Die Entstehung der Mediengesellschaft

100 Mediengeschichten aus dem 19. Jahrhundert

Wolf-Rüdiger Wagner

Bielefeld 2022: transcript
Rezensent/-in: Hans-Dieter Kübler

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 1/2023 (Ausgabe 103), S. 93-94

Vollständiger Beitrag als:

Die Entstehung der Mediengesellschaft

Die Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts, das in Europa und – hier – in Deutschland als das der „Entstehung der Mediengeschichte“ gilt, anhand von „100 ausgewählten Mediengeschichten“ zu illustrieren und zu exemplifizieren, ist nicht nur eine originelle, sondern auch eine arbeitsaufwendige Idee. Denn Wolf-Rüdiger Wagner, bekannter Medienpädagoge aus Niedersachsen, schöpft diese Mediengeschichten ausschließlich aus (digitalisierten) Originalquellen, die er ausgiebig zitiert und mit zeitgenössischen Abbildungen bereichert. Allerdings ignoriert er weitgehend analytische Befunde, die anderswo zusammengetragen wurden. Die meist kurzen Mosaiken rücken damit sehr eng an die jeweiligen Zeitläufte heran, aber ergeben kaum Zusammenhänge und Erklärungen.

Denn Wagner rekurriert auf einen (sehr) weiten Medienbegriff, der Apparate und Techniken der „Generierung, Dokumentierung, Bearbeitung, Distribution und Kommunikation von Wissen“ (S. 11) umfasst, also nicht nur Zeitungen und Zeitschriften, Druckerpresse und Linotype-Setzmaschine, Mikroskop, Fotografie, Telegrafie, Teleskop, Telefon, Filmkamera und Vorführapparat, sondern auch Geräte der Spektralanalyse, Sternenkarten, technische Zeichnungen, Messgeräte wie das Heliotrop, mechanische Musikinstrumente u. a. m. Die theoretische Referenz war nämlich auch seinerzeit ein sich veränderndes, ausdifferenzierendes Wissenschaftsverständnis, das sich der Exaktheit und Überprüfbarkeit, der (automatischen) Messung und Registrierung, dem Experiment, der Peergroup-Kontrolle, der transparenten Dokumentation und Publikation verpflichtet sah. Und dazu bedurfte es geeigneter Geräte, die die Entdeckungen und Erfindungen festhielten, vermittelten und speicherten. Letztlich ermöglichten sie die Erschließung und Aneignung einer weiteren Wirklichkeit, die Öffnung der Wahrnehmungen und Erfahrungen zunächst in den Wissenschaften, aber bald auch darüber hinaus in öffentlichen, populären Kreisen.

Die erste Mediengeschichte startet 1801 mit der Erfindung der „Volta’schen Säule“, einer elektrischen Batterie, die Alessandro Volta auf Einladung von Napoleon Bonaparte in Paris vorstellte. Mit ihr wird das „Zeitalter der Elektrizität“ eingeläutet, sie wird auch für militärische Zwecke interessant, denn mit der weiteren Erfindung von Galvanoplastiken wird die elektromagnetische Telegrafie möglich. Solch weitere Nutzungen oder auch Nutzungsverschiebungen finden sich viele in der Mediengeschichte, auf die in dem Band hingewiesen wird. Als letzte Mediengeschichte im Jahr 1900 wird wieder die Telegrafie angeführt, nunmehr die „drahtlose“, für die am 28. Februar die erste Station auf der Insel Borkum eröffnet wurde. Über sie sendete der Schnelldampfer „Kaiser Wilhelm der Große“ das erste Telegramm an den Norddeutschen Lloyd. Für den Seekrieg wurde die drahtlose Telegrafie von höchster Relevanz. Dennoch äußerte 1899 das „Neue Wiener Journal“ die Hoffnung, dass „die zukünftigen Kriege gerade durch die gesteigerte Furchtbarkeit der neuen Waffen einfach unmöglich gemacht werden würden“ (S. 353).

Doch die grundlegenden Umwälzungen blieben nicht ohne kritische Reaktionen, auch wenn der Reichspostminister 1891 zur Eröffnung des „Internationalen Elektroniker-Congresses“ den „Funken, den Volta’s erfinderischer Geist dem zögernden Metall entriss“, als „Lichtbogen“ lobte, der […] in das uferlose Meer der Zukunft – eine Leuchte der Wissenschaft – die Pfade weist“, wie Wagner im Schlusskapitel ausführt (S. 355). Denn andere Zeitgenossen kritisierten die Medien als „Taktgeber und Schrittmacher“ des heraufziehenden „Zeitalters der Nervosität“, in dem sich alles beschleunigt, Hast und Aufregung dominieren. Wieder andere setzten mit Darwins Evolutionslehre allerdings auf die Fähigkeit des Menschen bzw. seines Nervensystems, sich an diese Beschleunigungen anpassen zu können, und wehrten sich dagegen, „unsere Cultur wieder zurückzuschrauben“ (S. 359). Da kommt einem vieles bekannt vor, es lässt sich ohne Abstriche in gegenwärtige Debatten versetzen. Wagner kommt das Verdienst und die Anerkennung seiner Mühe zu, diese vielen Quellen und Originaldokumente ausgegraben und für eine solch mosaikartige Mediengeschichte aufbereitet zu haben. Sie braucht nicht am Stück gelesen zu werden, denn jede Episode steht im Grunde für sich. Um Querverbindungen und Zusammenhänge zu entdecken, wäre freilich ein detailliertes Sachregister hilfreich gewesen.

Prof. i. R. Dr. Hans-Dieter Kübler