Ein Mythos stirbt nie

Tilmann P. Gangloff im Gespräch mit Ralf Junkerjürgen

Der Kulturwissenschaftler Ralf Junkerjürgen ist Professor für romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind das spanische Kino sowie Kultur und Literatur seit dem 19. Jahrhundert. Sein Buch Warum Winnetou wichtig war ist eine essayistische Mischung aus einem Reisetagebuch über seine Ausflüge zu den kroatischen Drehorten der Karl-May-Verfilmungen und zum Teil sehr persönlichen Reflexionen über den Erfolg und die Bedeutung gerade der Winnetou-Filme in den 1960er- und 1970er-Jahren. Um diesen letzten Aspekt geht es auch im Interview.

Online seit 02.10.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/ein-mythos-stirbt-nie-beitrag-772/

 

 

Herr Junkerjürgen, die Geschichte der Bundesrepublik ist ohne Winnetou kaum vorstellbar. Warum war ausgerechnet ein erfundener Apachen-Häuptling für Westdeutschland so wichtig?

Die emotionale Bedeutung des Winnetou-Mythos ist tatsächlich sehr eng mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verknüpft. Die Winnetou-Filme haben das wichtigste Ziel der Regierung Konrad Adenauers, die Integration in die westliche Völkergemeinschaft, gerade dank der beiden Hauptdarsteller perfekt verkörpert: hier der Franzose Pierre Brice, dort der US-Amerikaner Lex Barker.

Die beiden Schauspieler stellen nicht nur die von Karl May geschaffenen Figuren dar, sie repräsentieren in gewisser Weise auch eine historische Normalisierung. Im Dezember 1962 war die Premiere des ersten Winnetou-Films, Der Schatz im Silbersee. Ein paar Wochen später, im Januar 1963, haben Adenauer und Charles de Gaulle den Élysée-Vertrag unterschrieben, der die deutsch-französische Freundschaft besiegelte. Im Juni desselben Jahres hat John F. Kennedy vor dem Rathaus Schöneberg verkündet, er sei ein Berliner. Wo wenige Jahre zuvor noch Heimatfilme die hiesigen Kinos dominiert hatten, wirkte der deutsche Film nun auch dank des CinemaScope-Formats plötzlich sehr international.
 


Die heutige junge Generation kann die Bedeutung der Filme gar nicht ermessen."



Hinzu kamen die inhaltlichen Motive, die schon die Bücher des Spätromantikers May ausgezeichnet hatten, allen voran Zivilisationskritik und Flucht aus der provinziellen Enge, in seinem Fall die des deutschen Kaiserreichs. Die heutige junge Generation kann die Bedeutung der Filme gar nicht ermessen. Der Zweite Weltkrieg war für die meisten Deutschen erst 1989 wirklich vorbei. Das erklärt, warum die Popularität des Mythos Winnetou in den 90er-Jahren peu à peu, aber spürbar nachließ. Damals sind auch die Bücher aus den Buchhandlungen verschwunden.
 

Trailer Der Schatz im Silbersee (Kultkino, 19.11.2009)



Wann sind Sie Winnetou das erste Mal begegnet, warum übt er bis heute eine derartige Faszination auf Sie aus?

Ich bin Jahrgang 1969, also zu jung, um die Filme im Kino erlebt zu haben. Meine Sozialisation erfolgte durchs Fernsehen, das in den 70ern seine Blütezeit hatte. Damals hatten die meisten Haushalte einen Farbfernseher, der das Zentrum des Wohnzimmers bildete, hier versammelte sich die Familie allabendlich einträchtig. Ich habe Der Schatz im Silbersee mit 5 oder 6 Jahren das erste Mal gesehen, allerdings nur wenige Minuten, dann musste ich ins Bett. Doch diese Szenen haben genügt, um mich zutiefst zu beeindrucken, vor allem dank der Winnetou-Figur in Kombination mit der atemberaubenden Landschaft, mit der er regelrecht verschmolz.

Heute weiß ich, dass mich die Ästhetik der Bilder ebenso fasziniert hat wie die Musik von Martin Böttcher. Für mich ist sie eine Fortführung der romantischen Sinfonien und der Opern des 19. Jahrhunderts. Die Musik löst heute noch eine tiefe Sehnsucht in mir aus. Sie korrespondiert so vortrefflich mit der Landschaft, dass man förmlich in die Bilder hineingesogen wird. Für mich als Kleinstadtkind ermöglichten Kino und Fernsehen buchstäblich einen Blick in die große weite Welt, und die Winnetou-Filme sprachen zudem meine kindliche Abenteuerlust an.

