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Die Transformation von Film und Fernsehen in der Streaming-Ära

Eine Tagung in Bologna

Lothar Mikos

Auf einer internationalen Tagung in Bologna diskutierten über 100 Medienwissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftler die tiefgreifenden Veränderungen von Film und Fernsehen im Zeitalter des Streamings. Im Mittelpunkt standen Plattformen wie Netflix, aber auch lokale Anbieter. Der Bericht gibt Einblick in aktuelle Trends und Forschungsperspektiven.

Online seit 08.10.2025: Link

Anfang September 2025 trafen sich mehr als 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, vorwiegend aus Europa, um über die Veränderungen in der Film- und Fernsehlandschaft im Zeitalter des Streamings zu diskutieren. Veranstaltet wurde die Tagung von der Abteilung für Kunst an der Universität Bologna im Auftrag der Sektionen „Film Studies“ und „Television Studies“ der European Communication Research and Education Association (ECREA): der größten Vereinigung von Kommunikations‑, Medien‑ und Kulturwissenschaftlern in Europa.

Die zwei Tage boten eine Fülle von Vorträgen mit Fokus auf der Streamingkultur und darauf, wie sehr sie die klassischen audiovisuellen Medien Film und Fernsehen verändert, verformt und verdrängt hat. Dabei zeigte sich deutlich, dass für die meisten Teilnehmenden Netflix synonym für Streaming steht. 

Das wurde bereits im Eröffnungsvortrag von Mattias Frey (City St George’s, Universität London) deutlich, der unterschiedliche Aspekte des Phänomens „Streaming“ darlegte und sich dabei wiederholt auf Netflix bezog. So wies er darauf hin, dass die US‑Firma für globale Nischenmärkte produziere und ihr Publikum nicht nach demografischen Merkmalen, sondern nach so genannten Geschmacksgemeinschaften („taste communities“) unterscheide, von denen die Netflix‑Algorithmen allein 2.200 verschiedene anwandten. Seine starke Bezugnahme auf Netflix erklärt sich dadurch, dass die Plattform seit einigen Jahren einen Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit darstellt, die er mit Veröffentlichung des Buches Netflix Recommends der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat (Frey 2021).
 

Netflix und lokale Serienproduktionen

Zwar war Netflix immer wieder ein Bezugspunkt, doch ging es in vielen Vorträgen um den Einfluss der Streamingplattform auf die Produktion von Filmen, aber vor allem auf Serien. Auch das Seh‑ und Nutzungsverhalten des Publikums – vom Bingewatching bis hin zur Rezeption kurzer Videos auf TikTok – wurde beleuchtet. Dabei zeigte sich unter anderem, dass kürzere Formen immer beliebter werden. So entstehen nicht nur Serien mit vergleichsweise kurzen Folgen, so genannte „short drama“‑Produktionen, die für die Verwertung auf TikTok und anderen sozialen Medien produziert werden, sondern auch klassische Serienproduktionen werden nicht mehr zwingend auf Länge und mehrere Staffeln getrimmt. 
 

Trailer Bridgerton (Netflix Deutschland, Österreich und Schweiz, 14.12.2020)



Auch wenn es die prestigeträchtigen Großproduktionen wie Bridgerton oder The White Lotus noch gibt, zeigt sich ein Trend zur Diversifikation in der Serienproduktion. Einerseits werden immer mehr Serien mit nur einer Staffel produziert – in Spanien machen sie bereits etwa 60 %der gesamten Serienproduktion aus, wie Concepción Cascajosa Virino von der Charles III Universität in Madrid berechnet hat. 

Andererseits spielen in vielen Ländern lokale bzw. nationale Serien eine große Rolle, wie Marine Malet (Universität Bergen) am Beispiel Frankreichs, Stéfany Boisvert (Universität von Québec in Montréal) am Beispiel Kanadas, Bruna Aucar und Tatiana Siciliano (Katholische Universität Rio de Janeiro) anhand von brasilianischen melodramatischen Serien, Selin Tüzül Ateşalp (Marmara Universität Istanbul) am Beispiel türkischer Serien, Tina-Louise Smith (Universität Kapstadt) anhand südafrikanischer Serien oder Hyunseon Lee (Universität London) und Chiara Tropiano (Universität Bologna) am Beispiel koreanischer Serien darstellten. 

Diese Beispiele machen deutlich, dass die Forschung aktuell im Wesentlichen mit Serienformaten befasst ist und weniger mit den anderen Inhalten der Streamingplattformen, wie Filmen, Dokumentationen und Kinderprogrammen. Immerhin verhandelten einige wenige Vorträge den Trend zur Reality‑Show auf den großen Plattformen sowie der vermehrten Akquise von Sportrechten.
 

