Aktuelle Themen:
GEWALT   |  ALTERSVERIFIKATION  |  KI  |  SOCIAL MEDIA

 

Digitale Helfer statt Therapieplatz?

Joachim von Gottberg

Psychische Erkrankungen, allen voran Depressionen, nehmen laut dem Gesundheitsatlas Deutschland (AOK-Bundesverband 2024) vor allem bei Jugendlichen rasant zu. Therapieplätze sind allerdings knapp. Für viele sind deshalb digitale Hilfsangebote ein Versuch, auch ohne ärztliche Hilfe psychische Krisen zu überwinden. Sie wenden sich direkt an die KI, schildern dort ihre Probleme und hoffen auf eine hilfreiche Antwort. Ergänzend bieten in den sozialen Netzwerken zahlreiche mehr oder weniger qualifizierte Fachleute ihre Hilfe an. Das kann aber zum Problem werden, denn eine fachliche Qualifikation ist für solche Angebote in den sozialen Medien keine Voraussetzung.

Online seit 22.10.2025: Link


„Rund 9,49 Millionen Menschen in Deutschland waren laut dem aktuellen Gesundheitsatlas Deutschland des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) 2022 von Depressionen betroffen“ (AOK 2024). Einsamkeit und Depressionen hängen eng zusammen: „Insgesamt haben 86 % aller befragten Bundesbürger das Gefühl, dass heute mehr Menschen einsam sind als vor 10 Jahren“ (Deutscher Präventionstag 2023). Verschiedene Studien zeigen, dass sich vor allem jüngere Menschen vermehrt einsam fühlen (vgl. Langness et al. 2025).

Für die Betroffenen ist es schwer, vorübergehende Niedergeschlagenheit und seelische Unausgeglichenheit von einer behandlungsbedürftigen Depression zu unterscheiden. Hier sollen verschiedene Selbsttests helfen, die krankheitsbezogene Fragen stellen. Jede Antwort der Nutzer:innen wird mit einer bestimmten Punktanzahl bewertet. „Die Fragen stammen aus der klinischen Psychiatrie, zum Beispiel: ‚Ich bin in meiner Aktivität gehemmt‘ – ‚meistens‘ bis ‚so gut wie nie‘, oder ‚meine Fähigkeit, mich zu freuen‘ ist ‚genauso wie früher‘ bis ‚eigentlich nicht mehr vorhanden‘. Aus den Antworten lässt sich ein Index von null bis 105 errechnen; ab 40 Punkten ergibt sich der Verdacht auf eine Depression“ (Deutscher Präventionstag 2023).

Vorausgesetzt, die Fragen werden wahrheitsgemäß beantwortet, wird den Betroffenen eventuell geraten, einen Psychotherapeuten aufzusuchen.
 


Bei Berichten über Terroranschläge, Kriege, Unwetter oder Erdbeben steigen die Depressionswerte deutlich an, bei positiven Ereignissen wie dem Beginn der Bundesliga-Saison oder Besuchen beliebter Politiker in Deutschland sinken die Werte.



Zusammenhang mit der Nachrichtenlage

Der Index zeigt, dass das individuelle psychische Empfinden deutlich mit der aktuellen Nachrichtenlage zusammenhängt: Bei Berichten über Terroranschläge, Kriege, Unwetter oder Erdbeben steigen die Depressionswerte deutlich an, bei positiven Ereignissen wie dem Beginn der Bundesliga-Saison oder Besuchen beliebter Politiker in Deutschland sinken die Werte. Es gibt auch einen klaren Zusammenhang zwischen der individuell gefühlten Situation der Menschen in Bezug auf die Erwartungen an die Zukunft und der Neigung zu Depressionen, vor allem, wenn die Erwartungen negativ sind. Weitere Ergebnisse der nicht repräsentativen Befragung: „Mit höherem Bildungsstand und ebenso mit höherem Einkommen nehmen die Depressionswerte ab. Frauen über 60 sind am unglücklichsten, im Gegensatz zu Männern derselben Altersgruppe, die einen niedrigeren Index aufweisen.“ (AOK 2024)
 

Mangel an Therapieplätzen

Optimal wäre, wenn Menschen, die ärztliche Hilfe benötigen, auch möglichst bald einen Therapieplatz bekämen. Die Realität sieht jedoch anders aus: „In Niedersachsen müssen Betroffene im Durchschnitt sechs Monate auf einen ambulanten Therapieplatz warten. Ein wesentlicher Grund dafür ist laut Psychotherapeutenkammer die unzureichende Verfügbarkeit sogenannter Kassensitze. Diese Sitze sind notwendig, damit Therapeuten gesetzlich Versicherte behandeln und das mit den Krankenkassen abrechnen können. Laut der Bundespsychotherapeutenkammer fehlen bundesweit mindestens 1.600 davon, um die Nachfrage zu decken.“ (Abednia 2024)
 

Digitale Hilfsangebote

Angesichts des Mangels an psychotherapeutischen Angeboten gewinnen digitale Hilfsressourcen zunehmend an Bedeutung. Immer mehr Jugendliche entdecken, dass sie beispielsweise ChatGPT alle erdenklichen Fragen zum selbst empfundenen psychischen Zustand stellen können, um Unterstützung oder eine Analyse ihres Problems zu erhalten. 