Erklärt das auch, warum mit den Jugendlichen der Jahrgänge zwischen 1950 und 1970 eine komplette Generation derart von den Filmen hingerissen war?

Ein ganz entscheidender Aspekt ist in diesem Zusammenhang das Aufkommen einer eigenen Jugendkultur, die maßgeblich von der „Bravo“ geprägt worden ist. Die Zeitschrift und die Filme haben wechselseitig ganz erheblich voneinander profitiert. Niemand war so oft auf dem Titel wie Pierre Brice, von ihm gab es die meisten Starschnitte. „Bravo“ hat sogar Reisen zu den Dreharbeiten in Kroatien verlost.

Anfang der 70er kam mit Playmobil zudem das erste Systemspielzeug auf den Markt. Die Figuren haben in einem enormen Tempo die Kinderzimmer erobert, auch meins, weil sie anders als frühere Spielfiguren beweglich waren. Mit den Cowboys und Indianern konnte man die Karl-May-Geschichten perfekt nachspielen, das hat den Mythos sicherlich vertieft.
 


Für mich als Kleinstadtkind ermöglichten Kino und Fernsehen buchstäblich einen Blick in die große weite Welt, und die Winnetou-Filme sprachen zudem meine kindliche Abenteuerlust an.“


 

Ist Mythos im Zusammenhang mit einer Filmfigur nicht ein allzu großer Begriff?

Ein Mythos bewegt sich zwischen den beiden Polen Religion und Unterhaltung. Im Unterschied zur Religion ist ein Mythos jedoch lebendig, man kann auf spielerische Weise mit ihm umgehen. Kein Kind käme auf die Idee, die Geschichte von Jesus Christus nachzuspielen.

Eine Parallele zwischen Jesus und Winnetou gibt es allerdings doch: Dass der Häuptling zum Mythos werden konnte, hat untrennbar mit seinem Tod zu tun. Figuren der populären Kultur sterben normalerweise nicht. Als bekannt wurde, dass sich Winnetou III auch in dieser Hinsicht an den Roman halten würde, hat die „Bravo“ eine Unterschriftenaktion gestartet; letztlich vergeblich, wie wir wissen. Dass Winnetous Tod nicht negiert wird, hat die existenzielle Kraft des Mythos noch verstärkt. Die Filme zeigen ohnehin keine heile Welt, sie sind geprägt von Trennung, Verlust und Tod.
 

Lex Barker als Old Shatterhand und Pierre Brice als Winnetou in Der Schatz im Silbersee (1962). (Foto: © IMAGO / Prod.DB)


 

Die zeitgenössische Kritik hat damals einigermaßen wohlwollend reagiert. In späteren Jahren wurde der Ton schärfer. Teilen Sie das Urteil „Westernkitsch“?

Dieser Begriff ist völlig deplatziert, zumal die Helden ausgesprochen ernste Figuren sind. In ästhetischer Hinsicht haben gerade die Filme von Harald Reinl, der für die Constantin nach Der Schatz im Silbersee auch die Winnetou-Trilogie inszeniert hat, Maßstäbe gesetzt.

Als ehemaliger Wintersportler hatte er ein unglaublich gutes Gespür für gebirgige Landschaften. Bei meinen Reisen zu den Schauplätzen in Kroatien ist mir erst bewusst geworden, welche logistischen Herausforderungen die Filmteams zu bewältigen hatten, weil viele Drehorte in den Bergen nur über Trampelpfade zu erreichen waren. Wie es trotzdem gelungen ist, das ganze Equipment dorthin zu transportieren, ist mir ein Rätsel. Reinl und sein kongenialer Kameramann Ernst W. Kalinke haben einen enormen Aufwand betrieben, um der Landschaft diese Bilder abzuringen.

In der Gegend sind damals auch andere Filme entstanden. Sie sind allerdings völlig zu Recht in Vergessenheit geraten, weil sie nicht die visuelle Intensität der Winnetou-Reihe hatten. Diese außergewöhnliche Optik war auch die Voraussetzung für die Omnipräsenz der Bilder. Winnetou und Old Shatterhand zierten nicht nur die „Bravo“, sondern auch Malblöcke, Schulhefte etc.

