Echt jetzt?

Die virtuelle Konstruktion der Wirklichkeit

Uwe Breitenborn

Dr. Uwe Breitenborn ist hauptamtlicher Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), Dozent, Autor und Bildungsreferent bei der Medienwerkstatt Potsdam.

Nicht nur im boulevardesken Blätterwald war im Mai 2022 mächtig was los. Deutschland trauert, so tönte es. Was war geschehen? Das digitale Traumpärchen Bianca und Julian Claßen, besser bekannt als die Influencer von BibisBeautyPalace, erklärten via Instagram ihre Trennung. Schockierend, oder? Insbesondere die mediale Verarbeitung und die Reaktionen der Fans und Follower ließen diesen „Vorfall“ zu einem Lehrstück hinsichtlich parasozialer Interaktion werden. Und wieder stellt sich die Frage: Wie sozial sind eigentlich parasoziale Beziehungen? Und was ist echt?

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 32-37

Vollständiger Beitrag als:


Medien sind heutzutage auch Sozialisationsräume. Die meisten Medienformate liefern letztlich immer auch Angebote zur Orientierung und Wertevermittlung. Entscheidend ist, wie sich Rezipienten, User und Follower dazu in Beziehung setzen. Aber wann wird aus einer Faszination oder Identifikation auch eine parasoziale Interaktion? Manche meinen, dass bereits ein Gebet eine parasoziale Beziehung ist, denn wir setzen uns ja mit einem imaginären Gegenüber in Kontakt. Doch ganz so einfach ist es nicht. Die Interaktion ist das A und O. Diese Abgrenzung ist wichtig.

„Parasoziale Interaktion (PSI) steht für einen spezifischen Modus, mit dem sich Rezipienten zu den in den Medien dargestellten Akteuren in Beziehung setzen. Während Identifikation und Imitation in der Regel den Wunsch ausdrücken, einer Medienperson ähnlich zu sein, beschreibt die parasoziale Interaktion das Phänomen einer ‚partnerschaftlichen‘ Auseinandersetzung“ (Wegener 2008, S. 294).
 

Wer ist dümmer? (BibisBeautyPalace, 10.04.2022)



„was is los mit dir“

Was sich Ende Mai in den Kommentarbereichen der Social- Media-Kanäle von BibisBeautyPalace abspielte, war durchaus prototypisch für diese Art der Kommunikation. Zahlreiche Followerinnen und Follower wendeten sich direkt an Bianca, appellierten an sie, forderten Erklärungen oder hielten vermeintlich Zwiesprache mit ihr. Unter den Instagram-Posts, die sie nach der Trennung im Urlaub in Italien zeigen, finden sich beispielsweise solche Kommentare:

  • angelina.wttg: Lass es bitte ein prank sein [verärgerter Smiley]
  • i3209i: ich bin so enttäuscht
  • jacquii_hu: Was ist aus dir geworden? [trauriger Smiley] das ist nicht unsere Bibi
  • louisa.ibrahim: bist nicht mehr die alte
  • hannapaulklee: Mach doch bitte mal ein Statement!
  • melly_mina: Wow wieder so tun, als wär nix
  • jan_inex3: Es nervt nur noch. Sag endlich was Sache ist [genervter Smiley]
  • sina.m.jane: Richtig peinlich wie du dich benimmst. TU doch wenigstens so als würde dir deine Familie was bedeuten. Traurig wie du geworden bist
  • x.maxxii: was is los mit dir1


