Der transgressive Charakter der Pornografie

Philosophische und feministische Positionen

Nathan Schocher

Bielefeld 2021: transcript
Rezensent/-in: Marcus Stiglegger

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 77-78

Vollständiger Beitrag als:

Transgressiver Charakter der Pornografie

Die akademische Beschäftigung mit der Pornografie – also auch dem expliziten Hardcorefilm – bezeichnet man als „porn studies“. Pionierarbeit in diesem Bereich hat die amerikanische Filmwissenschaftlerin Linda Williams geleistet, die den Hardcorefilm als ein „body genre“ bezeichnet, also als ein Filmgenre, das primär über den menschlichen Körper erzählt (neben z. B. Horror und Melodram). Im deutschsprachigen Diskurs hat u. a. Gertrud Koch einen wichtigen Beitrag geliefert, doch konnten sich die „porn studies“ an deutschen Universitäten nie in größerem Umfang etablieren, denn die wissenschaftliche Beschäftigung mit Lust und Erregung widerspricht dem bürgerlichen Bildungsideal so sehr, dass sich nur enge Grenzen etablieren ließen, die diese Beschäftigung „gestatteten“: der philosophische Diskurs ohne allzu expliziten Bezug zum Material; und der queere Diskurs, der direkt aus der feministischen Pornografiekritik der 1980er-Jahre kommt und vor allem eine sogenannte alternative Pornografie thematisiert, die wiederum den Kontakt zu den Genrekonventionen meidet. Den Pornofilm als Genre mit eigener Ästhetik zu analysieren, trauen sich nur wenige. Beleuchtet wird lieber der queere Randbereich, der zum politischen Aktivismus taugt. Die vorliegende Dissertation Der transgressive Charakter der Pornografie. Philosophische und feministische Positionen führt bereits im Titel beide Konzepte zusammen und determiniert so ihr Ergebnis. Der Autor ist dabei bemüht, in den Grenzen des akademischen Diskurses zu bleiben, und scheut auffällig vor einer Beschäftigung mit dem eigentlichen Material zurück. Seine Ausführungen bleiben so allgemein und theoretisch, dass man das Buch lesen kann, ohne je einen Hardcorefilm gesehen zu haben. Positionen, die sich auf den „erregenden“ Charakter der Pornografie einlassen (Svenja Flaßpöhler, S. 87 f.), werden tendenziell als „reduktionistisch“ kritisiert, während misandrische und polemische Ansätze wie Andrea Dworkin bei Schocher eher neutral und unkritisch eingebracht werden. Der Autor erkundet vor allem die Möglichkeit einer die konventionellen Machtstrukturen überwindenden pornografischen Utopie.

Es erstaunt zunächst, dass sich Schocher bereits im Titel des Konzepts der Transgression (Grenzüberschreitung) annimmt, doch es wird schnell deutlich, dass er gerade Georges Batailles Ansatz einer transgressiven Erotik nur selektiv einbringt, denn Bataille sah in der Überschreitung ja eine Zustimmung zum Leben „bis in den Tod hinein“, die letztlich ein spirituell-transzendentales Moment berge. Ich würde analog zu Flaßpöhler (2007) u. a. daher argumentieren, dass man Transgression und das Medium Film nur schwer zusammen denken kann, doch der Autor vermeidet diesen Kontext möglicherweise aus Scheu vor einer Kritik an seiner philosophischen Position – immerhin gilt Bataille vielen als dezidiert „unwissenschaftlich“. Der in diesem Buch favorisierte Transgressionsbegriff entspricht vielmehr der in der aktuellen Queer-Theorie verbreiteten Idee der Überschreitung im Sinne der Fluidität etablierter geschlechts- und Machtverhältnisse – verdichtet im Begriff der „Pornotopie (S. 196 ff.). Dieser Ansatz dient vor allem der Formulierung einer positiv gewendeten Variante der kritisierten Konventionen von Pornografie im Umgang mit Transsexualität oder etwa People of Color – eine konstruktive Reaktion auf die feministische Pornografiekritik. Der filmwissenschaftliche Genrediskurs bleibt bei Schocher fast völlig außen vor – etwa Linda Williams’ erstklassige Analyse des zumindest tendenziell transgressiven BDSM-Klassikers The Punishment of Anne (1975) von Radley Metzger in ihrem Buch Hard Core. Auch die sexpositiven Ansätze aus der Branche wie Ovidies Porno Manifesto (2004) bleiben unerwähnt. Im Zentrum stehen hier eher abstrakt „alternative Pornografien“ (S. 161 ff.), also Produktionen jenseits der etablierten Konventionen. Allerdings werden auch hier keinerlei konkrete Beispielanalysen oder überhaupt nur Filmverweise integriert.

So mag das Buch für den philosophischen und queeren Diskurs akzeptabel sein, aus filmwissenschaftlicher Sicht erscheint es übervorsichtig und konformistisch. Es verwundert daher auch nicht, dass auf über 200 Seiten keine konkreten Filmbeispiele erwähnt oder gar formal analysiert werden, denn alleine die konkrete Beschreibung oder Illustration pornografischer Handlungen hätte den akademischen „safe space“ infrage gestellt. Schade um die vergebene Chance, einen philosophischen Diskurs über Pornografie zu entfalten, ohne souverän am Material vorbeizurudern.

Prof. Dr. Marcus Stiglegger