„Es bedarf keinerlei zusätzlicher Emotionalisierung.“
Was ist die Aufgabe von Gedenkstätten heute?
Gedenkstätten haben tatsächlich ein sehr breites Portfolio, was ihre Funktion und ihre Aufgaben anbelangt. Das fängt natürlich damit an, zu gedenken. Und das bedeutet, die Orte der ehemaligen Konzentrationslager als Orte der Trauer und des Gedenkens zu gestalten – sowohl für Angehörige als auch für die gesamte Gesellschaft.
Daneben haben Gedenkstätten einen dokumentierenden Auftrag. An diesen Orten soll mit geeigneten Mitteln, z. B. Ausstellungen und pädagogischen Formaten, darauf verwiesen werden, was hier passiert ist. Der historische Ort soll gewissermaßen zum Sprechen gebracht werden und die Relikte, die es gibt – seien es bauliche Relikte, schriftliche Hinterlassenschaften, Fotos, Audiodokumente, Filmaufnahmen etc. –, sollen als Beweiswert erhalten und für die Forschung wie auch für die Bildungsarbeit zugänglich gemacht werden.
Die dritte Funktion ist damit unmittelbar verbunden. Das ist die edukative, also die Bildungsaufgabe. Das heißt, es geht darum, diese Orte, an denen Menschen Opfer unsagbarer Verletzungen der Menschenrechte, der Menschenwürde wurden, an denen viele Menschen ermordet wurden, als Orte des Lernens zu gestalten. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, in welcher Gesellschaft wir heute leben und wie wir unser gesellschaftliches und politisches Miteinander gestalten wollen.

Jens-Christian Wagner (Foto: Jens Meyer, Universität Jena)
Die Funktionen „Dokumentation“ und „Bildung“ werden vor allem mit Blick auf jüngere Menschen wichtiger, weil immer weniger direkte familiäre Bezüge zum Nationalsozialismus bestehen. Sie haben gesagt: Man muss die Orte zum Sprechen bringen. Welche Ansprache funktioniert bei Jugendlichen am ehesten?
Das kommt immer ganz darauf an, mit welchem Vorwissen jemand zu uns kommt. Ohnehin muss man sagen, dass Vor- und Nachbereitung von Gedenkstättenbesuchen tatsächlich das A und O sind.
Wie kann man den Ort zum Sprechen bringen? – Bleiben wir erst einmal bei den baulichen Relikten wie dem Zaun, dem Lagertor, dem Krematorium, den Baracken oder Fundamenten! Diese Relikte müssen sichtbar gemacht werden. In vielen Fällen sind sie nämlich über Jahrzehnte schlichtweg zugewachsen oder auch mutwillig zerstört und verschwunden gelassen worden. Zurück in die Sichtbarkeit holt man sie, indem z. B. Ausgrabungen vorgenommen werden, die übrigens selbst auch schon Teil von Bildungsformaten sein können.
Außerdem werden diese baulichen Relikte mit Infotafeln oder digitalen Methoden gekennzeichnet. Damit wird vorsichtig, sensibel und zurückhaltend auf ihre Funktion verwiesen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass es an den Orten ehemaliger Konzentrationslager oder anderer NS-Verbrechen eine entsprechende Ausstellung gibt, in der die archivalische Hinterlassenschaft in aller Breite historisch oder fachwissenschaftlich kuratiert dargestellt wird, um sowohl den Kontext des Verbrechens als auch die Kontexte der unmittelbaren Ortsgeschichte zu vermitteln, und zwar mit einer gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive.
