Die Regulierung der Wundertüten
Handyspiele wirken unscheinbar und flüchtig. Sie werden auf mobilen, fast beliebig austauschbaren Touchscreen-Geräten gespielt. Sie passen in jede kurze Wartezeit.
Im Vergleich dazu veranstalten Gaming-PCs und Spielekonsolen ein teures Spektakel. Auf dem Luxusmarkt wurde noch vor Kurzem die PlayStation 5 Pro für 800,00 Euro angekündigt. Damit Spielende die feinen Grafikdetails auch erkennen können, brauchen sie einen großen Bildschirm mit 4K-Auflösung. Ein neues Spiel auf der PlayStation 5 (oder dem Konkurrenzmodell Xbox Series X) kostet ebenfalls viel Geld – normalerweise 70,00 Euro. Auf dem Handy dagegen sind Spiele praktisch immer gratis. So klingt es zumindest; sie sind „Free to Play“.
Viel Geld für Gratisspiele
Die Pointe: Nicht teure Spiele und Konsolen machen den Großteil des Profits, sondern sogenannte In-App-Käufe. Zahlreiche Spiele bieten Zusatzinhalte gegen Geld an. Verkauft werden Kostüme, Charaktere, Spielhilfen in Form von Ausrüstung oder Spielgeld – und sehr häufig gemischte Pakete, in denen verschiedene Boni und Extras zusammenkommen.
„Von 100 €, die 2023 hierzulande für Spiele-Software ausgegeben wurden, entfallen 71 € auf virtuelle Gegenstände, Saison-Pässe und Spielwährung“, erklärte die Fachjournalistin und Branchenexpertin Petra Fröhlich vor ein paar Monaten auf ihrem Portal GamesWirtschaft (Fröhlich 2024). In-App-Käufe stecken nicht nur in Free-to-Play-, sondern auch in vielen Vollpreis-Titeln. Viele große Firmen in der Branche entwickeln sogenannte Live-Service-Spiele. Sie werden über Jahre hinweg zu Onlinetreffpunkten und können deswegen auch lange monetarisiert werden.
Auch auf dem Handy spielen Live-Service-Spiele eine Hauptrolle, und sie werden fast immer „Free to Play“ (F2P) angeboten. Auf mobilen Märkten ist F2P alternativlos geworden; der Marktanteil aller anders finanzierten Spiele lag im letzten Jahr zusammengenommen bei 0,2 %. Auf PC und Spielkonsolen ist die Lage komplexer; klassische Spiele zum Vollpreis bleiben wichtig, aber Abo-Modelle, dauerhaft betriebene Onlinespiele und F2P sind es auch.
Das klingt nach einem dynamischen, gut funktionierenden Markt. Doch gerade der F2P-Bereich wird von Dauerbrennern dominiert, die nur vereinzelt neue Titel in ihren exklusiven Klub lassen. Spiele wie Fortnite, Roblox, und Candy Crush Saga werden zu kulturellen Phänomenen. Wer in diesen exklusiven Klub will, der braucht Glück – und ein großes Marketingbudget. Auch in der Games-Branche sorgt das für Verstimmungen. Für kleinere Studios sei der Markt praktisch verschlossen, erklärt Entwickler und Brancheninsider Adriaan de Jongh1: Auf dem Handyspielemarkt sei es „geradezu unmöglich“, sich durchzusetzen. Apple und Google hätten „im Grunde aufgegeben“, hochwertige Titel in Eigenregie prominent zu platzieren.
F2P-Spiele werden in der Branche durchaus kritisch gesehen, aber differenziert. Am grundsätzlichen Geschäftsmodell hat de Jongh nichts auszusetzen. Es sei großartig, wenn Menschen „etwas ausprobieren können, bevor sie es kaufen“. Viele Titel im F2P-Bereich seien zudem „nicht ausbeuterisch“. Einen wesentlichen Nachteil von F2P sieht de Jongh allerdings in der Erwartungshaltung, die solche Spiele bei ihrem Publikum wecken. Die Spielenden wollten „immer mehr und mehr umsonst“, definitiv sei eine „Abwärtsspirale“ in der Branche zu beobachten.
