Digitale Ethik
Baden-Baden 2024: Nomos Verlagsgesellschaft
Rezensent/-in:
Hans-Dieter Kübler
Digitale Ethik
Der aktuelle Publikationsmarkt annonciert es (worauf die Herausgebenden eingangs hinweisen): Kaum ein anderes soziotechnisches Geschehen evoziert so nachdrücklich und dringlich ethische Reflexionen und Herausforderungen wie die Digitalisierung (und alle damit verbundenen Entwicklungen) und drängt frühere mit Medien verknüpfte Ethiken in den Hintergrund: „Digitale Ethik“ firmiert dafür als gängigster und umfassendster Topos, so die Herausgebenden in ihrer Einleitung, aber – muss man einwenden – ebenso als reichlich missverständlicher; denn dann hätte es als Pendant zuvor auch eine analoge Ethik geben müssen. Aber nicht die Ethik ist/wird digital, vielmehr verlangt die Digitalisierung mit all ihren Dynamiken, Transformationen und Wirkungen, ihren Systemen, Produkten und Programmen, ihren Anwendungs- und Innovationspotenzialen nach ethischer Einordnung und Bewertung. Das vorliegende Handbuch verspricht – nach etlichen einschlägigen Publikationen des Instituts für Digitale Ethik (DIE) an der Stuttgarter Hochschule für Medien – umfassende Orientierung und interdisziplinäre Bestandsaufnahme für die ethische Theorie wie auch für deren Praxis.
Umfang und Vielschichtigkeit des Themas lassen sich in einer solch kompakten Rezension kaum angemessen abbilden. Ob Ethik letztlich entscheiden und begründen kann, ob und „warum etwas [an der und durch die Digitalisierung] gut oder schlecht ist“ (S. 13), wird sich weisen und wohl kaum konsensuell vereinbaren lassen. Denn digital wird zunehmend universell; kaum ein Bereich des Handelns, Wirtschaftens und Interagierens bleibt unbetroffen. Je diverser Digitalität wird, umso komplexer, polymorpher und optionaler werden die involvierten Prozesse in ihrer Struktur und Dynamik. Daher wird künftig kaum mehr zu differenzieren sein, was jeweils thematisiert ist, von der Erfindung, der Erforschung, der Implementation, der Produktion, der Anwendung bis zur Vermarktung und Ökonomisierung. Oder andersherum: Man muss sich schon präzise vergegenwärtigen, wo, wann, wie und warum ethische Probleme und Bewertungen anfallen und welche fachlichen Kenntnisse und welche ethischen Evaluationen jeweils erforderlich sind.
Nach der Einleitung der Herausgebenden und einem universalen Geleitwort des bekannten Stuttgarter Medienethikers R. Capurro, der die digitale Ethik als öffentliche wie private Aufgabe begreift, ist das Handbuch in fünf thematische Gruppen gegliedert: In einer ersten werden (allgemein) philosophisch-theoretische Zugänge zur digitalen Ethik thematisiert, die sowohl disziplinär als auch territorial (Lateinamerika) ausgerichtet sind. Warum unter den religiösen Ansätzen nur konfuzianische und zen-buddhistische berücksichtigt sind, nicht aber die anderen Weltreligionen, hätte einer Erläuterung bedurft.
Die zweite Themengruppe befasst sich mit grundlegenden Werten, wobei neben den traditionell anerkannten besonders solche beachtet werden, die in der digitalen Welt gefährdet sind (z. B. Privatheit und Autonomie) oder herausragendes Gewicht bekommen (z. B. Nachhaltigkeit).
Aktuelle und konkrete Diskurse der „Digitalen Ethik“ werden im dritten Themenfeld behandelt. Dabei werden vor allem solche berücksichtigt, deren Potenziale Risiken für liberaldemokratische Gesellschaften implizieren und die überkommene gesellschaftlich-kulturelle Wertehierarchie bedrohen (z. B. Menschenbild, Desinformation, Utopismus).
