Dystopia – a Moving Picture

Georg Seeßlen

Georg Seeßlen lebt und arbeitet als freier Autor und Filmkritiker in Kaufbeuren im Allgäu.

Das Dystopische lebt vom Bild. Die Urväter der Science-Fiction-Dystopie waren vor allem Bilderzeuger, ließen Pein und Entsetzen körperlich spüren. Mittlerweile ist sie ein signifikanter Teil unserer Kultur geworden. Die dystopischen Filmvariationen sind aber nicht deshalb so erstaunlich, weil sie eine Vielzahl von Schreckensszenarien zeigen, sondern weil sie vielmehr Elemente unserer Gegenwart hochrechnen. Und immer wieder machen sie dabei eines überdeutlich: An dem Desaster ist niemand anderes schuld als die Menschen selbst, jeder Einzelne, mehr oder weniger.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 3/2017 (Ausgabe 81), S. 52-59

Vollständiger Beitrag als:

I

Wir sehen schwarz, was unsere Gesellschaft und ihre Zukunft anbelangt, so fängt das an. Das Gefühl wird übermächtig, dass es in dieser Gesellschaft, in Ökonomie, Politik und Kultur, Interessen, Wirkungen und Kräfte gibt, die nicht mehr zu kontrollieren sind, die nicht mehr unter das Dach der Werte, Rechte und Regeln gebracht werden können. Die Gefahren sind um so vieles größer als alles, was zur Rettung auch gewachsen ist, dass das Umschlagen nicht aufzuhalten ist. Aus der Welt von heute wird eine von Menschen geschaffene Hölle von morgen – und morgen ist verdammt nahe. Wo es keine Rettung für das System gibt, bleibt allenfalls die Flucht für Einzelne, bleibt die Hoffnung darauf, dass auch dieser höllische, der dystopische Zustand der Menschheit, nicht das letzte Kapitel ist. Es gibt genügend Bücher und Filme, die auch an diesem Hoffnungsschimmer zweifeln. Die beiden niederschmetternden, aber offensichtlich auch befreienden Aussagen einer Dystopie sind: Es ist zu spät, noch etwas zu ändern. Und: Wir sind selbst daran schuld.

Die Maschinen beschleunigen den Untergang der Menschheit, während auf der anderen Seite die Götter ihre Schöpfung verlassen, dämonischen Staub hinterlassend.“

Natürlich steckt das Dystopische in jeder Religion, jeder Mythe, jeder Legende, aber eben doch als Möglichkeit, als Warnung, als Hintergrund für die mehr oder weniger wundersame Rettung der Auserwählten, der Helden und Heiligen. Erst als sich die Vorstellung dieser Verdammnis gleichsam in eine Mechanik zu verwandeln schien, in der Zeit der großen industriellen Revolution, konnte Dystopie zum Kern der Erzählung werden. Die Maschinen beschleunigen den Untergang der Menschheit, während auf der anderen Seite die Götter ihre Schöpfung verlassen, dämonischen Staub hinterlassend.

Das, was damals, im 19. Jahrhundert, als dystopische Bild- und Erzählwelt entstand, als Reaktion auf einen mehr oder weniger bewusstlosen Sprung in der Geschichte von Produktion und Ausbeutung, als Vertreibung vieler Menschen (und bei so vielen war das ganz wörtlich zu nehmen) aus ihrer Heimat und aus ihren Genealogien, macht letztlich noch heute den Kanon der dystopischen Erzählweisen in den Filmen, den TV-Serien oder den Computerspielen aus: der Zivilisationsbruch und die unversöhnliche (durch kein göttliches Gesetz, durch keine Gnade oder keine Symbolkraft abzumildernde) Trennung der Bevölkerung in die Besitzenden und die Ausgebeuteten, dazwischen eine allmählich sich entwickelnde Klasse, deren Mitglieder weder zum einen noch zum anderen gehören, nicht Kapitalisten und nicht Proletariat sind, eine Klasse, die für ihre moralische Korruption mit einem schweren Los, einer unentwegten Furcht vor den eigenen Gespenstern, bestraft wird – das Kleinbürgertum, eben jene Menschen, die zu den Konsumenten dystopischer Fantasien werden.