Schließlich gibt es auch Bildungsformate, die sich mittels sehr unterschiedlicher Methoden der Geschichte des jeweiligen Ortes nähern. Häufig wird in den Gedenkstätten, u. a. auch hier in Buchenwald, zum Einstieg mit einer sogenannten assoziativen Bildermethode gearbeitet. Das heißt, man setzt sich zunächst in einem Seminarraum zusammen. In der Mitte liegen Fotos, manchmal auch Dokumente aus der Lager- oder unmittelbaren Befreiungszeit. Jede:r greift sich ein Foto heraus, das ihn oder sie auf eine bestimmte Weise anspricht. Dann stellt man sich gegenseitig die Fotos vor und sagt, was man glaubt, auf diesen Fotos zu sehen. Das ist ein erster assoziativer Einstieg und holt die Gruppe dort ab, wo sie steht. Die Teamer wissen nach diesem Gespräch, wie viel Vorwissen mitgebracht wird, um dann in die Betreuung vor Ort einzusteigen. Ein Bestandteil ist immer auch ein Rundgang durch das ehemalige Lagergelände. Dabei werden exemplarisch bestimmte Orte angelaufen.
Ein Schlüssel kann sein, dass man gar nicht mit der eigentlichen Lagergeschichte anfängt, sondern mit der Frage einsteigt, warum es hier so aussieht, wie es aussieht. Also beispielsweise: Warum sieht man keine Baracken mehr? Warum ist der Zaun löchrig? Warum bröckelt der Putz an den Gebäuden? Und/Oder warum steht hier ein riesiges Denkmal? Im Fall von Buchenwald z. B. dieser poststalinistische Glockenturm mit einer Bronzeplastik kämpfender Antifaschisten davor, also ein DDR-Geschichtsbild. Welche Botschaften werden da vermittelt? Wie wird die Geschichte oder wie wurde die Geschichte dieses Ortes in den vergangenen 80 Jahren repräsentiert? Auch das kann ein Einstieg in die Lagergeschichte sein.
Sie betonen die Bedeutung von Vorwissen. Viele Jugendliche bringen vor allem durch Spielfilme wie Schindlers Liste oder Der Pianist bereits Bilder vom Nationalsozialismus mit in die Gedenkstätte. Erleben Sie dieses mediale Vorwissen eher als hilfreich oder als störend?
Teils, teils. Man muss wissen, dass Menschen mit diesen Bildern hierherkommen – und es ernst nehmen. Durch das mediale Framing wird letzten Endes ein relativ fragmentarisches Wissen über die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager und die NS-Verfolgungspolitik in die Gesellschaft gebracht. Ein Ergebnis dieser vielen Filme, die sich ja im Wesentlichen auf die Geschichte der Schoah beziehen, also auf die Ermordung der europäischen Juden, ist es, dass viele Menschen glauben, nahezu alle Opfer in den Konzentrationslagern seien Jüdinnen und Juden gewesen. Sie reagieren dann erst einmal überrascht, wenn sie erfahren, dass in Buchenwald die Mehrheit der Häftlinge keine Juden waren, sondern überwiegend politische Häftlinge. Dazu kamen Sinti und Roma, Menschen, die als Homosexuelle und als sogenannte Asoziale und Berufsverbrecher verfolgt wurden. Also eine ganze Bandbreite.
Durch das mediale Framing wird letzten Endes ein relativ fragmentarisches Wissen über die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager und die NS-Verfolgungspolitik in die Gesellschaft gebracht.
Der Film Schindlers Liste endet damit, dass alle Überlebenden zum Gedenken Steine auf Grabsteine legen, wie das in der jüdischen Tradition im Totengedenken üblich ist. Kaum war dieser Film in den 1990er-Jahren in den Kinos, haben wir in den Gedenkstätten eine radikale Änderung des Besucherverhaltens erlebt. Plötzlich fingen die Menschen an, überall Steine hinzulegen. Und das ist bis zum heutigen Tage so! Da merkt man, wie stark mediale Darstellungen gesellschaftliches Bewusstsein prägen können.
In welcher Form nutzen Sie mediale Darstellungen in Ihren Ausstellungen oder in der Bildungsarbeit der Gedenkstätte?
