Eine besondere Art des Miteinanders

Thomas Vašek

Thomas Vašek ist Chefredakteur der Philosophie-Zeitschrift „Hohe Luft“ und Autor mehrerer Bücher.

Die Moral wird heute gern abgewertet. Dann ist vom „Gutmenschen“ die Rede oder von „Hypermoral“. Stellt sich die Frage: Was ist Moral überhaupt? Wie viel von ihr tut uns gut? Und könnten wir auch ohne sie leben?

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 1/2020 (Ausgabe 91), S. 22-28

Vollständiger Beitrag als:

Wenn Autoren eine ausverkaufte Lesung platzen lassen, dann hat das zumeist einen handfesten Grund; entweder sind sie krank oder es ist sonst irgendwas dazwischengekommen. Die „Spiegel-Online“-Kolumnistin und Buchautorin Margarete Stokowski hingegen sagte ihre für Ende November 2018 geplante Lesung bei der Münchner Buchhandlung Lehmkuhl ab, um damit eine Haltung zu demonstrieren. Stokowski störte sich daran, dass Lehmkuhl auch Bücher von neurechten Autoren im Sortiment hatte; sie wolle nicht zur „Normalisierung“ von rechtem Gedankengut beitragen. Der Geschäftsführer der renommierten Buchhandlung, Michael Lemling, hielt dagegen, es sei wichtig, den Kunden auch die Bücher anzubieten, über die so hitzig diskutiert werde: „Wer sich gegen rechts engagiert, sollte wissen, was Rechte denken.“ Diese Haltungen seien „nicht vereinbar“, meinte Stokowski. Während sich die einen mit der Autorin solidarisierten, hielten ihr andere Selbstgerechtigkeit vor: „Moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen, ist eher Teil des Problems als Teil der Lösung“, meinte etwa der Historiker Per Leo, einer der Co-Autoren des Buches Mit Rechten reden, in der Zeitung „Die Welt“. Die Sache eskalierte zu einem Streit, der wochenlang durch die Feuilletons und die sozialen Medien ging, nicht untypisch für das daueraufgeregte Diskussionsklima unserer Zeit.

Wenn Debatten moralisch werden, verhärten sich schnell die Fronten. Dann steht Haltung gegen Haltung, dann geht es um „Gut“ oder „Böse“, nicht um produktive Auseinandersetzung, um die Lösung eines Problems. Vom Umgang mit Rechten und der Flüchtlingsfrage über Fleischkonsum und Fair Trade bis zu klimaschädlichen Urlaubsflügen: In vielen politischen und gesellschaftlichen Fragen, aber auch in Fragen des persönlichen Lebensstils, haben wir es anscheinend verlernt, sachlich und vernünftig miteinander zu reden. Statt Argumente auszutauschen und Gründe zu geben, beharren wir auf unseren moralischen Haltungen und verachten die anderen für die ihren.
 


Hinter den großen Problemen unserer Zeit schwebt eine Metadebatte: Wie viel Moral ist eigentlich gut für uns?



Hinter den großen Problemen unserer Zeit schwebt eine Metadebatte: Wie viel Moral ist eigentlich gut für uns? Welche moralischen Bedenken können wir uns überhaupt leisten in einer hyperkomplexen Welt? Reicht es nicht ohnehin langsam mit all dem Moralgewäsch, das uns doch nur ein schlechtes Gewissen macht – und womöglich das wahrhaft gute Leben vergällt?