Für Jan Willem Nijman, Co-Gründer des renommierten Spielestudios Vlambeer, ist die Frage nach den Prioritäten entscheidend:
Wenn der Gewinn und nicht die Qualität des Spiels im Vordergrund steht, schadet das immer dem Kern des Spiels.“
Einige der schlimmsten Titel im F2P-Spektrum würden zudem mit einer „fragwürdigen Ethik und mit Dark Patterns“ hantieren, mit denen sogenannten „Walen“ Geld aus der Tasche gezogen würde – als „Wale“ werden in der Branche Menschen bezeichnet, die übermäßig viel Geld in F2P-Spielen ausgeben. Doch auch Nijman verteidigt das Geschäftsmodell. Kostenlose Spiele, die sich über eingeblendete Werbung finanzieren, nimmt er explizit von der Kritik aus. Solche Titel verändern eben nicht ihr Design im Dienste der Profitmaximierung. Allerdings spielen sie wirtschaftlich auch keine große Rolle. Wenn über F2P geredet wird, dann sind solche Titel oft nicht gemeint. Die Ethik-Diskussion dreht sich um die Evergreens großer Studios.
Unerhörte Kritik
Starke Abwehrreaktionen auf F2P gibt es nach wie vor bei dem Teil des Publikums, der sich an eine Zeit vor dem Durchbruch des Geschäftsmodells erinnert. Genervt bis feindselig ist die Haltung vieler Fachjournalistinnen und ‑journalisten; in einem Redaktionsplenum der Zeitschrift „PC Games Hardware“ hagelte es Kritik an Spielen, die „niedere, unterbewusste Verhaltenssüchte“ mit „Glücksspiel-ähnlichen Systemen“ ausnutzten. „Unbegreiflich“ sei es, wie man in solche Spiele Geld stecken könne (Vötter 2022).
Allerdings bleibt diese Kritik häufig in der Gaming-Szene stecken. Auf dem Handymarkt tummeln sich dagegen Menschen, die keine Fachzeitschriften lesen oder Gaming-Foren frequentieren. Sie erleben den App-Markt als besonders zugänglich, müssen keine Konsole kaufen, können Tausende von Titeln einfach ausprobieren. Für kritische Besprechungen von Handyspielen gibt es auch deswegen kaum einen Markt. Noch im September 2024 hat mit TouchArcade eines der letzten Angebote nach rund 16 Jahren aufgegeben.
Auf Handy und Tablet spielen keine Gamer, sondern breite Bevölkerungsschichten vom Kind bis zu den Großeltern. Das weltweit führende Wimmelbildspiel June’s Journey vom Berliner Studio Wooga wird zu über 90 % von Frauen gespielt, die mehrheitlich über 55 Jahre alt sind. Die Zielgruppe lohnt sich; über 1 Mrd. Euro Umsatz hat der Titel seit 2017 gemacht. Die laufende Weiterentwicklung mit wöchentlichen Updates ist laut Wooga nur dank des F2P-Modells finanziell möglich.
Dunkle Muster
Was diese Spiele verkaufen, ist oft nicht leicht zu durchschauen. Das weiß auch Iren Schulz, die als Medienpädagogin u. a. mit der Initiative „Schau hin!“ Aufklärungsarbeit leistet: In den Spielen sei oft „sehr intransparent“, für was man wie viel bezahle. Schulz hat besonders die Wirkung auf Kinder und Jugendliche im Blick. Sie beobachtet, dass Gruppendruck oft schon im Design angelegt ist:
Grundsätzlich sind Spiele heute so gestaltet, dass man lange in dieser Welt verweilt – man entwickelt und trainiert eigene Figuren, es ist wichtig, am Ball zu bleiben, um mit anderen mithalten zu können oder gegen andere zu gewinnen.“
Außerdem sei das Spiel „im Prinzip nie zu Ende“. Anhaltende Anreize zum Mitmachen und Kaufen auf der einen Seite, unklare Erträge auf der anderen – so sei es für Minderjährige „schwierig, eine gute und kritische Distanz zu behalten“. Schulz weiß allerdings auch, dass hier nicht nur Kinder Probleme haben. „Vor allem müssen wir als Erwachsene selbst Vorbild sein und vernünftig mit Spielen umgehen“, mahnt sie an.