In dem hier beobachtbaren Umgang mit der medialen Bezugsperson Bibi (Bianca) zeigt sich recht klar, dass die imaginäre Beziehung so wirkt, als sei sie nicht medial vermittelt, sondern tatsächlich gelebt. Direkte distanzlose, emotionale Ansprache und persönliche Belange stehen im Vordergrund. Die Rolle der User ist in parasozialen Interaktionen durchaus ambivalent, denn der weitgehend imaginäre Charakter der Beziehung erlaube es, so Wegener, diese frei von Verpflichtungen und Verantwortlichkeit zu führen. „Rechtfertigungen oder Erklärungen für das eigene Verhalten bleiben außen vor, kommt es doch kaum zum persönlichen Kontakt zwischen den ‚Beziehungspartnern‘“ (ebd.). Und viele der Follower nahmen das Beziehungsende offensichtlich auch sehr persönlich. Kein Wunder, waren sie doch lange auch ein Teil eines Influencerunternehmens, das mit suggerierter Nähe, biederen Alltagsgeschichten und einer immensen Produktpalette Aufmerksamkeit zog. Zudem zeigt sich, dass dieser Art von Kommunikation eine romantisierte Vorstellung des Beziehungslevels zugrunde liegt. Denn beim besten Willen: So richtig persönlich kann es bei Millionen Followern kaum werden. Nähe und Beziehung bleiben eine Projektion.
 

Follower und Moneten

Nach der Trennung durchstöberten Scharen von Followern das Netz, um in altem Bildmaterial Hinweise auf das Ende der Beziehung von Bianca und Julian zu finden. Jedes Detail wurde als Zeichen interpretiert. Kommentieren, recherchieren, chatten, partizipieren – das war das Bedürfnis. Diese Trennung sei schlimmer als die Trennung der eigenen Eltern, meinten einige (vgl. Schmid 2022). Die Anteilnahme war also riesig. Immerhin hat allein der Instagram-Account BibisBeautyPalace etwa 8,2 Mio. Follower (Stand: 29.05.2022). Ob nindo.de, stylebook.de, gruender.de oder andere – das Netz ist voll mit Charts, in denen die erfolgreichsten Influencer der Plattformen YouTube, TikTok, Instagram u. a. „gerankt“ sind – im Fokus natürlich die Followerzahlen und Euroerträge pro Post. BibisBeautyPalace spielt dort immer in der oberen Liga mit. Laut der britischen Vergleichsseite Cosmetify (siehe stylebook.de, 21.04.2021) gehört Bianca „Bibi“ Claßen auch im internationalen Vergleich mit Platz 9 im Ranking zu den Topverdienern. Und natürlich zählt sie zu den Schwerstverdienern der deutschen Influencerszene. Laut Schätzungen von vermoegenmagazin.de (23.05.2022) belaufen sich allein Bianca Claßens Einnahmen aus YouTube-Clips auf ca. 70.000 Euro monatlich. Kein Wunder, dass viele Kinder und Jugendliche den märchenhaften Ausmaßen dieses Lebens- und Arbeitsstils staunend gegenüberstehen und sich vielleicht auch daran orientieren. Das kann ja alles nicht so schwer sein. „Ich bin wie du. Echt?“ Der Fall „Bibi und Julian“ ist nur ein kleines Teil im unüberschaubaren Puzzle parasozialer Beziehungsgeflechte, die vor allem, aber nicht nur in den sozialen Medien zu Hause sind.
 

Internalisierung von Wirklichkeiten

Was ist los bei Bianca und Julian? Letztlich geht es um eine „Konstruktion der Wirklichkeit“, womit wir bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann wären. Ihr gleichnamiger Klassiker (1966) ist nun schon über 50 Jahre alt, aber der Gehalt ihrer Theorie lässt sich auch auf Prozesse parasozialer Interaktionen anwenden. Denn die sozialen Medien sowie die allseits ausufernden Medienlandschaften sind heutzutage relevant für die Sozialisation, da sie wichtige Komponenten der Anschlusskommunikation von Kindern und Jugendlichen liefern. Die Autoren fragen, wie es möglich ist, dass subjektiv gemeinter Sinn zu einer objektiven Faktizität wird. Oder anders gesagt: Wann wird die eigene Wahrnehmung zu einer Art effizienter Realität, die auf das eigene Befinden rückwirkt? Soziale Medien bieten uns – unabhängig davon, wie die Realität sich zeigt – eine „sinnhafte“ Wirklichkeit an. Eine riesige Projektionsfläche mit unzähligen Synapsen und Anknüpfungspunkten für unsere Wahrnehmungskanäle. In sozialen Netzwerken begegnen uns alle Formen emotionaler Kommunikation: Zuneigung, Hass, Spott, Häme, Sympathie. Die Netzwerke sind auch wichtig, um sich zu positionieren, auszuprobieren und zu beobachten. So sind die Plattformen auch im Entertainmentbereich äußerst wichtig, um Kommunikationsräume zu Medienformaten zu schaffen. Egal, ob Promis unter Palmen, The Masked Singer oder Die Höhle der Löwen – zu jedem dieser Formate gibt es natürlich Social-Media-Kanäle, in denen rege kommuniziert wird. Auch hier sind Formen parasozialer Interaktionen zu finden.
 