Nicht ganz systematisch folgen die beiden letzten Themenfelder: „ausgesuchte“ Systeme und Technologien der Digitalen Ethik zunächst und Praxisfelder der Digitalen Ethik am Ende. Denn die marktbeherrschenden Systeme und Technologien werden von der ethischen Diskussion weder ausgesucht noch produziert, und manches Konstrukt – wie das des „Digitalen Kapitalismus“ – ist recht willkürlich; vielmehr kann und muss diese Diskussion die herrschenden und/oder problematischen Systeme und Technologien beurteilen und bewerten. Symptomatisch beginnt der Abschnitt mit „Geschäftsmodellen“, geht weiter zur „künstliche[n] Moral und Maschinenethik“ und dann zum „Autonomen Fahren“ und zur „Robotik“. Seriöser und einsichtiger sind die „Praxisfelder“ angelegt: Im ersten Beitrag wird die „Digitalkompetenz“ adressiert (die nach dem Verständnis vieler Pädagog*innen ungleich vorrangiger hätte berücksichtigt werden müssen und durchaus als die wichtigste Fähigkeit und Handlungsausstattung des Individuums für die und in der digitalen Welt theoretischer Begründung bedarf), gefolgt von „Journalismus“ und „Kommunikation“ sowie „Gesundheit“ und „Pflege“, um dann einerseits in subjektiven Bereichen („Selbstoptimierung“ und „Gefühle“), andererseits in pragmatischen Handlungsfeldern wie „Gaming“ und „Design“ zu enden. Dabei wollen die Beiträge, wie die Herausgebenden ankündigen, auch „Handreichungen“ liefern, „wie digitalisierte Alltags- und Lebenswelten von heute ethisch verantwortungsvoll gestaltet und gesellschaftlich bewältigt werden können“ (S. 14). Aber diese Aufgabe erfüllen nur wenige Beiträge.
Ohne Frage, eine immense Fülle von Themen und Aspekten werden in diesem Handbuch dargelegt, die sich mithilfe des Registers durch die Themenfelder auch quer verfolgen lassen. Aber ob der Anspruch, den man gemeinhin mit einem Handbuch verbindet – nämlich eine gut strukturierte Bestandsaufnahme einer Disziplin oder eines Themenfeldes sowie eine verlässliche, evidente Orientierung in diesem und für dieses Sujet zu liefern – mit der beschriebenen Struktur und Anordnung dieses „Handbuches“ erreicht werden kann, ist fraglich. Eine gründlichere Durchdringung der Thematik hätte sicherlich zu einer schlüssigeren und transparenteren Systematik geführt.
Über die Qualität und Intention der rund 50 Stichwortbeiträge ist dabei noch wenig gesagt. Sicherlich lässt sich aus jedem etwas für ein Thema gewinnen, je nach Bedürfnis und Erwartung der Leser*in, und kaum jemand dürfte den umfänglichen Band mit über 650 Seiten linear, von vorne bis hinten, durcharbeiten. Aber bald erkennt man die divergierenden Vorgehensweisen: Wenige Autor*innen bemühen sich, dem Anspruch eines Handbuches gerecht zu werden und eine möglichst umfassende, abgewogene Bestandsaufnahme des Themas vorzulegen. Die meisten liefern einen strukturell eher beliebigen Aufsatz ihres ohnehin gewohnten Sachgebietes und eine eigenwillige Argumentation ab. Einige favorisieren sogar ungehemmt ihr inhaltliches Steckenpferd, das sie in anderen Publikationen schon traktiert haben. Dabei bleiben Überschneidungen und Ungereimtheiten zwischen den Beiträgen nicht aus, und der hehre Anspruch des „Handbuches“ geht verloren. Aber nach kurzem Abstand lässt sich wohl ein neues Werk produzieren und vermarkten, womöglich mit einem neuen Label, dann vielleicht als Künstliche Ethik (artificial ethics).
Prof. i. R. Dr. Hans-Dieter Kübler