Die Entgrenzung von Kindheit in der Mediengesellschaft

Kinder zwischen Talentförderung, Leistungsdruck und wirtschaftlichem Interesse

Astrid Ebner-Zarl

Wiesbaden 2021: Springer VS
Rezensent/-in: Tilmann P. Gangloff

Buchbesprechung

 

Online seit 06.04.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/die-entgrenzung-von-kindheit-in-der-mediengesellschaft-beitrag-772/

 

 

Entgrenzung von Kindheit

Der Begriff „Entgrenzung“ stammt aus der Arbeitssoziologie und wird in der Regel im Zusammenhang mit Erwerbstätigkeit verwendet: weil sich die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben zunehmend auflösen. Mit ihrer vortrefflichen Dissertation über die Entgrenzung von Kindheit in der Mediengesellschaft überträgt die Soziologin Astrid Ebner-Zarl das Modell auf eine Lebensphase, die gemeinhin gern als Zeit der Unschuld betrachtet wird; ein Ideal, mit dem Neil Postman bereits vor zwei Jahrzehnten mit seinem Klassiker Das Verschwinden der Kindheit (1982) gründlich aufgeräumt hat. Schuld war aus seiner Sicht das Fernsehen. Die Journalistin Marie Winn hatte das Medium bereits fünf Jahre zuvor in ihrem Bestseller Die Droge im Wohnzimmer als Wurzel allen kindlichen Übels identifiziert. Auf Postman bezieht sich Ebner-Zarl ausdrücklich, auch wenn ihre Beziehung zum Fernsehen als Mitglied einer völlig anderen Generation ungleich sachlicher ist.

Postmans Argument für das Verschwinden der Kindheit war die Feststellung, dass es keine Geheimnisse mehr gebe. Diese Entwicklung hat durch die digitalen Medien quasi exponentiell zugenommen: Kinder werden heute mit Informationen konfrontiert, vor denen Eltern sie gern beschützen würden. Im Zusammenhang mit dem Phänomen der generationellen Entgrenzung, in diesem Fall also dem quasi nahtlosen Übergang vom Kleinkindstatus in die Jugend, wäre eine kindgerechte Nachrichtensendung wie logo! (ZDF) im Grunde das naheliegendere Format, aber Ebner-Zarl, die an der Fachhochschule St. Pölten forscht und lehrt, widmet sich in ihrer Arbeit einem ganz anderen Bereich: Ihr Forschungsgegenstand sind die Castingshows The Voice Kids (Sat.1) und Kiddy Contest (ORF/Puls 4). Schon ein flüchtiger Eindruck lässt nachvollziehen, warum sie auf die Idee gekommen ist, ihre Untersuchung zur Gegenwartskindheit in der Mediengesellschaft anhand dieser Sendungen durchzuführen: Die Gesangsdarbietungen sind von einer verblüffenden Qualität. Das gilt auch für die sonstige „Performance“. Im Grunde erinnern allein die als Glücksbringer fungierenden Kuscheltiere und die Zahnspangen daran, dass es sich bei den Mitwirkenden – das Altersspektrum bei The Voice Kids reicht von 8 bis 15 Jahren – um Kinder und junge Jugendliche handelt.

Bevor sich Ebner-Zarl der konkreten Empirie zuwendet, gilt es selbstredend, die theoretische Basis der Forschung zu schaffen. In den meisten Dissertationen ist die Lektüre der entsprechenden Fleißarbeit mühsames Graubrot. Das ist hier gänzlich anders, zumal schon allein der Transfer des Begriffs „Entgrenzung“ in den Kontext von Kindheit interessant ist. Mitunter ist es beinahe aufregend, gemeinsam mit der Autorin Neuland zu betreten. Darüber hinaus sind die Fragen, denen die Soziologin im Theorieteil nachgeht, für alle spannend, die sich im weitesten Sinne mit diesem Themenbereich befassen: Welche Bilder von Kindheit werden in den Medien transportiert? Gibt es überhaupt noch spezifische Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen? Welche Rolle spielen Geschlechterstereotype? Eignet sich das Konzept der Entgrenzung überhaupt zur Beschreibung von Gegenwartskindheit? Zumindest hinsichtlich potenzieller Entgrenzungsprozesse liegt die Antwort angesichts des permanenten Internetkonsums spätestens ab dem „Tween“-Alter (also ab etwa 10 Jahren), in dem sich auch die Mitwirkenden der untersuchten Castingshows bewegen, auf der Hand. Dass sich Ebner-Zarl mit den jeweiligen Sozialisationstheorien und entwicklungspsychologischen Modellen befasst, versteht sich beinahe von selbst.

Nicht minder erkenntnisstiftend ist die Auseinandersetzung der Autorin mit dem Kindheitsbegriff, und das nicht nur, weil sich die verschiedenen Kindheitsbilder teilweise widersprechen. Kindheit als solche ist ohnehin eine Erfindung der Neuzeit, aber im Grunde müsste man von „Kindheiten“ sprechen: Die Unterschiede sind selbst innerhalb einer Generation viel zu groß, um alle Mitglieder über einen Kamm zu scheren. Kennzeichnende Merkmale der Gegenwartskindheit sind für Ebner-Zarl Mediatisierung, Sexualisierung, Kommerzialisierung und Leistungsdruck. Mehr als bloß eine Spitzfindigkeit ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob es sich „bei diesen wahrzunehmenden Trends und Tendenzen nun um Entgrenzung von Kindheit oder um ZeitgenossInnenschaft in sozialem Wandel“ handele (S. 352). Die erwähnten Merkmale finden sich natürlich auch in den Castingshows wieder, allerdings mit Ausnahme der Sexualisierung. Das war in diesem Programmgenre schon mal anders (Mini Playback-Show, RTL, 1990 – 1998). Und während die Wissenschaftlerin in der Einleitung gesteht, sie sei „sprachlos angesichts der hochprofessionellen Auftritte“ (S. VI) gewesen, stellt sie später fest, dass sich im Gegenzug die Coaches gern wie Kinder aufführten. Interessant ist auch ihre Erkenntnis hinsichtlich der Geschlechterstereotype: Die Jungs fachsimpelten über Styling, die Mädchen spielten Fußball.