Wann wird die eigene Wahrnehmung zu einer Art effizienter Realität, die auf das eigene Befinden rückwirkt?



Welchen Angeboten wenden wir uns zu und wie nutzen wir diese? Das Phänomen ist nicht neu. Wir kennen es aus identifikatorischen Prozessen, in denen wir Stars folgen und uns mit deren Ideen und Konzepten gemeinmachen. Berger und Luckmann weisen darauf hin, dass Gesellschaft als ein dialektischer Prozess zu verstehen ist, der aus drei simultan wirkenden Komponenten besteht, nämlich Externalisierung, Objektivation und Internalisierung (vgl. Berger/Luckmann 1994, S. 139). Der Prozess der Internalisierung ist für das Verständnis parasozialer Beziehungen von hoher Relevanz. Objektive Vorgänge anderer erlangen bei den Rezipienten – man könnte auch Follower sagen – einen subjektiven Sinn. Was nicht unbedingt bedeutet, die „anderen“ auch richtig zu verstehen. Dieses „Welterfassen“ sei nicht „das Ergebnis selbstherrlicher Sinnsetzungen seitens isolierter Individuen“, sondern es beginne damit, dass der Einzelne eine Welt übernehme, in der andere schon leben (ebd., S. 140). Die Welt der „anderen“ versteht man dann als seine „ eigene“. Für das Verständnis heutiger Social-Media-Welten ist dies ein nicht unerheblicher Link. Es geht um Erlebnisschichten und zu ihnen gehörende Sinnstrukturen. „Die Alltagswelt breitet sich vor uns aus als Wirklichkeit, die von Menschen begriffen und gedeutet wird und ihnen subjektiv sinnhaft erscheint“ (ebd., S. 21). Was hier generell für den Sozialisationsprozess beschrieben wird, lässt sich auf medial geprägte Sozialisationen und erstaunlich gut auf parasoziale Beziehungen beziehen.
 

Ist es gefährlich?

Das bleibt eine Frage der Sichtweise. Parasoziale Interaktion ist dort jugendschutzrelevant, wo sie entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte betrifft, wo sie Formen von Mobbing, Beschämung und Ausgrenzung fördert. Nehmen wir das recht bekannte Beispiel des YouTubers Drachenlord aus Altschauerberg bei Emskirchen, der seit Jahren von Hatern attackiert wird. Die Eskalation rund um den Fall mündete zudem in Gerichtsverfahren, in denen die Justiz den netzkulturellen und tragischen psychosozialen Aspekten des Falles nicht gerecht wurde. Hier schaukelten sich parasoziale Interaktionen hoch und schufen einen realen Raum von Gewalt und Hass.

Die Geschichte vom Drachenlord ist auch eine Geschichte von der Lust am Hass. Es ist eine Geschichte vom Internet als Raum der Entladung der Masse. Eine Geschichte von Plattformen, auf denen Menschen gejagt werden, von Rechtssystemen, die hinterherhinken. Es ist, vor allem, eine Geschichte von jemandem, der so dreist war, sich zu wehren“ (Kreienbrink 2021).

Wie auch immer man diese Geschichte bewertet, sie ist ein Beispiel dafür, dass scheinbar virtuelle Beziehungen tatsächlich in einen realen, problematischen Zustand übergehen können.

