Digitale Transformation und Ethik
Ethische Überlegungen zur Robotisierung und Automatisierung von Gesellschaft und Wirtschaft und zum Einsatz von „Künstlicher Intelligenz“
Baden-Baden 2024: Nomos Verlagsgesellschaft
Rezensent/-in:
Hans-Dieter Kübler
Digitale Transformation und Ethik
Die anhaltende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft – gemeint ist gleichermaßen die „Digitalisierung, Automatisierung, Maschinisierung, Robotisierung und de[r] Einsatz künstlicher Intelligenz“ (S. 16) – braucht zu ihrer Entwicklung, Implementierung und ökonomischen Verwertung ethische Grundsätze und Leitlinien. So lautet die Grundthese des Luzerner Theologen, Philosophen und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik in diesem umfänglichen Grundlagenwerk. Verantwortlich dafür sind die Menschen, die diese prinzipielle Aufgabe nicht an die Technologie delegieren können und dürfen. Dazu breitet Kirchschläger seine differenzierte und tiefgreifende, auch mitunter redundante Argumentation eindrucksvoll, mit einer immensen Belesenheit (mehr als 100 Seiten Literaturhinweise) und unzähligen Zitaten aus.
Er erörtert zunächst die ethischen Paradigmen, klärt die technischen Begriffe, bezieht Ethik und Technik in ihren gegensätzlichen Teleologien aufeinander und lässt sie scheinbar autonom miteinander interagieren (S. 81 ff.), bevor er mögliche Anwendungen der datenbasierten Systeme in der Medizin und Gesundheitsversorgung, im Finanzwesen, für die Demokratie und die Mobilität inspiziert. Danach folgen wieder weiter gefasste Ausführungen zum „Internet der Dinge“ (S. 305 ff.), zu Datenschutz und Privatsphäre, zur globalen Ungerechtigkeit, zu ökologischen Konsequenzen und zu negativen wirtschaftlichen Auswirkungen wie dem Abbau von Arbeitsplätzen. Immer wieder wird deutlich, wie basal und universal die bevorstehende Transformation ausfallen wird, mit welchen Unwägbarkeiten, Risiken und Schädigungen dabei zu rechnen ist, aber auch welche Chancen und Optimierungsmöglichkeiten sie birgt, sofern sie ethisch und menschenrechtsbasiert realisiert wird. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist allerdings anzumerken, dass nicht nur Ethik und Technologie, die der Autor mitunter unbedacht substantiiert, als entscheidende Faktoren agieren. Vielmehr sind ebenso Strukturen, Interessen und menschliche Irrationalitäten nicht immer gedeihlich und ethisch vertretbar am Werk. Sie in die theoretischen Reflexionen gleichgewichtig einzubeziehen, gelingt dem Autor kaum, obwohl er wiederholt die Gefahren und Unkontrollierbarkeit der digitalen Systeme etwa in einem „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff 2019) aufzeigt (S. 365 ff.) und an allgemeingültigen Rechtsnormen und einschlägigen Dokumenten auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene kein Mangel ist (S. 374 ff.).
Dennoch fallen die im letzten, umfangreichen Kapitel herausgearbeiteten normativen Dimensionen der ethischen Gestaltung der Zukunft unbefriedigend aus. So erkennt Kirchschläger als „erstes Paradox“ der geforderten ethischen Verantwortung der Transformation durch den Menschen, dass dieser infolge der Digitalisierung von den Prozessen und Wertschöpfungsketten weitgehend ausgeschlossen wird (S. 362). Gleichwohl reklamiert er aufgrund der exklusiven Moralfähigkeit des Menschen dessen unbedingte Verantwortung und erklärt aber zugleich Maschinen für fähig, „ethischen Regeln zu folgen, auf der Grundlage dieser Regeln ethische Entscheidungen zu treffen und entsprechend zu handeln“ (S. 363). Trotz aller Beschränkungen und Gefährdungen obsiegt indes der „homo dignitatis“ über den vielfach idealisierten „homo digitalis“. Denn Ersterer kann letztlich darüber entscheiden, datenbasierte Systeme zu schaffen (oder nicht), sie positiv zu nutzen (oder nicht) und sie dadurch zu legitimieren (oder nicht) (S. 454 ff.).
Prof. i. R. Dr. Hans-Dieter Kübler