Digitalität von A bis Z
Bielefeld 2024: transcript
Rezensent/-in:
Lothar Mikos
Digitalität von A bis Z
Die Herausgeber schreiben im Vorwort: „Digitalität ist der Ausgangspunkt dieses Buches. Als offener Reflexionsbegriff bietet er sich besonders an, um Beobachtungen, Konzepte und Modelle aus dem gesamten Spektrum der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften aufeinander zu beziehen, ins Gespräch zu bringen und weiterzuentwickeln“ (S. 10). Digitalität wird als ein globaler Prozess gesehen, der sich nicht nur auf das Handeln der Menschen, sondern auch auf die Kultur und die Bewahrung von Wissen in Archiven, Bibliotheken und Museen auswirkt.
Der vorliegende Band enthält zehnseitige Texte zu insgesamt 41 Stichworten, von „Algorithmus“ über „Daten“ und „Digitale Geisteswissenschaft“, „Netzwerk“, „Quanten“ und „Simulation“ bis hin zu „Überwachung“ und „Virtualität“, um mit einem Beitrag zum Stichwort „Zukunft“ zu enden. Und die sieht eher düster aus. Denn wenn die Zukunft eintritt, ist das gleichzeitig ihr Ende, weil sie zur Gegenwart wird. Florian Arnold plädiert im Kontext von Digitalität für ein anderes Zeitverständnis, „das sich in letzter Instanz gleichzeitig von der Zukunftsfixierung sowie dem Ereignisglauben der Neuzeit (als der Zeit des Neuen, der Innovation, der Kreativität etc.) zu lösen vermöchte“ (S. 416).
Viele der Stichworte erwartet man in einem Band zur Digitalität, manche überraschen, z. B. „Vertrauen“. Karoline Reinhardt beginnt ihren Beitrag mit der Feststellung: „Vertrauen ermöglicht gesellschaftliche Ausdifferenzierung, umgekehrt brauchen Menschen, um in einer ausdifferenzierten Gesellschaft handlungsfähig zu bleiben, ein hohes Maß an Vertrauen“ (S. 347). Wenn wir morgens aufstehen, müssen wir darauf vertrauen, dass Welt noch da ist und wir unseren Alltagstätigkeiten nachgehen können. Es stellt sich eine ontologische Sicherheit ein. Die wird aber durch Digitalität infrage gestellt, denn digitale Technologien sind nach Auffassung von Reinhardt lückenhaft, z. B. weil sich manche Informationen wie Gerüche nicht digitalisieren lassen (vgl. S. 351). Daher sei digitalen Technologien ein Moment der Unsicherheit inhärent. In den sozialen Medien können wir nicht mehr darauf vertrauen, dass wir mit einem realen Menschen interagieren – es könnte auch ein Bot sein. Reinhardt geht auch auf die Entwicklung von generativen Sprachmodellen wie ChatGPT ein: „Die Textgenese dieser Systeme basiert dabei nicht auf Textverständnis, sondern auf Mustererkennung und Musterreproduktion mit Hinblick auf sogenannte Tokens, d. i. Buchstabensequenzen. […] Die Ergebnisse, die diese Anwendungen liefern, sind nicht wahr, sondern wahrscheinlich“ (S. 354, H. i. O.). Das wirft neue Fragen nach Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit auf.
Viele der hier behandelten Stichworte kommen in den aktuellen Diskussionen zu Digitalisierung, sozialen Medien und Datenschutz vor. Es herrscht manchmal der Eindruck, dass immer wieder anderes mit dem gleichen Begriff gemeint ist. In einem solchen öffentlichen Diskurs können die Beiträge Abhilfe schaffen. Auch wenn manche Begriffe eine lange Geschichte haben. So geht „Algorithmus“ auf das Babel des 8. Jahrhunderts zurück, dennoch: „Bis in die Gegenwart ist nicht vollständig klar, was genau einen Algorithmus ausmacht und was ihn zum Beispiel von einem Kochrezept oder einer Spielregel unterscheidet“, wie Christian Schröter schreibt (S. 15). Generell kann ein Algorithmus jedoch als eine „Sammlung von Regeln“ begriffen werden, nach denen Rechenoperationen ausgeführt werden (vgl. S. 17). Algorithmen können sowohl der Problemlösung als auch der Empfehlung dienen. Letzteres wird besonders bei den Empfehlungssystemen von Streamingplattformen wie Netflix deutlich. Lisa Åkervall setzt sich in ihrem Beitrag mit den Veränderungen in der Fiktion im Rahmen digitaler Medien auseinander und geht dabei auf Remixe, Reaction-Videos und transmediales Erzählen ein. „Als transmedial bezeichnen wir eine Erzählung, die sich über verschiedene Plattformen erstreckt, verschiedene Medien und Formate miteinbezieht und bisweilen auch die Autorenschaft des Gezeigten in Frage stellt“ (S. 117). Auch sogenannte Puzzle-Filme oder Mind-Game-Filme, die Spiele mit ihren Zuschauenden treiben, haben die Fiktion ebenso verändert wie Netzwerk-Ästhetiken. „Netzwerk-Ästhetiken sind von einem Zuwachs an Komplexität sowie einer Multiplikation von Charakteren und Erzählsträngen gekennzeichnet“ (S. 120), wie man vor allem an US-amerikanischen Serien von HBO und Netflix sehen kann.
Insgesamt bietet das Buch mit seinen Beiträgen zu den 41 Stichworten eine wichtige Grundlage für Diskussionen zu Digitalisierung und Digitalität, wenn auch mit einem philosophischen Einschlag. Wer in der öffentlichen Debatte mitreden will, kann sein digitales Vokabular dank dieses Buches auf eine fundierte Grundlage stellen.
Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos
