Die Kunst, den Blick zu erneuern

Die Fotografin Diane Arbus und der Filmemacher Werner Herzog

Jürgen Dünnwald

Jürgen Dünnwald hat Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie Völkerkunde und Anglistik studiert. Er verfasst Drehbücher für Fernsehfilme und -serien, moderiert Museumsausstellungen und gibt Workshops für Kinder und Jugendliche.

Ein Blick auf das Besondere am Schaffen der Fotografin Diane Arbus und des Filmemachers Werner Herzog: „Als Sammler faszinierender Phänomene entwickelten beide ihre Vision von sozialer Diversität, die extreme Formen und Lebensentwürfe miteinschloss, Bilder von Subkulturen, Randexistenzen, Minderheiten, die bisher nur selten in den Blick genommen worden waren. Schon das war ein Tabubruch.“

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 1/2023 (Ausgabe 103), S. 50-53

Vollständiger Beitrag als:

Eine berühmte Schwarz-Weiß-Aufnahme der amerikanischen Fotografin Diane Arbus aus dem Jahr 1970 zeigt einen Mann, der auf seinem Hotelbett hockt und nur ein Handtuch lose um die Hüften und einen eleganten Herrenhut trägt. Der enge Bildausschnitt, das quadratische Format und das Blitzlicht, das Gesicht und Oberkörper an den der Kamera zugewandten Stellen aufhellt, betonen das Physische der Situation. Selbstzufrieden lächelnd, erwidert der Mann unseren neugierigen Blick, flirtet, ja, mit wem? Mit der aparten Fotografin, die Gott weiß was in dem Zimmer mit einem halb nackten Mann zu suchen hat, oder allen weiteren Betrachtenden, Voyeuren, Gaffern, die sich mit einigen irritierenden Widersprüchen konfrontiert sehen?

Lauro Morales, Künstlername Cha Cha, war Latino und kleinwüchsig. Mexican dwarf in his hotel room in N.Y.C. lautet der Titel des Porträtfotos. Arbus kannte Cha Cha schon seit Jahren von ihren Ausflügen in die kleinen Schaubuden auf Coney Island und in die Bars und Kabaretts rund um die 42. Straße. Cha Cha wusste mit der Aufmerksamkeit umzugehen, er war ein Bühnenprofi.

Doch das Foto ist voller ungelöster Rätsel, voller Ambivalenzen. Steht der Alkohol auf dem Nachttisch, weil Cha Cha in Partystimmung war und sich Sinatra und dem Rat Pack verwandt fühlte, oder ist er ein beunruhigendes Zeichen für eine Krise, eine fragwürdige Medizin gegen Kränkungen und den engen Rahmen seiner Existenz, der sich aus dem Foto auch herauslesen lässt.

Diane Arbus ist immer wieder kritisiert worden, sie stelle das Abnorme, das Außergewöhnliche ihrer Modelle in den Vordergrund, sie beute extreme Lebenssituationen oder Behinderungen für ihre provokativen Bildarrangements aus. Doch sie fotografierte nicht nur gesellschaftliche Außenseiter, sondern durchforstete die amerikanische Gesellschaft systematisch durch alle Schichten hindurch, fotografierte Reiche und Arme, Transvestiten, Nudisten, Zirkusartisten ebenso wie Liebespaare im Central Park oder Zuschauende am Rande einer Parade. Mit ihrer Hilfe schuf sie Metaphern für das Gefangensein des Menschen in der eigenen Geschichte, in der Peergroup, der Familie, den sozialen Rahmenbedingungen – und auch, aber nicht nur, im eigenen Körper. Doch zugleich entdeckte sie in ihrem Gegenüber immer wieder auch die Kraft des Träumens, der Utopie, eines selbst gewählten Ichs, noch im Scheitern.

