Der beste Film aller Zeiten

Persönlicher Mediengeschmack

Selina Flechsig, Clemens Schwender

Herrlich oder furchtbar, hübsch oder hässlich, gefällt oder gefällt nicht, gut oder schlecht, cool oder langweilig.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 2/2021 (Ausgabe 96), S. 35-37

Vollständiger Beitrag als:

 

Wahrnehmungen werden ästhetisch bewertet

Ursprünglich dienten das Aussehen, der Geruch und der Geschmack von Lebensmitteln dazu, den Reifegrad oder deren Gefahrenpotenzial einzuschätzen. Das ästhetische Urteil ist damit ein Instrument der Vorhersage, wie einem die Nahrung bekommen wird. Der Geschmackssinn ist am intensivsten mit dem Gedächtnis verbunden.

Entscheidungen über ästhetische Werte kultureller Produkte sind der Selbstbeobachtung nicht zugänglich. Es fällt den Menschen häufig schwer, zu sagen, warum sie einen bestimmten Film gut finden. Ästhetische Erfahrungen sind spontan, intuitiv und erzeugen ein Gefühl, das sehr stark sein kann. Es braucht offenbar kein Bewusstsein für Prinzipien, Ursachen, Nützlichkeit oder Funktionalität, um ein Urteil zu fällen. Jede bzw. jeder hat einen Lieblingsfilm, der tief bewegt. Obgleich die Frage nach der Präferenz höchst subjektiv ist, gibt es ein paar Erkenntnisse über die Zusammenhänge der Vorlieben.

Filme ermöglichen es, soziale Erfahrungen mitzuerleben, ihnen Bedeutung zu verleihen sowie Meinungen und Standpunkte zu entwickeln und sich darüber auszutauschen. Die ästhetische Bewertung eines Films kann auf verschiedenen Kriterien basieren, die auch Themen für Diskurse sind: Schauspielerinnen und Schauspieler, Handlung, Musik, Spannung. Indem wir ästhetische Urteile fällen und diese kommunizieren, positionieren wir uns.
 

Geteilte Wahrnehmung

Wenn unsere Vorfahren auf Nahrungssuche gemeinsam umherstreiften, war die Kommunikation über die Einschätzungen der Umwelt wichtig. Bot eine Landschaft Schutz, Beute, gab es womöglich Gefahren? Man konnte Bewertungen abgleichen und gemeinsame Ziele bestimmen. Und aktuell: Unsere Kommunikationspartnerinnen und -partner erfahren nicht nur etwas über die Art und Weise, wie wir einen Film wahrnehmen, sondern auch darüber, wie wir die Welt sehen. Denn die Inhalte werden bewertet und damit die moralischen Statements, die in einer Erzählung eingenommen werden. Die Zusammenarbeit mit anderen ist einfacher, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ähnliche Sichtweisen haben und Einschätzungen teilen. Dies ist eine Funktion von Debatten über Kunst. Es geht darum, die eigene Position innerhalb eines kommunikativen Rahmens zu etablieren und die Positionen der anderen Teilnehmenden kennenzulernen. Indem sich Individuen einer Position zuordnen, bilden sie Gemeinsamkeiten. Dies unterstützt kooperatives Verhalten. Trotz eines hohen funktionalen Wertes einiger Produkte – dazu zählen Autos, Möbel und Kleidung – ist die Grundlage für die Entscheidung ästhetisch. Hierbei geht es um den Versuch, die Wirkung auf andere zu steuern. Mit der Auswahl der Gegenstände, die der Selbstdarstellung dienen, können intendierte Eindrücke gelenkt werden. Die Thematisierung von Schönheit und Hässlichkeit ist universell. Viele Aktivitäten wie die Ausstattung von Heim und Arbeitsplatz, von Kleidung und Frisur, von Freizeitgestaltung und Urlaub, von Lesen oder akustisch-visueller Medienrezeption werden durch ästhetische Kategorien vorgenommen.