Das Beispiel Viaplay

Diese Trends zeigen sich nicht nur bei Netflix, sondern auch bei anderen Anbietern. Global erfolgreich sind vor allem Dramaserien, die den Bereichen Krimi, Mystery und Thriller zugerechnet werden können – auch wenn die australische Animationsserie Bluey auf Disney+ zu den erfolgreichsten Serien weltweit gehört. 
 

Trailer Bluey: Das Schild (Bluey - Deutsch Offizieller Kanal, 27.03.2024)



Sandra Becker (Universität Utrecht) und Daphne Rena Idiz (Universität Toronto) illustrierten dies am Beispiel der skandinavischen Plattform Viaplay. Dort besteht das Angebot hauptsächlich aus skandinavischen Krimis, so genannten Nordic-Noir-Serien, und Sport. Viaplay wirbt damit, vor allem hochwertige europäische Serien im Programm zu haben. Die Plattform gehört zur Nordic Entertainment Group und wurde als Beispiel für die fortwährende Bewegung auf dem dynamischen Streamingmarkt genannt: Zunächst war Viaplay nur in den skandinavischen Ländern aktiv, ab 2020 weitete sie ihre Präsenz auf die baltischen Länder aus, dann folgten Polen und die Niederlande, anschließend Australien, die USA, Großbritannien und weitere europäische Länder sowie zahlreiche Streamingmärkte in Lateinamerika. 

Die Expansionsbestrebungen waren allerdings nicht von Erfolg gekrönt und brachten die Plattform in finanzielle Schwierigkeiten. Zwischen November 2021 und November 2024 brach die Marktkapitalisierung der Firma um 99,6 % ein. Allein im Jahr 2023 sank der Wert der Viaplay‑Aktie um 72 %, wie Becker und Idiz berichteten. War die Aktie im November 2021 noch knapp 121 Euro wert, schwankt sie aktuell zwischen 10 und 15 Cent. Das blieb nicht ohne Konsequenzen, sowohl personeller als auch struktureller Art. Die Plattform wurde restrukturiert und konzentriert sich nun wieder auf den skandinavischen Markt. Zugleich wurde die Produktion von lokalen Serien in mehreren Ländern eingestellt. Hier war Viaplay zuvor vor allem in den Niederlanden aktiv gewesen.
 

Lokale Konkurrenten von Netflix

Das Beispiel zeigt zweierlei: Einerseits gibt es neben global agierenden Plattformen wie Amazon Prime Video, Disney+ und Netflix viele regionale Streamingangebote auf der ganzen Welt. Neben Viaplay ging es in Bologna auch um öffentlich-rechtliche Mediatheken in Großbritannien, Italien und Tschechien, koreanische Streamingplattformen wie TVING und Wavve oder die Plattform des spanischen Telekommunikationsanbieters Movistar+. Sie alle bestücken ihren Katalog mit Originalserien, aber auch mit Lizenzware, also angekauften Serien. Allein Movistar+ hat in den vergangenen sieben Jahren mehr als 60 Originalserien produziert, wie Vicente Rodríguez Ortega von der Charles III Universität Madrid darstellte. Diese lokalen Plattformen sind erfolgreich, solange sie nicht nach globaler Expansion streben. Es ist ein großes Verdienst der Tagung, auf die Vielfältigkeit der Streamingangebote in den verschiedenen Ländern und Regionen der Welt sowie auf ihre lokalen Eigenproduktionen hingewiesen zu haben.

Andererseits wurde deutlich, wie sehr ökonomische Kriterien mittlerweile über Wohl und Wehe von Streaminganbietern entscheiden. Diese Kriterien entscheiden in gleichem Maß über die Zukunft von Produktions- und Distributionsfirmen, die auf dem globalen Markt aktiv sind. Alle Beteiligten haben damit zu kämpfen, dass der Streamingmarkt zwar insgesamt gewachsen ist, aber gleichzeitig immer mehr Plattformen miteinander konkurrieren, sowohl um Marktanteile als auch um Inhalte. Und nicht zuletzt gibt es allein in Europa nach wie vor fast 10.000 verschiedene Fernsehanbieter, die bei großen Gruppen in der Bevölkerung nach wie vor beliebt sind. Die Konkurrenz wird dadurch noch verschärft, dass das Publikum sich nicht vervielfacht, sondern auf die verschiedenen Anbieter aufteilt. In diesem Zusammenhang sprach man auf der Tagung von Fragmentierung.
 