Zwerge kommen im Märchen vor und sind Fabelwesen“,

kommentiert trocken der Schauspieler Peter Brownbill, der auch noch eine Agentur für kleinwüchsige Künstler:innen betreibt. Er selbst ist kleinwüchsig und wurde gebeten, nicht das Foto der Arbus, sondern einen Film von Werner Herzog aus demselben Jahr, 1970, zu begutachten. Auch Herzog nutzte die Erscheinung auffälliger oder sperriger Protagonist:innen für seinen sehr persönlichen Blick auf die Welt, auf Schmerz und Verlorenheit und immer wieder irre Hoffnung in der menschlichen Existenz. Schon der Titel Auch Zwerge haben klein angefangen verrät den provokativen Gestus, den die Groteske von einer Rebellion kleinwüchsiger Insassen einer ominösen Erziehungsanstalt konsequent beibehält.
 

Trailer Auch Zwerge haben klein angefangen (alleskino, 10.12.2013)



Anders als Cha Cha, der im Foto der Arbus den konventionellen Blick auf Menschen mit einem körperlichen Handicap erheblich sabotiert, indem er sich als selbstbewusster, viriler Mann – sein nackter Fuß ragt wie ein Ersatzpenis unter dem Handtuch hervor – präsentiert, agieren die Protagonisten bei Herzog aggressiv, geradezu bösartig, auch wenn ihre Attacken gegen den Status quo auf kafkaeske Weise ins Leere laufen. Wie das Foto vermeidet auch der Film jede Verniedlichung und Infantilisierung seiner Figuren, nutzt aber auch ihre körperliche Besonderheit als Schockeffekt, lässt uns ihr Anderssein beinahe schmerzhaft spüren, das einer erfolgreichen Revolution doch deutlich im Wege steht, wenn sie noch nicht einmal ein zu hohes Bett für einen Geschlechtsakt erklimmen können.

Zu Recht weist Brownbill auf die Professionalität der Darsteller hin, die eben auch alle gewiefte Performer und Artisten sind. Die Überzeichnung stört ihn nicht, immerhin werden Kleinwüchsige hier als Akteure sichtbar, was – zumindest damals – selten genug war; und ihre Rollen sind zwar verstörend, aber eben nicht stereotyp. Dagegen kritisiert Brownbill deutlich den Umgang mit den Tieren im Film, mit Schweinen, Affen und Kamelen, die zwar nicht ernsthaft verletzt, aber doch für die surreale Vision einer absurden Schreckensherrschaft in beängstigende Situationen gezwungen werden.

Brownbills durchaus überraschende Kommentare sind Teil der Ausstellung in der Stiftung Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, die das Lebenswerk von Werner Herzog zum 80. Geburtstag noch einmal im Überblick präsentiert. Und dabei auch die Kontroversen nicht auslässt, die seine Filme oft auslösten – Auch Zwerge haben klein angefangen war einer der ersten, aber beileibe nicht der letzte, für den sich Herzog herbe Kritik einholte. Immer wieder musste er sich gegen den Vorwurf der Ausbeutung wehren, etwa von indigenen Statisten in seinen Kolonialdramen mit Klaus Kinski oder von Laiendarstellern wie dem Berliner Straßenmusiker Bruno S., dessen eigene schwierige Kindheit und Lebenssituation eine passende Projektionsfläche für die historische Figur des ebenso versehrten Kaspar Hauser zu sein schien.

Die Ausstellung kann die Widersprüche in der Wahrnehmung der über 70 Filme nicht aufheben, versucht das auch gar nicht, sondern sammelt die unterschiedlichsten Stimmen – wie die von Peter Brownbill –, die das schillernde Werk des deutschen Filmemachers, der in den USA, seiner Wahlheimat seit über 20 Jahren, längst zur Ikone eines radikal anderen und unabhängigen Kinos erklärt wurde, noch komplexer und interessanter erscheinen lassen. Und beides, die filmische Subversion von damals, die mit den Definitionen des „anderen“ spielte und Konventionen zersetzte, und die neuen Perspektiven auf gesellschaftliche Zuschreibungen und selbstbestimmte Rollen, tritt umso plastischer hervor.

Diane Arbus, Tochter eines New Yorker Kaufhausbesitzers, beobachtete in ihrer Jugend, wenn sich die Kundinnen die neuesten Modekollektionen vorführen ließen, wie Identität sich zusammenfügt, Schicht um Schicht, in einem Spiel aus Sehnsucht, Entschlossenheit und Improvisation. Werner Herzog wiederum verbrachte – seit der Flucht vor den Bomben der Alliierten auf München – seine Kindheit in dem oberbayerischen Bergdorf Sachrang und erlebte, wie existenziell der Charakter der Natur die Mentalität ihrer Bewohner prägt, ihnen Freiheiten gewährt, Grenzen setzt und Entscheidungen abzwingt.
 