Wer unbedarft in aktuelle, populäre F2P-Spiele hineinschaut, der versteht schnell, welche Intransparenz Schulz bemängelt. Viele Titel werben mit laufend wechselnden, zeitlich befristeten Angeboten. Verkauft werden oft Waren mit unscharfem Wert. Im F2P-Hit Diablo Immortal etwa werden „Ewige Kugeln“ für echtes Geld verkauft. Die Kugeln können dann im Spiel gegen Embleme, Accessoires und Umschmiedesteine getauscht werden. Es ist aber auch möglich, die eigentliche Spielwährung „Platin“ mit „Ewigen Kugeln“ zu bezahlen. Die mehrschrittige Umrechnung von der Kugel zum gewünschten Inhalt kann kompliziert werden.
Auch an diesen Dark Patterns entzündet sich regelmäßig Kritik: wenn Studios in Kauf nehmen oder gar provozieren, dass Menschen beim Spiel nicht nur die Zeit, sondern auch das investierte Geld aus den Augen verlieren. Darauf spielt etwa Jan Willem Nijman mit seinem Kommentar über „Wale“ an. Es ist umstritten, welche Titel wie stark auf diese Zielgruppe eingehen. Doch praktisch jeder In-Game-Store bietet überraschend teure Artikel an, die nicht zum Bild vom kontrollierten Spielkonsum passen. Wer bei Diablo Immortal 12.000 „Ewige Kugeln“ auf einmal kauft, bezahlt 187,99 Euro. Der teuerste Posten bei June’s Journey schlägt aktuell (September 2024) mit 99,99 Euro zu Buche.
Besondere Kritik verdienen sich zudem In-Game-Stores mit eingebauter Losbude. Glücksspielmechanismen werden bei Spielen aus Japan und Südkorea meist als „Gacha“ bezeichnet, in Anspielung auf Kapsel-Automaten, die verschiedene Dinge nach dem Glücksprinzip verkaufen. In westlichen Märkten wird eher von Lootboxen gesprochen, also virtuellen Wundertüten mit unklaren, gemischten Belohnungen. Das Prinzip bei beiden ist dasselbe: Wer einen bestimmten Charakter oder Ausrüstungsgegenstand haben will, kann ihn nicht gezielt kaufen, sondern erhält virtuelle Tickets oder Truhen, in denen vielleicht die gesuchte Beute steckt, wahrscheinlich aber etwas anderes.
Im Wald der Regulierungen
Fast so komplex wie das Sortiment in den In-Game-Stores ist das Dickicht der Regulierungen, die auf verschiedenen Märkten erlassen wurden und werden. Deutschland, die EU, aber auch Aufsichtsbehörden und Gesetzgeber von Australien über China bis in die USA bestimmen auf dem globalen Markt mit, wie Spiele beworben und monetarisiert werden dürfen. Viele der relevanten Gesetze beziehen sich nicht nur auf F2P-Spiele, sondern auf Glücksspiel, digitale Märkte oder Dienste. Gleichzeitig gibt es keine allgemein akzeptierte, trennscharfe Definition von Begriffen wie „Lootbox“.
In diesem Dschungel kennt sich Isabel Davies von der britischen Kanzlei Wiggin aus, die zuvor auch bei Spielefirmen im F2P-Bereich gearbeitet hat. Die „Regulierung digitaler Inhalte und Dienstleistungen“ habe in den letzten Jahren „immer weiter zugenommen“, bestätigt sie (Davies 2023). Auch auf die EU werde Druck ausgeübt, stärker zu regulieren, sagt Davies und bezieht sich dabei auf das BEUC (Bureau Européen des Unions de Consommateurs); dieser Europäische Verbraucherverband hat im September 2024 eine Studie vorgelegt, die zahlreichen populären Titeln die Verschleierung tatsächlicher Kosten von In-App-Käufen vorwirft. Die Studie zitiert Konsumentinnen und Konsumenten, die sich über komplizierte und schwer verständliche Angebote beschweren. Eine Kernforderung des Verbandes ist deswegen die genaue Aufschlüsselung der Kosten nach Euro und Cent, eine andere die voreingestellte Deaktivierung von In-Game-Käufen. Das (erwachsene) Publikum soll sich bewusst entscheiden, ob es den Store einschaltet – oder nicht.
Umgesetzt sind diese Maßnahmen noch nicht, doch in den letzten Jahren ist bereits viel passiert. In der EU soll die Digitale Fairness – Eignungsprüfung des EU-Verbraucherrechts noch in diesem Jahr fertig werden und evaluieren, ob das Schutzniveau ausreicht (Europäische Kommission 2024). Und Initiativen verschiedener Länder bringen Bewegung in den Markt. „Mehrere Spielefirmen haben in den letzten Jahren Lootboxen aus ihren Spielen entfernt, hauptsächlich wegen der Glücksspielgesetze in Ländern wie Belgien und den Niederlanden“, ordnet Davies ein. Und die Bemühungen nähmen eher zu als ab:
Videospiele stehen mehr denn je im Fokus der Regulierungsbehörden“ (Davies 2023).