Das Urteil über den ästhetischen Wert einer Sache ist der Introspektion nicht zugänglich. Es scheint nicht notwendig aus einem Wissen über Prinzipien, Proportionen, Ursachen noch der Nützlichkeit oder Funktion zu entspringen. Das Urteil fällt schnell und leicht. Das ästhetische Erlebnis ist affektiv, d. h. spontan, intuitiv, es produziert Gefühle, die sehr stark sein können. Dies schließt die Kenntnis von historischen und stilistischen Einordnungen nicht aus, scheint aber auch nicht unbedingt nötig zu sein. Emotionen entstammen sehr alten Informationsverarbeitungen im Gehirn. Ein Bewusstsein darüber kann zeitaufwendig und damit kontraproduktiv für adäquates Reagieren in unbekannten Situationen sein.
 


Das Urteil fällt schnell und leicht. Das ästhetische Erlebnis ist affektiv, d. h. spontan, intuitiv, es produziert Gefühle, die sehr stark sein können.



Das ästhetische Gefühl hat eine große Bedeutung für die Einschätzung der Wahrnehmung. Diese Gefühle sind nicht allumfassend festgelegt. Bei der Betrachtung von Landschaften können die Interpretationen jahreszeitlich, wetterabhängig oder unter unterschiedlichen Bedürfnissen und Stimmungen jeweils anders vorgenommen werden. Die wahrnehmende Person spielt, da unterschiedliche Interessen unterschiedliche Interpretationen hervorrufen, eine Rolle. Merkmale wie Alter und Geschlecht scheinen einen Einfluss zu haben. Pierre Bourdieu (1982) sieht in der Wahl der Musik ein Mittel zur Herstellung von sozialer Distinktion. Mit der Vorliebe für klassische Musik kann man sich von weniger gebildeten Klassen abgrenzen. Doch individuelle Vorlieben lassen sich damit nicht erklären.
 

Der beste Film aller Zeiten

Bei einer Untersuchung von Hoffmann und Schwender (2007) wurde eine Frage nach dem Lieblingsfilm gestellt. Die Befragten wurden gebeten, den für sie persönlich besten Film aller Zeiten zu nennen. Analysiert wurde ein repräsentatives Sample von Menschen über 50 Jahren. Hierbei ergaben sich spezifische Antworten. Ältere Frauen mögen – im Vergleich zu älteren Männern – eher Liebesfilme, Dramen, Musicals und Heimatfilme. Männer dagegen präferieren Science-Fiction, Action und Western. Für Frauen geht es um soziale Beziehungen, bei Männern eher um Konkurrenz und Hierarchie. Die Themen sind geschlechtsspezifisch. Ob dies durch Sozialisation oder durch angeborene Mechanismen zustande kommt, lässt sich hier nicht beurteilen. Die Unterschiede aber sind auffällig.

Kombiniert man präferierte Filmgenres, Alter und Geschlecht, ist eine Entwicklung zu erkennen. Frauen verstärken mit zunehmendem Alter ihre Vorlieben für weibliche Themen, Männer nennen männlich dominierte Genres zunehmend weniger. Es kommt im höheren Lebensalter zu einer Annäherung der Geschmackspräferenzen zur weiblichen Seite hin.

Jeder Film spielt in einer mehr oder minder gut bestimmbaren Zeit: Western etwa gehören in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Bezieht man das Alter der Befragten auf diese Zeitkomponente, ergibt sich, dass ältere Menschen mehr Interesse an Filmen haben, die – wie Das Boot oder Der Untergang – in der Zeit des Zweiten Weltkrieges spielen. Sie finden an Gegenwartsfilmen erkennbar weniger Gefallen. Science-Fiction wird von den über 70-jährigen Befragungsteilnehmerinnen und -teilnehmern gar nicht mehr angeführt. Lieblingsfilme scheinen eine biografische Kompetenz zu reflektieren. Die Erfahrungen der Kohorten gehen in die Auswahl des favorisierten Filmstoffes ein.