Im Ausland sind die Filme übrigens zum Teil deutlich besser besprochen worden. Hierzulande konnte gerade die linksintellektuelle Filmkritik nichts mit den Karl-May-Verfilmungen anfangen, dabei lässt sich filmanalytisch ausgezeichnet belegen, wie außerordentlich gut Reinl die Figuren im Raum inszeniert hat.
 


Die jungen Leute haben einen sehr sensiblen Blick für Gender-Profile und Diskriminierungen, aber ich würde mir wünschen, dass sie versuchen, die Filme aus dem Kontext ihrer Entstehungszeit heraus zu verstehen."



Ein anderer Kritikpunkt lautete, es handele sich um eine weitere Spielart des Heimatfilms. Können Sie das nachvollziehen?

Nein. Die Filme dieses Genres, das die 50er-Jahre dominiert hat wie kein anderes, sind nicht zuletzt im Hinblick auf die vielen Millionen Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten produziert worden. Die Winnetou-Filme erzählen ganz andere Geschichten, die beiden Genres haben inhaltlich und ästhetisch nicht viel miteinander gemeinsam; sieht man mal davon ab, dass auch Reinl zuvor Heimatfilme gedreht hat, in deren Gestaltung sich tatsächlich Parallelen entdecken lassen. Aber der Heimatfilm war ein durch und durch deutsches Genre, während Der Schatz im Silbersee und die Winnetou-Trilogie eine deutliche internationale Handschrift hatten.

Die Heimatfilme idealisierten das Landleben. In den Geschichten ging es hauptsächlich um die Verpartnerung des Försters, außerdem waren sie geprägt von sozialdarwinistischen Anschauungen sowie einer „Blut und Boden“-Haltung, in der mitunter sogar noch nationalsozialistisches Gedankengut mitschwang. Die Winnetou-Filme verzichteten dagegen, anders als die Romane von Karl May, auf jede Form von Deutschtümelei.

Trotzdem waren die Filme im Ausland nicht erfolgreich. Woran lag das?

Das lässt sich ganz einfach erklären: Karl May war außerhalb Deutschlands praktisch unbekannt. Im 19. Jahrhundert hatten sich zwar neue Mythologien entwickelt, aber sie stammten in erster Linie aus den USA, aus Frankreich und aus Großbritannien. Jules Verne zum Beispiel wurde in aller Welt gelesen, in Japan gibt es bis heute eine große Jules-Verne-Gesellschaft.

Das hatte auch mit der damaligen Infrastruktur zu tun: Von Paris aus führten die Verteilungswege in die ganze Welt. Von Sachsen, wo May als Autor lebte, nur in den deutschsprachigen Raum sowie in Gebiete mit starkem deutschen Kultureinfluss, etwa das Baltikum, Polen oder Tschechien. Der Westen war dagegen bereits von den französischen und den angelsächsischen Autoren besetzt, deren Bücher waren ohnehin moderner. Alexandre Dumas zum Beispiel hat mit seinen Abenteuerromanen schon in den 1830er-Jahren eine Mythologie etabliert, die bis heute vital ist. Seine Die drei Musketiere sind bereits einige Dutzend Male verfilmt worden, aber es gibt nach wie vor immer wieder neue Filme.

Wie würden Sie heute auf die Winnetou-Filme schauen, wenn Sie Mitte zwanzig wären?

Ich würde sie natürlich ganz anders sehen. Die jungen Leute haben einen sehr sensiblen Blick für Gender-Profile und Diskriminierungen, aber ich würde mir wünschen, dass sie versuchen, die Filme aus dem Kontext ihrer Entstehungszeit heraus zu verstehen. Wenn wir alles nur durch heutige Filter betrachten, dann bleibt nichts mehr übrig und wir werden geschichtsblind. Ich bin überzeugt: Mit etwas mehr Toleranz für den jeweiligen historischen Kontext würden viele aktuelle Debatten nicht mehr so hochkochen.
 

Anmerkung

Das Interview ist zuerst in der Stuttgarter Zeitung erschienen.

Literatur

Junkerjürgen, R.: Warum Winnetou wichtig war. Marburg 2024

Ralf Junkerjürgen ist Professor für romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg.

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.