Der moralische Überschuss in vielen Bereichen, so meinen Kritiker, vergiftet den gesellschaftlichen Diskurs, ja unser Zusammenleben überhaupt. Die Moral sei „unsere Religion“ geworden, schreibt der Publizist und Philosoph Alexander Grau. Nicht nur rechte Agitatoren stoßen sich am dauerempörten, selbstgerechten „Gutmenschen“, der seine eigenen Moralvorstellungen für das Maß aller Dinge hält. Die Kritik am angeblich allgegenwärtigen Moralismus, an der Political Correctness ist längst auch in den Feuilletons angekommen, bei den Linken und Liberalen, die nach Gründen suchen für ihr Versagen im Kampf gegen rechts. Der Wiener Kulturtheoretiker Robert Pfaller etwa kritisiert die „Eliten der Empfindlichkeit“ und attestiert ihnen infantilen Narzissmus und „großes Pathos für kleinstes Pipifax“.

Der Moralismus-Vorwurf muss längst für alles herhalten, was manchen nicht passt, von individueller Empfindlichkeit bis zur Merkel’schen Flüchtlingspolitik. Schon deshalb ist es wichtig, wenn wir über Moral reden, erst den Gebrauch der Begriffe zu klären. Laut Duden verstehen wir unter Moral gemeinhin die geltenden Wertvorstellungen und Normen in einer Gesellschaft, aber auch das „sittliche Empfinden“ des Einzelnen, damit ist sie zu unterscheiden von der Ethik, die nach der rationalen Begründung moralischer Urteile und Prinzipien sucht. Die Moral regelt unser zwischenmenschliches Verhalten, sie sagt uns, wie wir mit anderen umgehen sollen – z.B., dass Lügen nicht in Ordnung ist. Als „Moralisten“ im abwertenden Sinn bezeichnen wir hingegen jemanden, der alles in übertriebener Weise „moralisierend“ beurteilt. Nicht immer geht es um „Moral“, wenn die „Moralkeule“ geschwungen wird. Oft geht es einfach um die Frage, wie wir leben wollen – und darum, was es heißt, mit anderen zu leben. So hat etwa die #MeToo-Debatte ziemlich wenig mit Moralismus zu tun, wie das manche immer wieder behaupten. Es geht zunächst einmal einfach um den Schutz von Frauen vor sexuellen Übergriffen. Der Vorwurf des „Moralismus“ zieht allenfalls dort, wo keinerlei Uneindeutigkeit in der sexuellen Annäherung erlaubt ist.

Moralismus offenbart sich in seinem Extremismus, in seiner Maßlosigkeit. Jeder kennt den Moralapostel oder Moralprediger, der seine Mitmenschen unablässig belehrt und für ihr Fehlverhalten tadelt – und dabei nicht selten seinen eigenen Maßstäben nicht gerecht wird. Schon Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) verachtete die „guten Menschen“, all die Scheinheiligen, die mit ihrer Moral nur ihr Ressentiment verbrämen. Er war nicht gegen die Moral selbst, sondern gegen den Herrschaftsanspruch einer Moral, die den Menschen zum Sklaven seines schlechten Gewissens macht.

Moral und Moralismus sind also nicht dasselbe. Das wirft die Frage auf, wann moralisches Reden und Handeln in den Moralismus kippt, wann eine moralische Person zum Moralapostel, ein „guter Mensch“ zum „Gutmenschen“ wird – und anhand welcher Kriterien sich das entscheiden lässt. Fast niemand zweifelt daran, dass wir wenigstens minimale moralische Maßstäbe brauchen, um das menschliche Zusammenleben zu regeln. Was den Moralisten ausmacht, das ist, dass er kaum andere Maßstäbe kennt. Der Moralist überdehnt also den Geltungsbereich der Moral, er teilt gleichsam alles ein in „gut“ oder „böse“, damit tendiert er zu Selbstgerechtigkeit und Intoleranz. Das Problem ist nicht, dass er überhaupt moralische Deutungsansprüche erhebt, sondern dass er diese Ansprüche verabsolutiert.
 


Ständig ist von Moral die Rede, wo es eigentlich um ganz andere Dinge geht, etwa um politische oder soziale Fragen.



Der Moralist braucht nicht zu argumentieren. Er hat immer recht, und zwar schon deswegen, weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Jeder Moralismus lebt davon, dass er moralische Fragen vereindeutigt – und zugleich alles zu einer moralischen Frage macht. „Zu viel Moral“ gibt es dort, wo alles eindeutig ist, wo es nur noch „gut“ oder „böse“ gibt, wo kein anderes Argument mehr zählt. Alexander Grau hält die „Hypermoral“ unserer Zeit vor allem für einen Effekt des Bindungs- und Autoritätsverlusts der Moderne. Aus seiner Sicht wurzeln überzogene Moralansprüche erstens in der Säkularisierung und damit im Verlust religiöser Sinngehalte, deren Rolle dann die Moral übernommen habe. Die zweite Wurzel sei die Individualisierung mit ihrer „Vergöttlichung“ des Einzelnen, die dritte die modernen Massenmedien, in denen die moralische Entrüstung zur „Dauerattitüde“ werde.

Aus Graus Sicht sind vor allem die linksliberalen Eliten die „Bannerträger des Hypermoralismus“, weil sie in ihrem „egozentrischen Emanzipationsbedürfnis“ mit der eigenen Herkunft gebrochen hätten. Während sich die alte Elite über Zugehörigkeit oder Bildung definiert habe, verstehe sich die neue vor allem als „Träger progressiv empfundener Werte“, im festen Glauben, die eigene Lebensform sei der „normative Goldstandard“, nach dem die ganze Lebenswelt umgestaltet werden müsse.

Man muss eine solch konservative Kulturkritik nicht teilen, um vom moralisierenden Pathos in manchen Debatten genervt zu sein. Und erst recht muss man nicht den angeblich guten alten Zeiten nachtrauern, in denen Moral nicht nötig war, weil es noch höhere Autoritäten gab. Man kann überzogene Moralvorstellungen kritisieren, ohne deswegen universelle moralische Prinzipien – und am Ende die Menschenrechte – über Bord zu werfen. Hinter der Debatte um die angebliche „Hypermoral“ steht ein sehr viel tieferliegendes Problem.

Was „wahr“ oder „falsch“ ist, was eine Tatsache ist und was nicht, darüber können wir uns in vielen Fällen einigen. Viel schwieriger ist es bei Werturteilen. Man sieht einer Sache ja nicht an, ob sie „gut“ ist oder nicht. Wenn wir Dinge „moralisch“ beurteilen, versehen wir sie gleichsam mit einem Label, auf dem steht „gut“ oder „böse“. Schon das erschwert moralische Debatten ungemein.
 


Vergleichsweise wenig beschäftigt man sich mit der Frage, wie moralische Regeln und Prinzipien überhaupt sinnvoll gelebt werden können.



Bis heute streiten die Philosophen darüber, wann eine Handlung moralisch richtig oder falsch ist, ob es dabei etwa auf verpflichtende Regeln oder auf die Konsequenzen ankommt. Auf der Suche nach einer rationalen Begründung haben sie sich dabei weit von der Lebenswirklichkeit entfernt. Ethische Theorien sind heute voll von Spitzfindigkeiten und gefinkelten Gedankenexperimenten. Vergleichsweise wenig beschäftigt man sich mit der Frage, wie moralische Regeln und Prinzipien überhaupt sinnvoll gelebt werden können. Der britische Philosoph Bernard Williams (1929 – 2003) hielt die Ethik sogar für eine „seltsame Institution“, die von einem unrealistischen Bild des Menschen ausgehe. Seiner Ansicht nach können uns ethische Theorien allein nicht sagen, wie wir leben sollen. Das können letztlich nur wir selbst.

Eine der Konsequenzen ist, dass es in unserer spätmodernen „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz), in der alle nach Einzigartigkeit streben, so viele Konzeptionen des Guten gibt, wie es individuelle Lebensstile gibt. Etwas überspitzt gesagt: Jeder glaubt von sich, dass seine Lebensform die richtige und gute ist. Aber wenn wir keine verbindlichen Kriterien dafür haben, wie wir leben sollen, ist der moralische Dauerkonflikt zwischen verschiedenen Vorstellungen vom guten Leben geradezu vorprogrammiert.

Der Soziologe Niklas Luhmann (1927 – 1998) versprach sich einmal einen Fortschritt von einer Kooperation zwischen ethischer Reflexion und Gesellschaftstheorie. Die Moral definierte er ganz trocken empirisch als eine „besondere Art von Kommunikation, die Hinweise auf Achtung oder Missachtung mit sich führt“. Moralisch wird es also dann, wenn wir jemanden als ganze Person gutheißen oder missbilligen für das, was sie sagt oder tut. Insofern ist der moralische Einsatz nach Luhmann eine Art „Überengagement“, das fast zwangsläufig zu Konflikten führt. Plötzlich geht es nicht mehr um die Sache oder die Beziehung selbst, sondern um „grundsätzliche“ Fragen – nicht um „gut oder schlecht“, sondern um „gut oder böse“.

Luhmanns Definition liefert zunächst einmal nur eine Beschreibung. Die Linke lehnt den Rechten ab, weil er rechts ist (und umgekehrt). Die Veganerin missbilligt den Fleischesser dafür, dass er Fleisch isst, die Nichtraucherin den Raucher usw. Für diese Missbilligung gibt es jeweils mehr oder weniger gute Gründe. Aber auch die besten Gründe allein bewirken nicht auf magische Weise, dass der andere sein Verhalten ändert. Eben deshalb entladen sich moralische Konflikte so häufig in Gewalt.

Luhmann war aber nicht einfach ein Moralverächter, wie das manche seiner Kritiker behaupten. Sein Interesse gilt vielmehr der Frage, welche Rolle moralische Ansprüche oder Wertfragen in den verschiedenen „Systemen“ der Gesellschaft spielen – und wie sie geklärt werden. So beobachtete er etwa, dass Organisationen Wertkonflikte durch Priorisierung lösen: Was auf später verschoben wird, das ist einfach weniger wichtig. Das kann man als technokratischen Zynismus sehen, wenn man will. Aber Luhmanns Beobachtung verweist auf ein zentrales Problem überzogener moralischer Ansprüche.
 


Die Moral allein klärt nichts, sie löst kein Problem.



Die Moral allein klärt nichts, sie löst kein Problem. Schlimmstenfalls führt sie sogar zu neuen Problemen, weil sie paradoxerweise genau die Lösung verhindert, die sie eigentlich fordert. Für den Moralisten gibt es nur schwarz oder weiß, eben gut oder böse. Fleischkonsum ist dann eben unmoralisch – und jeder Fleischesser entsprechend zu verurteilen. Aber das beantwortet noch nicht die Frage, wie mit dem Fleischkonsum in unserer Gesellschaft zu verfahren ist. Man könnte ihn theoretisch gänzlich verbieten, über seine Folgen aufklären oder einfach nur vegane Ernährung fördern. Welchen moralischen Status das Fleischessen in unserer Gesellschaft hat, hängt davon ab, wie wir damit umgehen, ob und wie wir es sanktionieren.

Moralische Ansprüche können nur einen Anstoß geben. Ein Beispiel ist sicher das Rauchverbot in Kneipen. Man kann das zwar im Sinne Robert Pfallers als staatliche Bevormundung und lustfeindlichen Tugendterror geißeln. Zugleich löst das Verbot aber einen moralischen Konflikt, indem es klare Verhältnisse schafft. Wer rauchen will, kann das privat für sich tun, ohne anderen zu schaden. Insofern schützt uns das Recht vor allzu extremen Ansprüchen der Moral, wie der Soziologe Armin Nassehi meint.