Ging es im Jugendschutz früher vor allem um Konfrontationsrisiken, so sind heute Interaktionsrisiken ein Schwerpunkt des Jugendmedienschutzes. In dem von der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) herausgegebenen Gefährdungsatlas 2022 wird das Thema konkret benannt: „Durch die Möglichkeit, Beiträge der Influencer und Influencerinnen zu liken, zu kommentieren und im besten Fall auch Antwort zu bekommen, werden freundschaftliche Nähe und die Teilnahme an deren Leben suggeriert. Das Herausbilden von Idolen und parasozialen Beziehungen ist Teil des Sozialisationsprozesses und der Identitätsfindung […]. Meinungen und Werthaltungen beliebter Influencerinnen und Influencer können für Kinder und Jugendliche damit eine wichtige Informationsquelle darstellen und ggf. Orientierung in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen bieten“ (BzKJ 2022, S. 150).


PSI-Prototypen

Bei Bianca, Julian und ihren Followern haben wir es in Sachen PSI quasi mit Prototypen zu tun. Sich in den virtuellen Welten zu positionieren oder auch nur zu beobachten, ist für heutige Jugendliche ein wichtiger Teil ihrer Sozialisation. Für Leute über 35 sei vielleicht nicht erkennbar, so Birgit Schmid in der „Neuen Zürcher Zeitung“, was der Mehrwert davon sei, zwei Menschen auf ihrem YouTube-Kanal beim Schminken, Trainieren, Hauseinrichten, Blödeln zuzuschauen. Aber das gelte wohl nicht für die Generation, die nun Liebeskummer habe, da sie mit dem Paar aufgewachsen sei, das sich mit 16 verliebte und mit 19 zusammenzog. Das sei der Punkt. Dabei beruhe das Lebensmodell dieser Digital Natives eher auf altmodischen Werten. Sie seien das biedere Paar von nebenan, nur glamouröser, so Schmid. „Die Classens [sic!] zeigten etwas vor, wonach sich viele sehnen. Sie boten ein Stellvertreterleben an“ (Schmid 2022). Und so schließt sich der Kreis zu all den lebensweltlichen Märchen der Influencer. Formen parasozialer Interaktion sind zwar generell in allen Altersgruppen anzutreffen, aber im Kindes- und Jugendalter haben sie eine stärkere Bedeutung. „Vor allem in Phasen der Unsicherheit, die mit der Suche nach Orientierung verbunden sind, aber auch mit dem Wunsch, Probehandeln in quasi-realen Rollen zu versuchen, sind parasoziale Beziehungen attraktiv. Ermöglichen sie doch quasi-soziales Experimentieren, die imaginäre Entwicklung neuer Handlungsrollen und damit das Spielen mit sozialer Mobilität“ (Wegener 2008, S. 295). Insofern bieten uns die sozialen Netzwerke viel empirischen Stoff für weitere PSI-Safaris.
 

Anmerkung:
1) Vgl. www.instagram.com/bibisbeautypalace


Literatur:

Berger, P. L./Luckmann, T.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1994 (im Original 1966)

Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ): Gefährdungsatlas. Digitales Aufwachsen. Vom Kind aus denken. Zukunftssicher handeln. Bonn 20222. Abrufbar unter: https://www.bzkj.de (letzter Zugriff: 30.05.2022)

Kreienbrink, M.: „Drachenlord“ bekommt zwei Jahre Haft. Hass ist eine Form von Gewalt. In: taz, 01.11.2021. Abrufbar unter: https://taz.de

Schmid, B.: Wie sein erfolgreichstes Influencer-Paar halb Deutschland verstört. In: Neue Zürcher Zeitung, 27.05.2022. Abrufbar unter: https://www.nzz.ch

stylebook.de: Ranking! Die bestbezahlten Beauty-Influencer*innen der Welt. In: stylebook.de, 21.04.2021. Abrufbar unter: https://www.stylebook.de (letzter Zugriff: 29.05.2022)

vermoegenmagazin.de: Bibis Beauty Palace: Vermögen und Verdienst von Bianca Claßen (Heinicke). In: vermoegenmagazin.de, 23.05.2022. Abrufbar unter: https://www.vermoegenmagazin.de (letzter Zugriff: 29.05.2022)

Wegener, C.: Parasoziale Interaktion. In: U. Sander/F. von Gross/K.-U. Hugger (Hrsg.): Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden 2008, S. 294–296