialen Netzwerken.“
 

Der Zerfall der Öffentlichkeit

Zugleich betont Stephan Packard, dass wir uns einen ganz neuen Begriff von Öffentlichkeit aneignen müssen: „Im Grunde“, erklärt er, „haben wir uns schon immer wissentlich darüber getäuscht, was Öffentlichkeit macht und wie sie funktioniert. Es wurde beispielsweise früher so getan, als wüssten alle, was in der Zeitung steht, obwohl nie eine Mehrheit in Deutschland Zeitung gelesen hat. Neu an der aktuellen Situation ist, dass wir nicht einmal mehr das Phantom einer gemeinsamen Öffentlichkeit haben.“

Die gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen, die in den letzten Jahren spürbar geworden seien, seien auch das Ergebnis der Einsicht, dass wir uns lange Zeit etwas vorgemacht hätten, dass es die Öffentlichkeit nicht gebe, sondern Öffentlichkeiten. „Wir müssen lernen, diese Öffentlichkeit bzw. diese Öffentlichkeiten nicht als einen hellen Bühnenraum vor einem dunklen Publikum zu denken – oder als verschiedene helle Räume –, sondern als Netzwerke, als Transformationen, die zwischen allen einzelnen Akteuren, zwischen Bühne und Zuschauerraum ausgehandelt werden.“

Man könne heute nicht mehr voraussetzen, dass ein anderer, dass ein Mitbürger an irgendeiner Teilöffentlichkeit mitpartizipiere, an der man selbst teilhabe. Das sei in Wirklichkeit auch schon früher so gewesen. Was uns nun aber fehle, sei die erfolgreiche Konstruktion der Illusion einer umfassenden, alle integrierenden Öffentlichkeit.

Und Packard geht mit seiner Diagnose noch weiter. Denn die Gesellschaft zerfalle nicht nur in Meinungsmilieus, die sich sprachlos gegenüberstünden. Auch innerhalb dieser Milieus herrsche Dissens:

Was wir jetzt vorfinden, ist eine große Uneinigkeit auch unter den Leuten, die meinen, einer Meinung zu sein. Wir haben nicht mal mehr plurale Teilöffentlichkeiten, sondern das, was der Soziologe Dirk Baecker ein Zeitalter von Possen nennt, in denen man jeweils für eine bestimmte Aktion Mitakteure finden muss, die aber nur für diese Aktion mitmachen, nicht aber auf Dauer zusammenfinden.“

Es ist das Thema, das unsere Gesellschaft, unsere Demokratie auch in Zukunft prägen wird: „Ein Teil der Forschung, zu der ich momentan arbeite“, resümiert Packard, „betrifft daher die Frage, wie viele Arten von Faktualität es eigentlich gibt und wie unterschiedlich Wahrheitsansprüche, wenn sie eingefordert werden, gestaltet sein können.“

Dr. Stephan Packard ist Professor für Kulturen und Theorien des Populären an der Universität zu Köln.

Dr. Alexander Grau ist freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.