Eine Forschungsreise in die Welt der Gefühle bei TikTok

Können Emotionen unsere Selektionsentscheidungen bei TikTok beeinflussen?

Hannah Beck

Hannah Beck studiert Journalismus (B.A.) an der Hochschule Macromedia in Hamburg.

TikTok ist das Medium, das gerade bei jungen Nutzer:innen für Begeisterung sorgt (Jahnke 2021). Kurze Clips aus den unterschiedlichsten Gattungen versprechen pure Unterhaltung und können sich in nur wenigen Sekunden verbreiten.

Ein studentisches Forschungsprojekt an den Schulen Lüneburgs zeigt, dass das junge Publikum TikTok jedoch nicht allein wegen des Unterhaltungswertes nutzt, sondern auch, um die eigenen Gefühle zu regulieren. Mood-Management durch TikTok – geht das?

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 4/2022 (Ausgabe 102), S. 30-33

Vollständiger Beitrag als:

Die Mood-Management-Theorie: Gefühle und Medienkonsum

Forscher (Zillmann/Bryant 1985) haben bereits in den 1980er-Jahren Stimmungsregulation durch Konsum von Medieninhalten feststellen können.

Die Mood-Management-Theorie befasst sich grundsätzlich mit der Frage, warum und wann sich Rezipienten in gewissen Stimmungslagen bestimmten Medieninhalten zuwenden (ebd.). Sie bieten den Nutzern die Möglichkeit, Angebote zur Verbesserung ihrer Stimmungen „quasi automatisch und ohne mühsames Überlegen“ (Zillmann 2004, S. 121) auszuwählen. Das bedeutet, Rezipienten können über Medieninhalte ihre Stimmung („mood“) regulieren („management“).

Im Kern nimmt Zillmann (1988) dabei den Menschen als Hedonisten wahr, der zum einen stets motiviert ist, unangenehme bzw. aversive Stimulation zu verringern, zu vermeiden oder zu beenden, und zum anderen gleichermaßen bestrebt ist, angenehme Stimulation aufrechtzuerhalten, zu wiederholen oder zu steigern. Dafür ordnen Rezipienten ihre Reizumgebungen so, dass sie bei der Optimierung der Stimmung helfen (Zillmann/Bryant 1985).

Insgesamt beschäftigt sich diese Theorie also mit der Zuwendung zu Medien. Und obwohl es diesen Ansatz seit fast 40 Jahren gibt, wurde er auf Social Media bislang kaum angewendet.
 

TikTok – Unterhaltung in Dauerschleife

TikTok wird überwiegend als App auf dem Smartphone genutzt, welche mit ihren Tanz-, Sing- und jeglichen Unterhaltungsvideos als perfekter Pausenfüller zur kurzen Erholung und Ablenkung dient. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass die weltweit viertbeliebteste App primär wegen ihrer Hauptnutzungsmotive – Zeitvertreib, Unterhaltung und Spaß – genutzt wird, wobei Langeweile das typischste Motiv ist (Granow/Scolari 2022).

„Das Besondere an TikTok – und ein großer Unterschied zu anderen Plattformen – ist, dass man gleich mit dem Öffnen der App mitten im Geschehen“ (Jahnke 2021, S. 106) ist. Kurze Videos laufen unmittelbar hintereinander ab, welche sogar dank verbesserter Algorithmen genau den Content ausspielen, den der Nutzer sich auch gerne anschaut – daher der Name „For You Page“ (Granow/Scolari 2022).

Laut einer Mixed-Methods-Grundlagenstudie im Auftrag des SWR ist die Plattform insbesondere in den letzten zwei Jahren gewachsen (ebd.). Verantwortlich für dieses erhebliche Wachstum ist vor allem die junge Zielgruppe (Jahnke 2021).
 

Von der Theorie in die Praxis

An der Hanseschule Oedeme und an der Christianischule – Oberschule am Kreideberg in Lüneburg wurden im Rahmen eines studentischen Forschungsprojekts der Hochschule Macromedia insgesamt 87 Schüler zu ihrem Nutzungsverhalten von Inhalten bei TikTok befragt und Rückschlüsse auf ihr Mood-Management gezogen.