Wettbewerb um Inhalte und soziale Medien

Der Wettbewerb um die Inhalte hat auch den globalen Markt für Shows und Fernsehserien mit verändert. Wurden früher – zu Zeiten des dualen Rundfunksystems – hauptsächlich fertig produzierte Sendungen gehandelt, so setzen Distributionsfirmen und Formathändler inzwischen früher an. Beispielsweise werden anstatt fertiger Serien vermehrt die Rechte für lokale Adaptionen erworben. Außerdem haben Distributionsfirmen, Sender und Streaminganbieter wie Amazon Prime Video und Netflix begonnen, Workshops für Drehbuchautoren zu veranstalten oder zu bezuschussen, wie Eva Novrup Redvall (Universität Kopenhagen) zeigte. Damit haben sie viel früher Zugriff auf Serienstoffe und damit auch auf die Verwertungsrechte. 
 

Trailer The Substance (KinoCheck, 16.08.2024)



Denn wer die Rechte besitzt, hat auch die Marktmacht – und kann eine Serie dann nicht nur auf dem eigenen Sender oder der eigenen Plattform vermarkten, sondern auch in den sozialen Medien. Letztere spielen eine immer wichtigere Rolle für die weltweite Verbreitung und Zirkulation, wie es auf der Konferenz hieß. Dazu zählen auch so genannte Memes von Serien, die sich über soziale Medien verbreiten können, wie Hella Kannik Haastrup (Universität Kopenhagen) am Beispiel des Films The Substance und der Serie The White Lotus 3 darstellte. Dabei bezog sie sich vor allem auf Erkenntnisse aus ihrem jüngst erschienenen Buch Digital Film and Television Culture. From Hollywood to Social Media.

Auch wenn es auf der Tagung vorwiegend um Serien ging, waren mitunter auch Filme Thema. Dominic Holdaway von der Universität Urbino zeigte am Beispiel von italienischen Filmen aus den 1980er-Jahren, dass YouTube zu einem großen, globalen Filmarchiv geworden ist. Zwischen 1980 und 1990 wurden in Italien 1.403 Filme hergestellt, von denen 646 auf YouTube verfügbar sind. Diese Filme erzielten knapp 225 Mio. Aufrufe. Allerdings waren erheblich mehr Genrefilme (Erotik, Horror, Science-Fiction) als Autorenfilme verfügbar. YouTube ist generell zu einem großen Archiv für Filme, Serien und Shows aus aller Welt geworden.
 

Trailer The White Lotus Season 3 (HBO Max, 27.01.2025)



Wettbewerb und Fragmentierung

Konkurrenz und Fragmentierung sind die zwei wichtigsten Phänomene, die den Fernseh- und Streamingmarkt nachhaltig verändert haben. Die Plattformen versuchen diese Herausforderungen mit Algorithmen aller Art zu lösen. Von den so genannten „taste communities“ bei Netflix war schon die Rede. Alessia E. Gebauer und Michael L. Wayne von der Erasmus Universität in Rotterdam analysierten in ihrem Beitrag, wie stark Algorithmen auch in der Produktion angewandt werden. Ihre Schlussfolgerung aus der Analyse der globalen Produktionsprozesse von Netflix war, dass immer stärker IT-Techniker und ‑Ingenieure über Inhalte und Produktionsabläufe entscheiden. Denn für die Streaminganbieter spielt Effizienz in der Produktion eine wichtige Rolle. 

Insgesamt zeigte sich auf der Tagung, wie sehr Netflix nicht nur den Markt, sondern auch die öffentliche und die wissenschaftliche Diskussion über Streaming dominiert. Gleichzeitig wurde deutlich, dass immer mehr lokale Anbieter auf den Markt treten, die sich zum Teil am Erfolg von Netflix orientieren, sich aber auch davon abgrenzen. In diesem Sinn kann von einer Wechselwirkung zwischen Netflix und den anderen Anbietern gesprochen werden. Für alle gilt: Ökonomischer Erfolg ist wichtig und Inhalte wie Filme und Serien sind nur ein Mittel auf dem Weg dahin. Zugleich werden Konkurrenz und Fragmentierung immer größer und halten den Markt in Bewegung – und damit auch alle, die sich wissenschaftlich damit befassen. 
 

Literaturhinweise:

Frey, M.: Netflix Recommends. Algorithms, Film Choice, and the History of Taste. Oakland, CA 2021: University of California Press

Haastrup, H. K.: Digital Film and Television Culture. From Hollywood to Social Media. London und New York 2025: Routledge