Bilder von Subkulturen, Randexistenzen, Minderheiten, die bisher nur selten in den Blick genommen worden waren. Schon das war ein Tabubruch.



Bei allen Unterschieden in der Herkunft und in der Arbeitsweise gehörten die Fotografin und der Filmemacher doch beide zu jenen Künstlergenerationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg das Bild des Menschen, sein Selbstverständnis, seine Vorstellungen vom Zusammenleben und vom individuellen Glück radikal neu verhandeln wollten. Beide erforschten neugierig die Möglichkeiten, aber auch die Fallstricke bei den unterschiedlichen Versuchen, sich neu zu erfinden; entdeckten und waren verzaubert von dem, wozu der Mensch fähig ist – von den Ritualen, dem Einfallsreichtum. Sie beschrieben aber auch, mit einer gewissen dunklen Romantik, die immer wieder die Vergangenheit heraufbeschwor, die Irrtümer, den Selbstbetrug, die Einsamkeit und die überall spürbare Anstrengung, sich nicht zu verlieren.

Als Sammler faszinierender Phänomene entwickelten beide ihre Vision von sozialer Diversität, die extreme Formen und Lebensentwürfe miteinschloss, Bilder von Subkulturen, Randexistenzen, Minderheiten, die bisher nur selten in den Blick genommen worden waren. Schon das war ein Tabubruch. Das Wesentliche und Bahnbrechende in beiden Werken aber war, dass sie beim Blick auf das Fremde das Vertraute, das Eigene entdeckten; das Exotische wurde als Spiegelung offenbar.

Die „Freaks“ der Arbus: der am ganzen Körper tätowierte Mann, entspannt im Gras liegend; die reiche alte Dame, die sich den Formen ihres teuren Mobiliars angleicht; das verkrampfte Kind mit der Spielzeug-Handgranate – das waren wir. Ähnliches gilt für die Getriebenen bei Herzog, bewundernswert und erschreckend in ihrem unerschütterlichen Drang nach Erfüllung, auf ihrer Suche nach dem Gral, die oft nur – ganz Romantiker – im Aufgehen und Verschmelzen mit der Natur enden kann: für den Taubblinden in der liebevollen Berührung mit einem Baum; für den Konquistador auf einem dahintreibenden Floß auf dem Amazonas; für die unerschrockenen Naturforscher im endgültigen Verschwinden in den tödlichen Nebelschwaden eines Vulkans – das Irrationale, Unheimliche, Lebensgierige wie Selbstzerstörerische im menschlichen Verhalten, das Herzog immer wieder angezogen hat, betrifft nicht nur Einzelgänger und Irrlichter, es beschreibt, in all ihren Facetten, die ganze Spezies.
 


Das brachiale Spiel mit den Vorurteilen führte die Behauptung einer undefinierbaren „Normalität“ ad absurdum und sprengte den Weg frei für neue Entwürfe einer offenen, diversen Gesellschaft.



Der amerikanische Filmpublizist Amos Vogel verortete 1974 in seiner berühmten Underground-Bibel Film as a Subversive Art (Kino wider die Tabu  [1979]) Herzogs frühe Filme als eine Art Cinema of Transgression, als Beispiele einer schockierenden Grenzüberschreitung, in einer rebellischen Gegenkultur und Avantgarde. Ganz sicher brachen die Filmbilder der sinnlos tobenden kleinwüchsigen Revoluzzer mit konventionellen Sehgewohnheiten.

Wie das vieldeutige Porträt von Cha Cha stellte Auch Zwerge haben klein angefangen auf perfide Art mediale Klischees bloß. Kein Schneewittchen für diese Terroristen. Das brachiale Spiel mit den Vorurteilen führte die Behauptung einer undefinierbaren „Normalität“ ad absurdum und sprengte den Weg frei für neue Entwürfe einer offenen, diversen Gesellschaft. Mit dem Unbehagen gerieten die Dinge ins Rutschen, endlich.