Aus dem Klassenkampf entsteht ein totalitärer bis terroristischer Staat, der die Menschen in eine Form von Unterdrückung bringt, die schlimmer als Sklaverei und Leibeigenschaft ist. Die beständige weitere Entwertung der menschlichen Arbeit und die Ersetzung durch Maschinen. Der ungemeine Rohstoffhunger dieses Systems, das zur Vernichtung der Ressourcen, der Umwelt, der Natur und des Lebens selbst führen muss. Die Verbindung von terroristischem Staat und Überwachungstechnologie zu einer Metamaschine, die die Menschen von ihrer Biografie, ihren Emotionen, ihrer familiären und sozialen Struktur, schließlich ihrer Identität entfremdet: Menschen, die weniger wert sind als Maschinen, werden zu Nummern, und am Ende zu überflüssigen Menschen, zu Wesen, die nicht lebendig und nicht tot sind, zu organischem Abfall. Aber nicht nur mit Gewalt wird die Revolte unterbunden, sondern auch mit immer perfekteren Mitteln von Ablenkung, Unterhaltung, Illusion. So auf sich selbst zurückgeworfen, bleibt dem Einzelnen nichts anderes, als dieser Gesellschaft den Rücken zu kehren und die Flucht anzutreten.

... Menschen, die weniger wert sind als Maschinen, werden zu Nummern, und am Ende zu überflüssigen Menschen, zu Wesen, die nicht lebendig und nicht tot sind, zu organischem Abfall.“

Man wird es nicht weniger drastisch sagen können: Das Dystopische als Motiv der populären Kultur ist ein zugleich antikapitalistischer und antirevolutionärer Impuls. Natürlich haben auch die staatswirtschaftlichen, industrialisierten Gesellschaften des Ostens dystopische Fantasien erzeugt. An Ausbeutung, Entfremdung und Gewalt hat es auch hier nicht gefehlt; zum offenen Genre freilich konnten sie sich hier gewiss nicht entwickeln.

Dystopische Fantasien in der Mainstream-Kultur sind demnach nicht nur an die Krisen des Wirtschaftssystems gebunden, sondern auch an die Liberalität der politischen Kultur. Die Dystopie ist eine zwar drastische, in gewissem Sinne aber auch unscharfe Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, sie sieht das Schlimmste eintreten, entfaltet aber auch eine fatalistische Lust; sie vollzieht den Verlust, von dem sie handelt, einen sozialen, kulturellen, politischen und schließlich auch emotionalen, subjektiven Verlust immer auch selbst.

Als Genre erzeugt die Dystopie ein weiteres Paradoxon: ein Grauen, das in gewisser Weise gerecht, sinnvoll, ja sogar „schön“ ist. Die Dystopie nimmt ihren Konsumenten einen Teil der Verantwortung von den Schultern. Und wird, sieht man etwa Fritz Langs Film Metropolis als bildhaften Prototyp, in jeder Akzentverschiebung und in jedem Versöhnungsansatz auch wieder leicht ideologisch. Anders, sozusagen nach den Techniken der Kultur, formuliert: Die narrativ/bildhafte Dystopie muss auf irgendeine Weise das Unerträgliche, das sie evoziert, doch wieder erträglich machen, wozu sich, unter vielem anderen, der ästhetische Genuss, die ironisch-sarkastische Brechung, die mythische Rettung, der erwähnte ideologische Ausweg, der Umschlag in Metaphysik oder – am furchtbarsten – die Kreation eines „Sündenbocks“ eignen.

Das Dystopische als Motiv der populären Kultur ist ein zugleich antikapitalistischer und antirevolutionärer Impuls.“

Seit dem 19. Jahrhundert und der industriellen Revolution sind Dystopien in Wellen durch die Kultur im Allgemeinen und durch das dafür besonders zuständige/anfällige Genre der Science-Fiction im Besonderen geschwappt. Sie haben sich dabei natürlich in Analogie zu den Krisen der Ökonomie und ihren gesellschaftlichen Folgen entwickelt: Die Entwicklung der Fließbandarbeit und der modernen Medien, die Massenproduktion und die Militarisierung der Technologie, der „Konsumismus“ der Nachkriegsjahre und die Ölkrisen spielten dabei ebenso ihre Rollen wie, in unseren Tagen, Digitalisierung und Globalisierung, die weitere Entwertung der menschlichen Arbeit, die Irrationalität des Finanzkapitalismus, die Entwicklung der künstlichen Intelligenz und die Herrschaft von Big Data.