In Deutschland hat sich die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), zuständig für die USK-Alterskennzeichnungen bei Videospielen, vorgenommen, Lootboxen weiter im Blick zu behalten. Jetzt schon warnen Download-Stores und Spielepackungen, wenn der Inhalt „Druck zum Vielspielen“ macht oder „Erhöhte Kaufanreize“ bietet.
Davies kennt auch die umgekehrte Perspektive; sie berät Spielefirmen bei der Berücksichtigung der immer komplexeren Vorgaben. Und sie sieht eine Gefahr, „dass neue Gesetze zu streng“ würden und die sehr unterschiedlichen Einzelfälle nicht berücksichtigten. Im Frühjahr 2024 wurde etwa das Indie-Spiel Balatro aus einigen Spiele-Stores geworfen, weil das Europäische Alterseinstufungssystem PEGI es erst ab 18 Jahren freigab. Stein des Anstoßes war das frei interpretierte Poker-Thema des Spiels, bei dem diverse echte, aber auch unmögliche Poker-Blätter zusammengelegt werden. In Deutschland ist das Spiel wegen des eher losen Bezugs auf die Glücksspielthematik ab 12 Jahren freigegeben.
Für kleine Spielestudios kann so ein Ausschluss vom Markt in den Bankrott führen. Davies glaubt, dass unnötig strenge Gesetze „Innovationen hemmen“ und den EU-Markt „negativ beeinflussen“ könnten (ebd.).
Rettet die Wale
Doch auch in der Branche sehen immer noch viele einen Handlungsbedarf. „Ich bin sehr für Regulierung“, sagt etwa Adriaan de Jongh. Spiele mit Glücksspielelementen könnten ganze Leben ruinieren und müssten entsprechend behandelt werden. Man könne nicht darauf vertrauen, dass alle Firmen in der Branche sich selbst regulierten und das Richtige täten. „Dafür brauchen wir den Staat.“
Expertinnen wie Iren Schulz betonen den gesamtgesellschaftlichen Aspekt der Herausforderung durch digitale Medienangebote: „Anbieter, Politik und Familien“ müssten sie im Blick haben. Geltende Gesetze und Regulierungen müssten „so umgesetzt“ werden, „dass sie auch wirksam werden können“. Als eine „gute Weiterentwicklung“ lobt Schulz die USK-Alterskennzeichnungen mit erklärenden Hinweisen.
Guter Jugendschutz braucht allerdings auch mündige Eltern, die glücksspielähnliche Mechanismen erkennen und mit den Kindern einordnen können. Das erfordert Zeit und ein Problembewusstsein. In Deutschland sind derweil laut aktuellen Studiendaten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) rund 430.000 Menschen von einem problematischen Glücksspielverhalten oder einer Glücksspielsucht betroffen.
Anmerkung:
1 Die Zitate von Adriaan de Jongh, Jan Willem Nijman und Iren Schulz stammen aus Interviews, die der Autor für diesen Artikel mit den Personen geführt hat.
Literatur:
Davies, I.: The Regulation of Free to Play – Isabel Davies, Wiggin LLP. In: YouTube.com, 25.09.2023. Abrufbar unter: https://youtube.com
Europäische Kommission: Digitale Fairness – Eignungsprüfung des EU-Verbraucherrechts. In: Europa.eu, Stand: 21.09.2024. Abrufbar unter: https://ec.europa.eu
Fröhlich, P.: In-Game-Käufe: EU-Verbraucherverband reicht Beschwerde ein. In: GamesWirtschaft.de, 13.09.2024. Abrufbar unter: https://www.gameswirtschaft.de
Vötter, R.: Free2Play – Abzocke oder akzeptables Geschäftsmodell?. In: PC Games Hardware, 06.08.2022 (Onlineversion). Abrufbar unter: https://www.pcgameshardware.de
Weiterführende Literatur:
Long, N.: App Store discovery is dead – so what do indies do now? (Interview mit Adriaan de Jongh). In: mobilegamer.biz, 08.03.2023. Abrufbar unter: https://mobilegamer.biz