Dabei wurde zunächst davon ausgegangen, dass verschiedene Emotionen existieren, die sich bei Menschen unterschiedlich ausdrücken können. So beschreibt z. B. Zillmann (1988; 2004) Stimmungen als positiv, negativ, angenehm und als unangenehm. Emotionen können aber auch erregend und ruhig auftreten (Bak 2019). Da das junge Publikum nicht immer nur einen Gefühlszustand empfindet, muss man also den Einfluss von mehreren Emotionen untersuchen, damit man diese miteinander vergleichen kann. Dem folgend wurden vier digitale Fragebögen entworfen, die sich jeweils auf einen Gefühlszustand beziehen. Gleichzeitig decken sie gewisse Basisemotionen ab, nämlich Traurigkeit, Glück, Wut und Neutralität.

Damit die Schüler sich in diesen Gefühlszustand hineinversetzen konnten, sollten sie sich entsprechend ihres Fragebogens entweder an eine glückliche, wütende oder traurige Situation in ihrem Leben erinnern. Anschließend konnten sie sich zwischen einem von zwei TikTok-Videos von der Tagesschau und von nice to know (WDR-Nachrichtenkanal auf TikTok) entscheiden, die thematisch gegensätzlich sind. Das News-Video der Tagesschau ist eher ein kritischer journalistischer Beitrag mit erregendem Inhalt, der von einem Anschlag an einer Schule berichtet. Das Video von nice to know dagegen handelt von einem absorbierenden Inhalt, welcher über einen simplen Schummeltrick während der theoretischen Führerscheinprüfung mithilfe einer medizinischen Maske berichtet.
 

 

Tagesschau und nice to know auf TikTok: Nachrichten gehen viral

Die Tagesschau war der erste deutsche Nachrichtenkanal auf der Plattform TikTok und generiert inzwischen 1,3 Mio. Nutzer, wodurch die Redaktion die Möglichkeit hat, junge Menschen zu erreichen (Bremm 2021; Tagesschau [TikTok] 2022). Beim Produzieren der Nachrichteninhalte in Form von News-Videos berücksichtigt die Tagesschau das Interesse des jungen Publikums und macht Platz für Themen, die aus journalistischer Sicht notwendig sind (Helm 2021).

nice to know ist ein weiterer Nachrichtenkanal bei TikTok und gehört zur Redaktion WDR aktuell. Für die mehr als 200.000 Follower werden hauptsächlich Clips über nützliche Fakten rund um alltägliche Themen produziert oder solche hergestellt, die das Allgemeinwissen auffrischen sollen (nice to know [TikTok] 2022).
 

Forschungsergebnisse zeigen Einfluss von Emotionen

Eine 8. Klasse der Hanseschule Oedeme in Lüneburg beantwortete den Fragebogen mit dem Gefühlszustand „Traurigkeit“. Nachdem sich die 25 Haupt- und Realschüler in eine traurige Erinnerung zurückversetzt haben sollten, gaben 17 Personen an, sich nun in einer eher traurigen Stimmung zu befinden. Die anderen acht Schüler waren u. a. eher müde oder gelangweilt. Anschließend wollte sich die Mehrheit der gesamten Schüler durch eine TikTok-Nutzung aufheitern, ablenken und entspannen. Die Videoauswahl ergibt ein klares Bild: 80 % der Schüler entschieden sich für das absorbierende Video von nice to know. Im Anschluss gaben die Befragten mehrheitlich an, sich in einer eher aufgeheiterten und abgelenkten Stimmung zu befinden.

Die 22 Haupt- und Realschüler eines Musik-Wahlpflichtkurses derselben Schule erhielten den Fragebogen mit dem Gefühlszustand „Glück“. Nach Rückversetzung in eine glückliche Erinnerung gab die Mehrheit der Achtklässler an, nun auch glücklich zu sein und sich daraufhin gern ein aufheiterndes Video anschauen zu wollen. Anschließend entschieden sich knapp über 50 % der gesamten Schüler für das Video von nice to know.

Zwei Hauptschulklassen der Christianischule – Oberschule am Kreideberg nahmen an dem Fragebogen des Gefühlszustandes „Wut“ teil. Nachdem sich die insgesamt 16 Schüler an eine Situation in ihrem Leben erinnert hatten, in der sie richtig wütend gewesen waren, gaben über 80 % an, nun auch wütend zu sein. Drei von vier Achtklässlern wollten daraufhin eher TikTok nutzen, um sich abzulenken. Entsprechend entschieden sich über 60 % auch für das absorbierende Video von nice to know, welches für eine aufgeheiterte, entspannte und abreagierende Stimmung unter den Schülern sorgte. 
 