Immer wieder neue Hoffnungen (die Utopie von der Überwindung der menschlichen Schwächen), immer wieder neue Enttäuschungen (die Potenzierung von Gier, Gewalt und Entfremdung). Dystopie ist ein signifikanter Teil unserer Kultur geworden; zusammen mit der vielleicht nur teilweise tröstlichen Hoffnung auf ein „Gewinnenkönnen“ noch unter widrigen Umständen, hat sie schon die Kinderkultur erobert. Das Dystopische hat unter anderen Schreckensbildern die kulturelle Hegemonie angetreten. An welche Utopien wäre denn auch noch zu denken? Lebt es sich doch immer noch in einer Welt der bekannten Schrecken leichter als im unwägbaren Unterwegs zum Nicht-Ort der Utopie.


II

Das Dystopische, auch in der Literatur, lebt vom Bild. Autoren wie H. G. Wells oder George Orwell, die Urväter der SF-Dystopie, waren vor allem Bilderzeuger, ließen Pein und Entsetzen körperlich spüren. Sie erzählten, anders gesagt, im Gegensatz zu den Urgroßvätern der Dystopie (mit Müttern können wir da nicht dienen, es sei denn, man läse Ayn Rand gegen den Strich: „Es gibt keine schlechten Gedanken außer der Weigerung zu denken.“), nicht vom Zeugen, sondern vom Subjekt her. Der Ort der Dystopie liegt am anderen kosmischen Ende vom Nicht-Ort der Utopie, weit draußen, nämlich in der Seele des Einzelnen. Die Dystopie musste Film werden, u.a., damit wir sie durch „Heldinnen“ und „Helden“ sehen können.

Der dystopische Film unterscheidet sich vom apokalyptischen oder postapokalyptischen Film ebenso wie vom futuristischen Desaster-Movie und vom Invasionsfilm der Krieg der Welten-Art. Er schildert nicht eine Katastrophe als kommendes Ereignis, sondern katastrophale Zustände in der Zukunft. Katastrophale Zustände, um genau zu sein, die in der Gegenwart der Filmproduktion „irgendwie“ abzusehen sind. Die menschliche Gesellschaft hat sich ihre Hölle selbst erzeugt, weder Aliens noch „Natur“ sind daran schuld.

Dystopie einfach als negative Utopie zu bezeichnen, geht also an einem wesentlichen Merkmal von beidem vorbei: Das Utopische bezeichnet ja von jeher den „Nicht-Ort“, das, was man träumen kann, was aber nicht existiert, vielleicht auch nicht existieren kann. Die Dystopie dagegen bezeichnet den schlechten, den bösen Ort, auf den sich Gesellschaft durchaus real hinbewegt. Die Dystopie liegt uns viel näher als die Utopie, und in seinem Wesenskern verhandelt das Genre Science- Fiction, also die (irgendwie) wissenschaftlich bedingte Erzählweise in die Zukunft hinein, Dystopisches. Selbst die Abenteuer der optimistisch-liberalen Crew des Raumschiff Enterprise führen von einem dystopischen Gesellschaftsentwurf zum anderen; nur dass man sie hier mit etwas Tatkraft, gutem Willen und unerschütterlicher postimperialer Moral überwinden kann. Auf Erden ist uns weniger zu helfen.


III

Längst haben wir einen Kanon der Dystopien in Film und Fernsehen; die katastrophalsten Zustände sind uns vertraut, und nur durch eine besondere Zuspitzung, einen heftigen Look oder die Steigerung von Sarkasmus und/oder Technik sind wir noch aus unserem dystopischen Dämmerzustand zu holen.

1. Eine Gesellschaft der Unterdrückung, Ausbeutung und der Gewalt

In Metropolis von Fritz Lang haben die Superkapitalisten mit den Maschinen die Herrschaft über ein ermattetes Heer von Arbeitern übernommen, die in einer finsteren Unterstadt ohne Hoffnung vegetieren. George Lucas greift in seinem ersten langen Film THX 1138 die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen noch einmal auf. In seiner Dystopie tragen die Menschen nur noch Nummer-Bezeichnungen, werden durch Medikamente ruhiggestellt und erzeugen, allseitig überwacht, Roboter, die sie ersetzen werden.

Basierend auf Ray Bradburys Roman schildert François Truffaut in Fahrenheit 451 eine zukünftige Gesellschaft, in der das Bücherlesen unter Strafe verboten ist. Gegen diese „entkultivierte“ Gesellschaft stellt sich eine Geheimgesellschaft der Büchermenschen: Jeder kann ein Buch auswendig, jeder ist ein Buch. Ist das ein utopischer Schimmer – oder die nächste Umdrehung der Dystopie? Bis heute bleibt Truffauts Arbeit für die Interpretation offen.