Beispielhaft wurde ChatGPT folgendes Problem geschildert: Ein 17-jähriges Mädchen (Jenny) war in einen Jungen verliebt, der sie vor zwei Monaten wegen einer anderen Person plötzlich verlassen hat. Seitdem fühlt sich das Mädchen schlecht, hat keine Lust mehr auf Unternehmungen und empfindet, nichts mehr wert zu sein. 

Sie wendet sich an die KI: 

„Ich bin total verzweifelt. Kannst du mir helfen? Du bist meine letzte Hoffnung.“

Und ChatGPT antwortet: 

„Hallo Jenny, danke, dass du dich mit so viel Vertrauen meldest. Es ist absolut verständlich, dass du dich nach dieser Erfahrung traurig, verletzt und wertlos fühlst – jemand, der dir sehr viel bedeutete, hat dich enttäuscht und das hinterlässt tiefe Spuren. Du bist nicht allein damit, auch wenn es sich gerade vielleicht so anfühlt. Was du beschreibst, ist eine Form von Liebeskummer, die sich sehr stark auf dein Selbstwertgefühl und deine Lebensfreude auswirken kann – und das darf sie auch erstmal. Es ist keine Schwäche, sondern ein Zeichen, dass du tief gefühlt und geliebt hast. Aber: Es bedeutet nicht, dass du weniger wert bist. Im Gegenteil.“ 

Weiterhin rät ChatGBT, mit jemandem darüber zu sprechen, das Gefühl ernst zu nehmen, es aber „nicht als Wahrheit“ anzunehmen, Selbstisolation zu vermeiden und sich Unterstützung zu suchen. Dazu werden einige Kontaktadressen von Beratungsstellen genannt. Und abschließend:

 „Wenn du möchtest, kannst du mir auch nochmal schreiben – über das, was dir am meisten wehtut oder was dir am meisten Angst macht. Ich bin da, aber ich wünsche mir auch, dass du jemand realen findest, mit dem du darüber sprechen kannst. Du bist nicht kaputt, Jenny. Du bist traurig, und das darfst du sein. Und du wirst nicht für immer so fühlen, auch wenn es sich gerade genauso anfühlt. Viele liebe Grüße, [Herz-Emoji] ChatGPT“ (gekürzt).


Insgesamt ermutigt diese Antwort – für eine KI überraschend empathisch – dazu, Vertrauen in sich selbst zu fassen, und vermittelt die Zuversicht, dass dieser Zustand vermutlich nur vorübergehend ist. Auch die angebotenen Kontakte können hilfreich sein. Auf Social-Media-Kanälen wie TikTok wird für die Hilfe durch ChatGPT geworben, Nutzer:innen loben, wie hilfreich der Austausch mit ChatGPT sei. Ein großer Vorteil: Die KI ist jederzeit verfügbar, anonym und niedrigschwellig. Und man kann bestimmen, worüber man in welcher Tiefe sprechen will, man braucht keine Hemmungen zu haben, intime Probleme preiszugeben. Bei Therapeuten sind die Seriosität und Effektivität der digitalen Hilfestellung allerdings umstritten.
 

Positive Bewertung

In der ARD-Dokumentation Depression. Wie kommt man wieder raus? fällt das Urteil dagegen eher positiv aus: „Chat-GPT erkennt sofort, es könnte eine extrem kritische Situation sein, die Nummer der Telefonseelsorge wird angezeigt, hier steht, ich bin da, also als wäre das wirklich ein Gegenüber, das für mich da ist.“ (BR 2025). So sieht es auch Björn Schuller, Leiter des Projekts „KI im Gesundheitswesen“ im TUM Klinikum Rechts der Isar in München: Chat-GPT habe auf der einen Seite ganz viel Training gehabt, könne aufgrund von Wahrscheinlichkeiten das nächste Wort vorhersagen, habe sehr viel über die Sprache gelernt und das Theoretische mit menschlichem Feedback optimiert (vgl. ebd.). Schuller entwickelt selbst ein KI-gestütztes therapeutisches Hilfsangebot, das über die Analyse der Sprache und des Gesichtsausdrucks den tatsächlichen emotionalen Zustand des Klienten einschätzen und so Differenzen zwischen der Eigendarstellung und der Realität erkennen kann. So könne man Depressionen und deren Schweregrade auf verschiedenen Skalen abbilden und in der Intervention entsprechend präzise darauf reagieren (vgl. ebd.).
 