Gerade in moralischen Fragen geht es darum, das Uneindeutige und Paradoxe auszuhalten. Lügen gilt als moralisch falsch, und doch kann es in bestimmten Situationen vernünftig und sogar moralisch geboten sein. Und es kann unvernünftig, hartherzig, ja grausam sein, die Wahrheit zu sagen. Das ändert nichts daran, dass Wahrheit einen hohen Wert für uns hat.

Notorische Lügner missbilligen wir zu Recht. Aber es gibt kein „Gesetz“, das Lügen immer und überall verbietet. Worauf es ankommt, das ist die jeweilige soziale Situation.

Statt eine Lüge sofort als „böse“ zu brandmarken, können wir sie zunächst einmal nüchtern als eine solche beschreiben – und dann überlegen, ob sie moralisch verurteilenswert ist oder nicht. Unser Handeln beruht nicht auf ethischen Prinzipien, sondern auf Erfahrung. Wir handeln und erleben, was die Konsequenzen für uns und andere sind; dafür brauchen wir kein „moralisches Gesetz“ – und erst recht keinen Moralisten, der uns sagt, was gut für uns ist.

Für den amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859 – 1952) sind Gewohnheiten die „Hauptquelle des menschlichen Handelns“. Wir tun etwas, weil wir es auch zuvor schon getan haben und weil wir gute Erfahrungen damit gemacht haben. Aber diese Erfahrungen gewinnen wir in sozialen Praktiken. Wir reagieren darauf, was andere tun oder sagen, und die anderen reagieren wiederum auf uns. Jeder moralische Konflikt zeigt daher auch an, dass zwischen Menschen etwas schiefläuft.

Man findet einfach nicht in Ordnung, was der andere tut. Bestimmte Lebensstile etwa können miteinander kollidieren. Manche Verhaltensweisen lehnen wir einfach deshalb ab, weil sie das Zusammenleben unmöglich machen oder erschweren – nicht weil irgendein „moralisches Gesetz“, irgendein universeller „Wert“ es uns gebietet. Man muss eine Handlung nicht als „böse“ markieren, nur weil wir sie missbilligen oder wir uns durch sie beeinträchtigt fühlen. Es reicht vielleicht auch, darauf hinzuweisen, dass sie uns stört, wobei wir uns vielleicht auch gelegentlich fragen sollten, ob wir unsere individuelle Befindlichkeit nicht etwas zu hoch hängen.
 


Moralische Ansprüche machen sich unglaubwürdig, wenn sie mit verschiedenen Maßstäben messen.



Die Möglichkeiten von Menschen in moralischen Fragen sind begrenzt. Wir sind nicht nur keine „Heiligen“. Unsere moralischen Dispositionen hängen auch von kontingenten Bedingungen ab. Wer täglich um die ökonomische Existenz kämpfen muss, für den wird artgerechte Tierhaltung oder Klimaschutz auf der Prioritätenliste nicht ganz oben stehen. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ heißt es in Bertolt Brechts Dreigroschenoper. Das meint nicht etwa eine Geringschätzung der Moral. Aber die Bedingung für Moral ist Gerechtigkeit, in Brechts Worten: „Erst muss es möglich sein auch armen Leuten, vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.“ Es ist wohlfeil, einen Dieselfahrer zu verurteilen, der sein Auto braucht, um aus der Peripherie zu seinem Arbeitsplatz zu kommen. Statt ihn moralisch zu tadeln, sollte man ihm vielleicht entsprechende Alternativen anbieten.

Moralische Empörung allein kostet meist wenig. Das verführt viele dazu, sich ständig über alles Mögliche aufzuregen, erst recht, wenn es dafür nur einen Kommentar auf Facebook braucht. Der „moralische Konsument“, wie es der Soziologe Heinz Bude nennt, verschafft sich einfach moralische Befriedigung. Es fühlt sich für ihn gut an, gut zu sein. Moralische Empörung stiftet auch eine Art Gemeinschaft der Empörten, das kann man nirgends so gut beobachten wie in den sozialen Medien. Aber wahre Moral ist nach Bude „nicht billig zu haben“. Man muss auch selbst etwas dafür tun, sonst wird man unglaubwürdig. Insofern kann man von emphatischen Anhängern einer „Willkommenskultur“ für Flüchtlinge auch verlangen, dass sie selbst dazu bereit sind, sich ganz praktisch für Flüchtlinge einzusetzen oder vielleicht sogar welche bei sich aufzunehmen.