Die Zukunft als Gefängnis – und das Gefängnis der Zukunft: In John Carpenters Escape from New York ist die Insel Manhattan zur Gänze zum Gefängnis erklärt worden; niemand soll herein und niemand heraus.

Die Filme von Fahrenheit 451 bis Escape from New York entstanden in der Phase der Massenproduktion und der Überflussgesellschaft. Und sie handeln vom Preis, der dafür bezahlt wird, dass eine solche Gesellschaft weiter „funktioniert“. In der späteren Fortsetzung von Carpenters Film, in der Comicversion von Bradburys Stoff und schließlich in dem französischen Film Ghettogangz – Die Hölle vor Paris von Pierre Morel, der im Jahr 2004 eine ganz ähnliche Geschichte wie Escape from New York erzählt, sind die Motive Entkultivierung, Kannibalismus und Supergefängnis spürbar näher an unsere Alltagserfahrung gerückt. Keine Zukunftsvision mehr, die Realität von No-go-Areas (wie der Banlieue von Paris) ist ganz nahe, und an die Kraft einer Buchkultur ist ohnehin nicht mehr zu glauben.

2. Die Parallelschöpfung

Androiden, Roboter, künstliche Intelligenz, Cyborgs – es scheint ein Menschheitsprojekt, eine zweite, posthumane Schöpfungsgeschichte zu schreiben, von der offensichtlich nichts Gutes zu erwarten ist. Im „Normalfall“ machen die denkenden, menschenähnlichen Maschinen ihre Schöpfer überflüssig und verlangen von ihnen, die Herrschaft über die Welt abzutreten. Im Konfliktfall führen sie Kriege; sie treiben die Kriege der Menschen über die Vernichtungsgrenze hinaus oder unterdrücken gewaltsam den Aufstand der Menschen gegen die Maschinenherrschaft. Aber auch der entgegengesetzte Fall ist wahrscheinlich: Die denkenden, androiden Maschinen werden von den Menschen wie Sklaven und Dinge behandelt, leiden unter dem Entzug von Rechten, die ihnen nach Moral und Bewusstsein zustünden, entwickeln ein tragisches Verständnis ihrer eigenen Existenz.

Vom Golem über den Robby in Forbidden Planet (der die Nachfolge eines Shakespeare-Kobolds übernommen hat) bis hin zu allerlei paranoiden Androiden oder gefährlich denkenden Computern wie in Stanley Kubricks 2001 erweist sich diese Parallelschöpfung nicht bloß als nächste Variante des Zauberbesens, den der Mensch nicht mehr „abschalten“ kann, nicht bloß als Öffnung der Büchse der Pandora, sondern immer auch als Symptom einer gesellschaftlichen (Fehl-)Entwicklung. Und während er noch versucht, den Unterschied zwischen echten Gefühlen und Simulationen zu bestimmen, entkommt die zweite Schöpfung, wie in Ex Machina schon, um unerkannt, aber mörderisch unter den Menschen zu wirken. Wenn die erste industrielle Revolution den Beginn der modernen dystopischen Erzählung markierte, so ist die Herrschaft der Maschine gleichsam der Endpunkt; danach beginnt schon wieder eine ganz andere Geschichte, vielleicht eine Utopie, wie in dem Animationsfilm WALL⋅E, dem einsamen kleinen Aufräum-Roboter, dem Gegenbild zu einer verfetteten und verblödeten Menschengesellschaft.

Eine Gesellschaft mit denkenden Maschinen müsste sich gleichsam demokratisch neu erfinden, um ihre kapitalistische Entfremdung zu überwinden; da sie, was unsere Dystopien anbelangt, gerade das Gegenteil unternimmt, entsteht eine Form der kollektiven Paranoia. Die Menschen können sich selbst von ihren androiden Parallelwesen nicht mehr unterscheiden und machen, wenn diese ihre „Menschenrechte“ einfordern, erbarmungslos Jagd auf sie in Blade Runner. Ansonsten gehen Fast Food, Bürostress, Fernsehen und Reklame weiter, nur mehr vom selben gibt es, was auf die schlimmste aller Dystopien verweist: dass alles so weitergeht wie bisher.