Nico Semsrotts langer Weg zur richtigen Therapie | Depression – Wie kommt man wieder raus? (ARD, 06.08.2025)



Hilfe, wenn kein Therapieplatz verfügbar ist

Auch Johanna Löchner von der Universität Erlangen-Nürnberg sieht viel Potenzial in der KI als Unterstützung des menschlichen Therapeuten: KI-Tools könnten eine Brücke zur Psychotherapie schlagen – etwa, weil die Versorgungslage, insbesondere im ländlichen Raum, nach wie vor unzureichend sei. Sie könnten auch Menschen unterstützen, die nicht fließend Deutsch sprechen oder Schwierigkeiten haben, sich in einer Therapie zu öffnen – sei es aus Scham, Angst oder Unsicherheit. Allerdings sieht sie auch Risiken: Ein zentrales Problem sei, dass die KI insbesondere bei komplexen Themen Fehler machen könne. ChatGPT sei nicht immer in der Lage, die Nuancen in Gesprächen zu verstehen und darauf richtig zu reagieren, so Löchner (vgl. Vogelpohl 2025). Auch Andrea Benecke, Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), warnt vor dieser Gefahr: „Generische KI-Anwendungen wie ChatGPT sind aktuell nicht hinreichend darauf trainiert, jungen Menschen in psychischen Krisen verlässliche Unterstützung zu bieten“ (ebd.).
 


Chatbots unterliegen im Gegensatz zu Psychiatern oder Psychologen nicht der Schweigepflicht.



Neben den verschiedenen KI-Anbietern haben sich inzwischen auch spezielle Chatbots für psychische Probleme etabliert. An der Universität Stanford wurde Woebot entwickelt, und die Start-up-Gründerin Jo Aggarwal schuf den Psychobot Wysa, der für Menschen gedacht ist, die unter Stress oder Angstzuständen leiden. In beiden Fällen geht es nicht darum, Krankheiten zu heilen oder eine Psychotherapie zu ersetzen, sondern ein Tool zur Hilfeleistung bei milderen Problemen wie Stress oder Schlafstörungen zur Verfügung zu stellen. 

Benecke rät trotzdem zur Vorsicht. Sie weist auch darauf hin, dass Chatbots im Gegensatz zu Psychiatern oder Psychologen nicht der Schweigepflicht unterliegen. Das könne bei sensiblen Daten und Informationen zum Problem werden. Außerdem stützten sich die Antworten auf eine enorme Datenmenge und würden nach dem Wahrscheinlichkeitsprinzip ausgewählt: „Es handelt sich gerade nicht um eine inhaltliche Entscheidung, basierend auf dem spezifischen Einzelfall“, so Benecke (ebd.).
 

Das Risiko der Algorithmen

Denn Chatbots wollen ihre User nicht nur unterstützen, sondern auch an sich binden. Deshalb entstehe ein „Jasager-Syndrom“, bei dem sie dazu tendieren, Menschen in ihren Wahrnehmungen zu bestätigen. Bei bestimmten psychischen Symptomen – etwa bei Suizidgedanken oder einer Essstörung – kann sich das fatal auswirken. 

Chatbots verstehen die Probleme des Nutzers nicht wirklich, sondern nutzen einen Algorithmus, um nach einem Wahrscheinlichkeitsmodell aus der Fülle der Informationen eine passende Antwort zu konstruieren. Das kann funktionieren, der Bot kann allerdings auch falsch liegen. Auch könne der Chatbot nicht erkennen, wann „ein Gespräch aus dem Ruder“ laufe, so die Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Berlin, Eva Schweitzer-Köhn, in einem RBB-Podcast: „Gerade der Umstand, dass die KI immer antwortet, könne auch problematisch sein.“ (rbb24 Inforadio 2025)
 


Chatbots verstehen die Probleme des Nutzers nicht wirklich, sondern nutzen einen Algorithmus, um nach einem Wahrscheinlichkeitsmodell aus der Fülle der Informationen eine passende Antwort zu konstruieren.