Wenn man das Erscheinungsjahr des Lieblingsfilms mit dem Alter der Befragten in Verbindung bringt, ergeben sich Indizien für den Zeitpunkt, wann der jeweilige Film als Lieblingsfilm identifiziert wurde. Die späte Adoleszenz und das frühe Erwachsenenalter sind entscheidend. In dieser Lebensphase scheint sich die ästhetische Identität zu bilden, um dann für den Rest des Lebens weitgehend stabil zu bleiben. Diese Zeit bildet zudem den Referenzpunkt für Nostalgie.
 


Die späte Adoleszenz und das frühe Erwachsenenalter sind entscheidend. Diese Zeit bildet zudem den Referenzpunkt für Nostalgie.


 

Film und Musik

Selina Flechsig hat diese Zusammenhänge in ihrer Abschlussarbeit 2020 verfolgt und weitere Korrelationen finden können. Sie fragte nicht nur nach dem Lieblingsfilm, sondern auch nach präferierter Musik. Im Durchschnitt liegen die Erscheinungsdaten nur ein Jahr auseinander, wobei jüngere Befragte eher Musik wählen, die up to date ist, und Filme, die sich im Kanon der anerkannt guten Filme etabliert haben. Ältere nehmen dafür auch manchmal Titel aus dem klassischen Musikrepertoire auf. Spannend sind die Bezüge zwischen Musik- und Film-Genres: Wer Western mag, findet auch Folk, zu dem auch Westernmusik zählt, gut. Wer Horrorfilme schaut, hört gerne Rock, zu dem Heavy Metal zuzurechnen ist. Wer Musikfilme mag, hat ein breiteres Spektrum und hört gerne Pop, Schlager und Beat, aber auch Jazz. Liebhaberinnen und Liebhaber von Komödien hören vermehrt Pop und Schlager, also eher leichtere Musikkost. Freunde von Actionfilmen fühlen sich bei Rockmusik wohl, nicht aber bei Jazz. Heimatfilme und Jazz passen ebenfalls nicht zusammen.

Filmpräferenzen lassen sich auch mit Persönlichkeitsmerkmalen zusammenbringen. Individuen mit neurotizistischen Persönlichkeitsstrukturen, also mit einer Veranlagung, empfindlich auf Anspannung zu reagieren und eher negative Affekte zu empfinden, haben eine Vorliebe für Liebesfilme und Komödien, während diese Menschen um Western und Thriller einen Bogen machen. Diejenigen, die sich als gewissenhaft beschreiben, sehen Heimatfilme gern, aber nichts, was sich dem Horror-Genre zurechnen lässt. Charaktereigenschaften bestimmen also den Filmgeschmack mit. Moralvorstellungen und Strategien, Probleme zu lösen, scheinen davon abhängig zu sein.

Geschmack ist zwar sehr individuell, aber auch nicht nur zufällig. Die Forschung rund um die Themen des Geschmacks und dessen Funktionen ist noch nicht abgeschlossen. Auf den Feldern der empirischen Ästhetik gibt es noch spannende Zusammenhänge zu entdecken.
 

Literatur:

Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982

Flechsig, S.: Zusammenhänge von Musik- und Filmgeschmack. Crossmediale Genrepräferenzen als Teil einer übergreifenden ästhetischen Identität. BA an der SRH Berlin School of Popular Arts. Fachbereich Medienmanagement. Berlin 2020

Hoffmann, D./Schwender, C.: Biographical functions of cinema and film preferences among older German adults: A representative quantitative survey. In: Communications 32, 4/2007, S. 473–491
 

Prof. Dr. Clemens Schwender ist Lehrbeauftragter für Medienanalyse und -geschichte an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.

Selina Flechsig ist Masterstudentin der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universilät der Künste Berlin.