3. Die Welt ohne Liebe

Gewiss könnte man Liebe, Sexualität, Sinnlichkeit und auch Solidarität und Freundschaft mit Gewalt unterbinden. Jede Macht entwickelt sich schließlich aus eben der Fähigkeit, Körper und Kommunikation zu unterwerfen. In Jean-Luc Godards Alphaville sind Liebe und Poesie verboten. In Z.P.G. (Zero Population Growth) wird das Problem der Überbevölkerung auf einer verschmutzten Erde durch ein Geburtenverbot für 30 Jahre durch eine Weltregierung gelöst; Verstöße werden mit der Todesstrafe geahndet.

Was aber, wenn nicht Tyrannei, sondern gesellschaftlicher Wandel selbst, in Allianz mit dem Fortschritt der Life Sciences, den Tod von Liebe und Mitleid als Preis für einen perfekten „neuen Menschen“ verlangt? In Gattaca von Andrew Niccol geht es um einen genetischen Wahn; nur die „einwandfreien“ Menschen sollen leben, alles Unvollkommene soll ausgemerzt werden.

Die tückischste Form der Dystopie ist jene, die zunächst in Form der Utopie erscheint. Eine Welt, die nicht durch ihre Defekte auffällt, sondern durch ihre unbarmherzige Perfektion. Das geht so in dem Film The Stepford Wives (die ideale Frau für den amerikanischen Kleinbürger ist der Roboter) oder auch in Anderland, wo ein Mensch in eine Kunstwelt gerät, in der nichts mehr zu schmecken und zu fühlen ist.

Die „emotionale Vergletscherung“, von der Michael Haneke spricht – und auch seine Filme können bis zu einem gewissen Grad als Dystopien gesehen werden – hat in Perfect Sense besondere Auswirkung: Dem geforderten radikalen Egoismus steht eine Gefahr gegenüber, der Ausbruch von Liebe, ganz buchstäblich: wie eine Krankheit. Wer von ihr ergriffen wird, erfährt einen Verlust von Sinnen, von dem Geruchssinn zuerst, dann dem Hören – und schließlich wird auch das Sehen vergehen. Der empfindende und der brauchbare Körper passen einfach nicht mehr zusammen. Und von Alphaville bis Perfect Sense (ein Film, der sich immer wieder an Godards Film anlehnt) ist dieser Prozess der Entfremdung deutlicher und drastischer geworden.

4. Simulacrum 4.0

Simulacron-1, das war die Maschine in Rainer Werner Fassbinders Welt am Draht: Die Menschen sind hier in eine simulierte Umwelt geworfen, in der sie mit einem eigenen Bewusstsein bestehen sollen, aber aus der Welt dieses „Großrechners“ ist in Wirklichkeit nicht zu entkommen; was sich als Kontrolle ausgibt, ist vielleicht nichts anderes als nur eine von mehreren Ebenen der Simulation. Welt am Draht geht auf den Roman Simulacron-3 von Daniel F. Galouye zurück, der direkt oder indirekt auch Josef Rusnaks The 13th Floor und die Matrix-Trilogie inspirierte.

In der neueren Zeit machte – nach dem Erfolg der Matrix-Filme – vor allem der subjektive Faktor in der Mensch-Maschine-Kommunikation ein wesentliches Merkmal aus: Sind Gefühle so zu simulieren, dass sie „echt“ wirken? Auf die Frage nach der Mechanik (die Entwertung des Menschen durch die Maschine), nach der Macht (Terror durch ökonomisch-politische Hybride wie in Blade Runner, Day of the Dead oder Immortal), nach der Seele (Liebesverbot und Entsolidarisierung; der Körper als Krankheit) folgt die Frage nach der Wirklichkeit. Und wir könnten nun bereits eine genauere Bestimmung unserer Dystopie vornehmen: Es geht um all das, was dem Menschen von seiner Menschlichkeit abhandenkommt, nicht durch den Tyrannen von außen, sondern durch seine eigene Entwicklung.

Was Big Data mit den Menschen anrichtet, wird immer wieder Gegenstand der Untersuchung, etwa in Minority Report, wo man, wenngleich mit einer magischen Zugabe, den Traum aus der Gegenwart erfüllt hat, Verbrechen zu erkennen, bevor sie begangen werden. Der Mensch der Zukunft wird schließlich um eben diese betrogen: die Zukunft.