Motiv einer gewünschten TikTok-Nutzung nach Vorstellung einer wütenden Erinnerung
 


Die 9. Realschulklasse der Christianischule – Oberschule am Kreideberg erhielt den neutralen Fragebogen ohne die Aufgabe, sich an eine emotionale Situation zu erinnern. Hier war die Mehrheit überwiegend in einer eher gelangweilten Stimmung und erhoffte sich durch eine TikTok-Nutzung u. a., abgelenkt zu werden. Mit einer klaren Mehrheit von 75 % entschieden sich die Schüler anschließend für das Video der Tagesschau, welches sie laut der Angabe hauptsächlich unterhielt sowie informierte.
 

Grenzen dieser Forschungsreise

Manche Nutzer regulieren ihre Emotionen nicht ausschließlich über Medieninhalte, da neben z. B. Sport oder Drogen auch das soziale Umfeld die Stimmungsregulation sowie das Medienwahlverhalten beeinflussen kann (Schwab 2017). Außerdem weist Zillmann (2004) auf die Grenzen der Theorie im Hinblick auf das hedonistische Konzept hin. Rezipienten können sich in gewissen Situationen auch „contrahedonistisch“ verhalten, das bedeutet: Sie versuchen, angenehme bzw. positive Stimmung zu vermeiden – Schuldgefühle bei guter Laune – und aversive bzw. negative Stimmung beizubehalten, wenn sie sich z. B. selbst bestrafen (ebd).

Offensichtlich beeinflusst TikTok die Gefühle junger Nutzer. Es ist jedoch anzunehmen, dass die jeweiligen Gefühlszustände nur kurz anhalten. Das erklärt die Nachfrage nach immer neuen Impulsen und die weltweit steigenden Zugriffszahlen.
 

Literatur:

Bak, P. M.: Lernen, Motivation und Emotion. Allgemeine Psychologie II – das Wichtigste, prägnant und anwendungsorientiert. Berlin 2019

Beck, H.: Mood-Management durch TikTok. Eigene Untersuchung. Hamburg 2022

Bremm, U.: Warum die Tagesschau auf TikTok so erfolgreich ist. In: Fachjournalist, 12.05.2021. Abrufbar unter: https://www.fachjournalist.de (letzter Zugriff: 10.08.2022)

Granow, V. C./Scolari, J.: TikTok – Nutzung und Potenziale der Kurzvideo-Plattform. Ergebnisse einer Mixed-Methods-Grundlagenstudie im Auftrag des SWR. In: Media Perspektiven, 4/2022/12, S. 166–176. Abrufbar unter: https://www.ard-media.de (letzter Zugriff: 07.09.2022)

Helm, V. L.: Wenn aus Spaß Ernst wird: Die Tagesschau auf TikTok als Medium zur Politikvermittlung für die Generation Z. In: Journal für korporative Kommunikation, 1/2021/2, S. 43–52. Abrufbar unter: https://journal-kk.de (letzter Zugriff: 07.09.2022)

Jahnke, M. (Hrsg.): Influencer Marketing. Für Unternehmen und Influencer: Strategien, Erfolgsfaktoren, Instrumente, rechtlicher Rahmen. Mit vielen Beispielen. Wiesbaden 2021

Schwab, F.: Emotion und Medien. Ausgewählte Klassiker und neue Ansätze medienpsychologischer Forschung. In: Communicatio Socialis, 3/2017/50, S. 304–317

Zillmann, D.: Mood Management Through Communication Choices. In: American Behavioral Scientist, 3/1988/31, S. 327–340

Zillmann, D.: Emotionspsycholo-gische Grundlagen. In: R. Mangold/ P. Vorderer/G. Bente (Hrsg.): Lehrbuch der Medienpsychologie. Göttingen 2004, S. 101–128

Zillmann, D./Bryant, J.: Selective Exposure to Communication. New York 1985
 

Videoverzeichnis:

nice to know [TikTok]: TikTok-Video, 07.03.2022. Abrufbar unter: https://www.tiktok.com

Tagesschau [TikTok]: TikTok-Video, 12.05.2022. Abrufbar unter: https://www.tiktok.com