Moralische Ansprüche machen sich unglaubwürdig, wenn sie mit verschiedenen Maßstäben messen. Moral muss deshalb etwas „kosten“, weil nur das uns selbst und anderen zeigt, dass wir es damit ernst meinen, und das heißt: dass wir uns selbst ernst nehmen in dem, was wir sagen oder tun.

Auf dem Kampfplatz der Moral gibt es keine für alle verbindlichen Regeln, keinen Schiedsrichter, der über „gut“ oder „böse“ entscheidet. Nach Bernard Williams haben wir aber „die Ressourcen, um mit dieser Tatsache zu leben“. Man muss nicht begründen, warum es moralisch falsch ist, zu anderen grausam zu sein, oder warum es richtig ist, einen Ertrinkenden zu retten. Williams setzte auf Tugenden, also auf menschliche Handlungsdispositionen, nicht auf Kants moralisches Gesetz. Vor allem hoffte er auf die „Tugenden der Wahrheit“, wie er sie nannte, nämlich Aufrichtigkeit („sincerity“) und Richtigkeit („accuracy“). Unter „Aufrichtigkeit“ verstand Williams die Übereinstimmung unseres Redens und Handelns mit unseren Überzeugungen, unter „Richtigkeit“ das Bemühen um Wahrheit, das uns vor Wunschdenken und Selbsttäuschung schützt. Wir brauchen Aufrichtigkeit, um authentisch zu sein. Aber wer auf Facebook oder sonstwo gegen Dieselfahrer wettert oder Fleischesser verurteilt, der sollte das nicht nur tun, weil es seiner Überzeugung entspricht. Er tut vielmehr gut daran, auch ein paar Fakten zu kennen, die seine Überzeugung unterstützen.
 


Auf dem Kampfplatz der Moral gibt es keine für alle verbindlichen Regeln, keinen Schiedsrichter, der über „gut“ oder „böse“ entscheidet.



Nach Williams gibt es kein fertiges Modell, an dem wir uns orientieren könnten. Moralische Überlegungen müssen wir letztlich immer aus unserer eigenen Perspektive anstellen. Aber unser eigenes Leben ist immer schon ein Leben, das wir mit anderen teilen. Auch ein wahrhaftiger, wahrheitsliebender Mensch kann ein Fanatiker sein, ein Tugendwächter und Moralist, der seine eigenen Tugenden den anderen vorschreiben will oder einfach nur per „virtue signalling“ zur Schau stellt. Margarete Stokowski war vermutlich überzeugt davon, die richtige Haltung zu zeigen, als sie ihre Lesung bei Lehmkuhl platzen ließ. Wahrscheinlich war sie über die „rechten“ Bücher im Sortiment auch korrekt informiert. Ohnehin war es ihr gutes Recht, die Lesung abzusagen. Eine andere Frage ist, ob es auch klug war – und ob es ihrem Anliegen, dem Kampf gegen rechts, wirklich half.
 


Schon Aristoteles wusste, dass wir neben ethischen Tugenden auch Verstandestugenden brauchen, um das Gute, das wir anstreben, auch wirklich zu erreichen. In seinen Überlegungen zur ethischen Reflexion der Moral meinte Niklas Luhmann, es sei die „vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen“. Im Geiste Luhmanns – und in Ergänzung von Williams – könnte man entsprechende „Tugenden“ vorschlagen, die uns nicht immer nur noch moralischer machen, sondern gleichsam weniger moralisch – also „antimoralistische“ Tugenden, die uns vor einem „Zuviel“ an Moral schützen.