5. Bestie/Mensch

Der Albtraum der Zivilisation besteht in der Bestimmung eines Punktes, an dem es nicht mehr um die Gestaltung des Lebens, sondern um das „nackte“ Überleben geht. Um diesen dramatischen Punkt sind natürlich auch viele Heldengeschichten aufgebaut – im Western, im Abenteuergenre, im Thriller und natürlich im Horror. In der Science-Fiction gibt es diesen dramatischen Punkt auch als Folge einer kollektiven Katastrophe: Wenn sich die Mehrheit der Menschen ausgerottet oder unheilvoll verwandelt hat, bleibt den Verbliebenen nur noch der Überlebenskampf.

Die Zombies sind seit ihrer Wiedergeburt durch George A. Romero als soziale Metaphern überdeutlich. Es sind die „Überflüssigen“ und „Verdammten“ dieser Welt, die – auf ein animalisches Aggressionsverhalten reduziert – der Gesellschaft einen Rückfall in barbarische, vormoderne Verhaltensweisen aufdrängen. In der TV-Serie The Walking Dead z.B. wird in einer Welt, die weitgehend von den Zombies beherrscht wird, die Möglichkeit der Gemeinschaftsbildung unter solch extremen Bedingungen erprobt und immer wieder aufs Neue infrage gestellt. Wie bei Romeros Zombiefilmen im Kino geht es hier vor allem um die Menschen, die selbst unfähig sind, ein humanes, liberales und empathisches Gegenbild zum Terror herzustellen.

6. Maschinenwelt

In Metropolis sehen wir, wie die Maschinen buchstäblich zum Moloch werden, und ein Krieg ist so wenig von der Hand zu weisen (wie in den Terminator-Filmen) wie eine ewig währende Polizeiaktion gegen alles, was sich der Hierarchie von herrschenden Menschen und dienender Maschine entgegensetzt (I, Robot oder Blade Runner). Dass die Maschinen verhängnisvolles Eigenleben entwickeln (wie in der Zeit der Schwarzen Romantik die Puppen, Automaten und Abbilder), spielen zahlreiche Filme am Rand zwischen Science-Fiction und Horror durch, darunter etwa Blinky (die Geschichte eines Roboter-Hundes), und in den Star Wars-Filmen gibt es neben den Armeen von Klonkriegern auch sehr menschliche Roboter. Nachdem also im Krieg der Maschinen gegen die Menschen die Konkurrenz um Arbeit und Zukunft widergespiegelt wurde, geht es nun auch um die Kommunikation. Was, wenn Menschen die Gefühle, die sie untereinander nicht mehr entfalten dürfen, auf Maschinen projizieren, und was, wenn die Menschen mit ihrer Parallelschöpfung auch – was Bewusstsein oder Weisheit anbelangt – nicht mehr mitkommen? Die Gesellschaft, die nur in Profit, Wachstum und „Fortschritt“ denkt, vermag dem Menschen einfach keinen Sinn mehr zu vermitteln. Aber eben das macht auch die Maschinen krank. Und so sehen wir, wie beim Millennium Man, den Maschinen beim Leiden zu. Neben die Furcht vor der Minderwertigkeit tritt die Entwicklung von Schuld.

7. Brot und Spiele

Dass wir uns zu Tode amüsieren, das nimmt der Science-Fiction-Film in einigen Exemplaren durchaus wörtlich: In der Welt der Zukunft, in der es kein ökonomisches und schon gar kein kulturelles Wachstum mehr gibt, sind Spiele um Leben und Tod das Einzige, was die Menschen noch fesselt und von der Revolte abhält. Dies wird in Running Man durchgespielt; in Deutschland hat Wolfgang Menge mit seinem Millionenspiel eine Art Doku-Dystopie dazu für das Fernsehen gemacht. In den Hunger Games-Filmen wird aus den Gruppenspielen um den Tod eine Teenager- und Coming-of-Age-Fantasie. Drastischer spielt Battle Royale aus Japan das Motiv durch: Der unbarmherzige Leistungsdruck auf Schüler entlädt sich in einem Überlebenskampf.

Eine der größten dystopischen Befürchtungen, dass zwischen Spiel und Wirklichkeit nicht mehr unterschieden werden kann, steht im Mittelpunkt von The Game. Einerseits wird für die Menschen der dystopischen Zukunft das Spiel zur einzigen Lebensbeschäftigung, andererseits aber ist zwischen Spiel und Wirklichkeit nicht mehr wirklich zu unterscheiden.