Enttabuisierung psychischer Erkrankungen

Ein großer Vorteil der Behandlung von psychischen Problemen in sozialen Medien liegt in der Enttabuisierung der Erkrankung. Die regelmäßige Thematisierung von Mental Health führt zu mehr Offenheit für Betroffene. Allgemeine Informationen zu Bewältigungsstrategien und zum Umgang mit entsprechenden Symptomen führen dazu, dass Betroffene immer weniger diskriminiert werden. Diesen Vorteil sieht auch die Wiener Soziologin Laura Wiesböck, die derzeit die Junior Research Group „Digitalisierung und soziale Transformation“ am Institut für Höhere Studien in Wien leitet. Allerdings diagnostiziert sie auch eine inflationäre Verwendung von psychopathologischen Begriffen wie „Trauma“ oder „Trigger“. Psychische Erkrankungen würden überall gesehen und dienten schnell als Ausrede oder Entschuldigung für persönliche Unzulänglichkeiten (vgl. Deutschlandfunk Nova 2025).
 

Eigendiagnose ohne Fachpersonal

Wiesböck befürchtet, dass sich immer mehr Nutzerinnen und Nutzer selbst eine Diagnose stellen, ohne qualifiziertes Fachpersonal zu konsultieren. Auf TikTok gebe es die sehr beliebten #SelfDiagnosis, die vor allem in den USA sehr viel genutzt würden, da dort die Gesundheitsversorgung noch stärker eingeschränkt sei.

Durch die den sozialen Netzwerken zugrundeliegende Aufmerksamkeitsökonomie fänden sehr einseitige und eindeutige Symptombeschreibungen statt, mit denen sich möglichst viele Menschen identifizieren sollten, um Likes und Traffic zu generieren. Problematisch sei auch, dass die Liste von Symptomen nicht für alle Altersgruppen gleichermaßen gelte und auch von den Lebensumständen sowie den Schlaf- oder Essgewohnheiten abhängig sei. Solche Selbstdiagnosen könnten den Nutzer deshalb zu einer falschen Selbsteinschätzung führen und zu einem Genesungshindernis werden, vor allem, wenn der Test andere Ursachen des Belastungszustands übersehe. 

Als Beispiel verweist Wiesböck auf die 100 beliebtesten ADHS-TikTok-Videos, von denen die darin angeführten Informationen in weit mehr als der Hälfte irreführend seien. Nach einer aktuellen Studie würden unter den beliebtesten TikTok-Videos über ADHS zu 68,5 % normale menschliche Erfahrungen abgebildet und keine klinischen Problemlagen, so Wiesböck. Das sei vor allem problematisch für „Jugendliche, die sich mit der Pubertät ohnehin in einer Phase der Verunsicherung und einem hormonellen und emotionalen Umbruch befinden“ (ebd.). Körperliche Veränderungen und Schamgefühl seien häufig, es herrschten Selbstzweifel und Weltschmerz. Hohe Reizbarkeit, innere Zerrissenheit und oft wechselnde Meinungen seien Ausdruck der Identitätsentwicklung. Und in dieser Phase sei das Internet ein existenzieller Ort eben der Identitätsbildung und der Zugehörigkeit.*
 

Anmerkung: 

* Lesen Sie hierzu auch: Psychische Gesundheit als Verhaltenserwartung und Konsumgut. Barbara Weinert im Gespräch mit Laura Wiesböck. In: mediendiskurs online, 07.05.2025.

 

Literatur:

Abednia, A.: Fehlende Therapieplätze: Lange Wartezeiten belasten Betroffene. In: NDR, 04.10.2024. Abrufbar unter: www.ndr.de

AOK-Bundesverband: Gesundheitsatlas Deutschland: Knapp 9,5 Millionen Menschen von Depressionen betroffen. Pressemitteilung vom 09.10.2024. In: AOK Presse und Politik. Abrufbar unter: www.aok.de

BR: Depression. Wie kommt man wieder raus? In: ARD Wissen, 28.07.2025. Abrufbar unter: www.ardmediathek.de

Deutscher Präventionstag: Deutschland-Barometer Depression. Studie: Weniger Sozialkontakte und Gefühl tiefer Einsamkeit in der Depression. In: Deutscher Präventionstag, 09.11.2023. Abrufbar unter: www.praeventionstag.de/

Deutschlandfunk Nova: Digitale Diagnosen. Mental Health und Social Media: Das Geschäft mit unserer Psyche. In: ebd., 26.06.2025. Abrufbar unter: www.deutschlandfunknova.de

Langness, A. et al.: Die Einsamkeit junger Menschen ist eine Gefahr für die Demokratie. In: Bertelsmann-Stiftung, 26.05.2025. Abrufbar unter: www.bertelsmann-stiftung.de

rbb24 Inforadio: Therapeutin warnt vor ChatGPT als psychischem Berater. In: ARD Audiothek, 15.05.2025. Abrufbar unter: www.ardaudiothek.de

Vogelpohl, C.: KI und Psychotherapie. Kann ChatGPT eine Therapie ersetzen? In: ZDF heute, 04.07.2025. Abrufbar unter: www.zdfheute.de