Erstens die grundsätzliche Bereitschaft, die eigene Überzeugung zu revidieren, nennen wir es einfach Lernfähigkeit. Unsere moralischen Positionen formen sich nicht im luftleeren Raum, sondern in sozialen Praktiken. Dass unser Lebensstil für unsere Umgebung inakzeptabel ist, lernen wir nicht primär durch das Studium ethischer Theorien, sondern durch bestimmte soziale Erfahrungen, also etwa durch die Billigung oder Missbilligung anderer, im Extremfall durch jene des Gesetzgebers. „Zu moralisch“ sind wir immer dann, wenn wir mit einem Heiligenschein gleichsam über den anderen schweben.

Zweitens Kontextsensibilität. Die Moral allein klärt keine Fragen, sie löst keine Probleme und befriedet keinen Konflikt. Moral braucht immer auch das Außermoralische, damit sie praktisch verbindlich wird. „Ausgeführt werden muss Moral immer im sozialen, ökonomischen oder rechtlichen Kontext“, schreibt der Philosoph und Ökonom Birger P. Priddat. Es sind nicht höhere moralische Prinzipien, die jedenfalls die meisten von uns zur Rücksichtnahme im Straßenverkehr veranlassen, sondern eben die Verkehrsregeln. Vermutlich wäre es sogar eher kontraproduktiv, wenn Autofahrer jedes Mal Kants kategorischen Imperativ durchdenken müssten, ehe sie in eine Kreuzung einfahren.

Die dritte antimoralistische Tugend ist schließlich das Bemühen um reflexive Konsistenz, vulgo: Wer Wasser predigt, sollte nicht Wein trinken. Aber auch hier geht es nicht ums moralische Prinzip, sondern vielmehr um den „existenziellen Preis der Moral“, sagt der Soziologe Heinz Bude. Moral wird dann nicht zur Doppelmoral, wenn sie als Übernahme einer Verpflichtung gesehen wird. Wer moralisch sein will, muss sich nach Bude dafür eben auch „dreckig machen“. Auch diese „Tugend“ schützt vor selbstgerechtem Moralismus, indem sie einfach den Preis der Moral erhöht.
 


Prinzip des kritischen Wohlwollens



Ergänzen ließen sich die drei antimoralistischen Tugenden durch eine Art „Prinzip des kritischen Wohlwollens“, das zunächst einmal davon ausgeht, dass auch die anderen sich um Lernfähigkeit, Kontextsensibilität und Konsistenz bemühen, allerdings nur bis zum Beweis des Gegenteils. Die beiden Wahrheitstugenden von Williams können uns helfen, in unserem moralischen Handeln authentisch zu bleiben, ohne den Bezug zur Realität zu verlieren. Die drei antimoralistischen Tugenden können dazu beitragen, dass wir dabei nicht in moralischen Extremismus verfallen. Und das „Prinzip des kritischen Wohlwollens“ hilft vielleicht, mit anderen Menschen, die ebenso moralische Überzeugungen haben wie wir, nachsichtiger umzugehen – im ständigen Bewusstsein, dass wir uns auch in ihnen täuschen können.

Man kann die „Gutmenschen“ kritisieren und ihnen doch zugestehen, dass ihre Ziele vielleicht nicht verkehrt sind. Nach dem „Prinzip des kritischen Wohlwollens“ müssen wir zunächst einmal davon ausgehen, dass es auch die Moralisten mit ihren Überzeugungen ernst meinen, dass sie vielleicht aber auch lernfähig sind. Zugleich wäre es möglich, dass wir uns selbst korrigieren müssen – und eines Tages einsehen, dass es doch besser für uns ist, Veganer zu sein. Zumindest bis auf Widerruf.
 

Dieser Beitrag erschien erstmalig in der Philosophie-Zeitschrift „Hohe Luft“, 2/2019.