Auch Total Recall (mittlerweile zum zweiten Mal verfilmt) beginnt mit der Idee eines totalen Entertainments: einfach jemand anderes sein. Was aber, wenn die zweite Existenz wirklicher ist als die erste? Das geht um einige Grade tiefer als die bedrohlichen Unterhaltungsmaschinen in Westworld und Futureworld, damals die Hollywood-Avantgarde des dystopischen Films: Ein Revolverheld-Roboter (Yul Brynner in einer Replik seiner Rolle in The Magnificent Seven), der anfängt, wirklich auf die Besucher eines Western-Erlebnisparks zu schießen, die sich zum Vergnügen mit ihm messen, und die Herstellung exakter Repliken, das ist nur halb so grauenerregend wie der Eingriff in Subjekt und Biografie.

Eher sanftere Varianten der medialen Dystopie sind Die Truman Show (die Geschichte eines Lebens, das in Wahrheit als Soap-Opera ausgestrahlt wird) oder Pleasantville (das Abtauchen in einen ewig laufenden Fernsehfilm der Vergangenheit). Und vielleicht begreifen wir hier, dass nicht nur eine Verbindung von Dystopie, Nostalgie und „postmoderner Erzählweise“ möglich ist, sondern womöglich umgekehrt Letzteres eine Reaktion auf dystopische Erfahrungen ist. Denn der letzte Angriff gilt der (Bild-)Sprache und den Erzählmaschinen selbst, so wie wir in der blutigen Mediensatire von Oliver Stone Natural Born Killers die Kamera in den Dreck geworfen bekommen. Die Dystopie der Dystopien: Es gibt nichts mehr zu erzählen. Es gibt keine Bilder mehr (es sei denn die falschen, an die niemand mehr wirklich glaubt, die verbrauchten und verlogenen … die nostalgischen).

8. Zerfall und Zerstörung

Der größte Unfall der Menschheitsgeschichte ist der Krieg, und abgesehen von dem unendlichen Leid für die einzelnen Menschen hat er drei apokalyptische Enden: der Krieg, der nicht mehr aufhört, sondern zum „Normalzustand“ wird; der Krieg, den eine terroristische Seite über eine zivile gewinnt, und der Krieg, der das Ende der Geschichte für alle Beteiligten bedeutet. Die Welt ist entkörpert, entseelt, entsozialisiert, entbildert und entrationalisiert. Nun ist sie, was in etlichen Gegenden der Welt schon eingetreten ist, für Menschen ganz einfach nicht mehr bewohnbar. Auch die große Evasion, der Flug in den Weltraum, die Umsiedlung unter die Erde (wie in 12 Monkeys), die Besiedlung des Ozeans hat nur in neue Katastrophen geführt, denn der dystopische Mensch ist allein auf eine topografische, raumzeitliche Weise nicht mehr zu retten.

So bleibt ein letztes Nomadentum, das wir aus den Zombie- Apokalypse-Filmen kennen, und das in Snowpiercer seinen drastischen Ausdruck findet: Nach der großen Umweltkatastrophe ist eine neue Eiszeit ausgebrochen und die letzten Menschen haben sich in einem gewaltigen Zug gefunden, der ohne Pause um die Welt rast. War etwas zu lernen? In diesem Eisenbahnzug hat sich wieder die alte Hierarchie entwickelt, alte Privilegien, alte Ausbeutung, alte Lügen, eine kleine Gesellschaft als böse Karikatur der unseren. Die Gewinner vorn, die Verlierer hinten. Und der Aufstand gegen die Terrorherrschaft, für die der Zugführer Wilford steht, könnte zugleich das Ende der Überlebensbewegung bedeuten.

Utopia, das ist der Ort, der immer ferner zurückblickt, je näher man ihn ansieht; Dystopia, das ist der Ort, der umso näher rückt, je weiter man sich von ihm entfernen will.“

Eine Gesellschaft, die über ein Übermaß an Disziplinierungs- und Kontrollmitteln verfügt und dem Einzelnen die Freiheit verweigert, steht einer anderen gegenüber, die Disziplinierung und Kontrolle entweder vollkommen aufgegeben oder aber „freien“ Kräften überlassen hat. In A Clockwork Orange schildert Stanley Kubrick die Terrorherrschaft von Straßengangs, um anschließend einen nicht minder destruktiven Vorgang der „Resozialisierung“ durch Aversionstherapie durchzuspielen: schwer auszumachen, was der am meisten dystopische Aspekt der Geschichte ist.

Und neben dem Ende der Zivilisation das Ende der Spezies, vielleicht: Sehr nah an unseren Verhältnissen ist City of Men. Die Menschen bekommen keine Kinder mehr, der jüngste Mensch der Welt ist gerade mit 18 Jahren gestorben, und als wäre dieses absehbare Aussterben der Menschheit kein Grund zum Zusammenhalt, zerfallen die Gesellschaften und Staaten weiter, entwickeln Kriege und Bürgerkriege und Gemeinschaften mit einem ausgeprägten Fremdenhass. Ein heruntergekommenes England schafft es als Insel, sich gegen den Rest der Welt hermetisch abzuschotten. Für alles Nichtenglische gibt es Gettos und Gefängnisse. Wieder begegnen sich Dystopie und Dokumentarismus, wieder zitiert die Fiktion einer schrecklichen Zukunft die Bilder einer schrecklichen Gegenwart (wie die aus dem Gefangenenlager Guantanamo), und wieder ist eines überdeutlich: An diesem Desaster ist niemand anderes schuld als die Menschen selbst, jeder Einzelne, mehr oder weniger. Utopia, das ist der Ort, der immer ferner zurückblickt, je näher man ihn ansieht; Dystopia, das ist der Ort, der umso näher rückt, je weiter man sich von ihm (und sei es durch die Bannung der Fiktion) entfernen will.

9. Durch die Zeiten

Die fantastische Reise ist seit den Satirikern des 18. Jahrhunderts ein populäres Instrument, den dystopischen Ansatz zu verbrämen. Der gute Lemuel Gulliver gerät auf seinen Reisen von einer dystopischen Gesellschaft in die andere – und alle haben durchaus verdächtige Ähnlichkeiten mit der englischen Gesellschaft seiner Zeit; wie so viele Buchausgaben, so verkürzten auch die meisten Verfilmungen das Geschehen auf das Maß eines abenteuerlichen Kinderbuches.

Ein neuerer Versuch, mithilfe von Zeitreisen aus der Falle des dystopischen Erzählens zu gelangen, ist Terry Gilliams 12 Monkeys: Im Jahre 2035 haben sich die Überlebenden einer globalen Virus-Katastrophe unter der Erde eingebunkert; um die Katastrophe zu überwinden, soll ein Strafgefangener auf Bewährung eine Zeitreise antreten – zu dem Punkt, als alles begann. Unglücklicherweise landet James Cole aber in einer Nervenheilanstalt, was die Möglichkeit eröffnet, bei alledem handele es sich um nichts anderes als eine überbordende Paranoia. Aber es ist eben doch ein wenig komplizierter. Oder noch einfacher, wie man es nimmt. Denn vielleicht ist ja die große Krankheit, die den Planeten Erde befallen hat, eben einfach der Mensch, und es gibt nur eine wirkliche Erlösung. Nämlich sein Verschwinden.


IV

Der dystopische Zustand ist ja nicht wirklich zu ertragen, zugleich aber ist er von einer Wucht, die eine einfache Lösung (sagen wir: die Vernichtung eines Tyrannen, die Befreiung eines Volkes) eher unwahrscheinlich macht. Neben dem Umschlag ins zyklische Geschichtsbild von notwendiger Zerstörung mit anschließendem Wiederaufbau erleben wir daher immer wieder den Umschlag in eine metaphysische oder (wie auch immer verkleidete) religiöse Bedeutung. Sehr deutlich etwa sind bestimmte Gefährdungen der Zukunftsgesellschaft im Genre an die „sieben Plagen“ der Bibel angelehnt; oft genug erscheint der furchtbare Zustand der Menschheit als Strafe für Unmoral und Gottesferne; Zukunftsstädte, selbst Metropolis mit seinem Vergnügungsviertel, erinnern an Sodom und Gomorrha, wir begegnen immer wieder Gestalten, die an Hiob erinnern, es ist, alles in allem, ein alttestamentarisches Genre.

Was uns erstaunen mag an unseren dystopischen Filmvariationen, liegt weniger in einer Vielfalt der Schreckensszenarien, als darin, dass sie in teils sehr genauer Weise Elemente unserer Gegenwart hochrechnen. Wir haben uns im Genre der Science-Fiction (oder zumindest am Rande davon) ein sehr genaues Drehbuch für den Untergang erzeugt, das nicht den Regeln der „Katastrophenfantasie“ gehorchen muss (der lustvollen Beschwörung eines Ausnahmezustandes), sondern eher einem pessimistischen Realismus gehört. Der dystopische Film ist bemerkenswert kohärent: Um den Untergang der Menschheit zu beschreiben, bedarf es eher der Präzision als der Fantasie.