Tatsächlich benutzen wir die ganze Bandbreite medialer Darstellungen. Beispielsweise – das macht man seit Jahrzehnten – werden Fotografien und Filme genutzt, die die Alliierten bei der Befreiung der Lager im Frühjahr 1945 angefertigt haben.
Etwa seit den 1970er-Jahren werden Videointerviews von Zeitzeugen gezeigt, in denen diese berichten, was die Geschichte konkret für sie selbst bedeutet hat. Hinzugekommen sind natürlich auch moderne technische Anwendungen wie Virtual und Augmented Reality. Ich habe schon Ausstellungen gemacht, in denen mit Augmented Reality gearbeitet wurde, wenn es darum ging, nicht mehr vorhandene oder nicht zugängliche räumliche Strukturen sichtbar zu machen. Was wir in Buchenwald vor ca. zwei Jahren auf den Weg gebracht haben, ist eine webbasierte App. Sie heißt: „Den Dingen auf der Spur“ und richtet sich gezielt an Schülerinnen und Schüler. Darin werden exemplarisch dreidimensionale Exponate vorgestellt – mit allen Botschaften aus der Geschichte, die darin verborgen sind, also z. B., dass jemand in einen Blechnapf seine Häftlingsnummer eingeritzt hat. Oder dass ein Gruß an die Angehörigen irgendwo notiert ist. Diese Exponate sind didaktisch aufbereitet, wissenschaftlich kuratiert und als eine Auswahl in die Öffentlichkeit gebracht. Damit machen wir gute Erfahrungen, auch im Kontext von Vor- und Nachbereitung.
Nach welchen Kriterien wählen Sie das Material aus – und wo ziehen Sie klare Grenzen, etwa bei Inhalten, die aus Ihrer Sicht nicht geeignet sind?
Grenzen sind aus meiner Sicht, sowohl im Analogen als auch im Digitalen, immer dann erreicht, wenn Authentizität simuliert wird. In dem Augenblick, wo fiktionale Elemente als Ergänzung dazukommen, machen wir das kenntlich. Das halte ich für extrem wichtig. Die Gedenkstätten haben, gerade auch, was die Sachzeugnisse in ihren Archiven anbelangt, einen sehr hohen Beglaubigungswert. Und in dem Augenblick, wo wir anfangen, historische Quellen gewissermaßen nachzustellen, fälschen wir sie potenziell.
Das Nachstellen historischer Szenen – sogenannte Reenactments – ist ein gängiges Stilmittel, auch in dokumentarischen Formaten. Wie stehen Sie zu diesem Mittel im Kontext der Gedenkstättenarbeit? Lehnen Sie es grundsätzlich ab oder kann es auch helfen, Zuschauende emotional stärker zu erreichen?
Die Verbrechen, mit denen man in Buchenwald konfrontiert ist, sind dermaßen brutal und unfassbar, dass es keinerlei zusätzlicher Emotionalisierung bedarf. Im Gegenteil, es ist eher die Aufgabe, die Emotionalisierung ein wenig herunterzufahren, um hier keine Überwältigungspädagogik zu betreiben. Reenactments kann man machen, aber es muss deutlich bleiben, dass es sich nicht um authentisches Material handelt. Die Grenzen müssen immer deutlich sichtbar sein. Wobei auch ethische Grenzen unbedingt zu berücksichtigen sind. Rein theoretisch könnte man beispielsweise mit Virtual Reality einen Gang in die Gaskammer nachstellen. Die Tür wird verschlossen. Und dann fängt es von oben an zu sprühen. Das kann man technisch alles machen, aber es versteht sich von selbst, dass sich das aus ethischen Gründen verbietet.
Grenzen sind aus meiner Sicht, sowohl im Analogen als auch im Digitalen, immer dann erreicht, wenn Authentizität simuliert wird.“
Nicht authentisch sind auch inszenierte Szenen, die die Alliierten verwendet haben, und nicht authentisch sind natürlich ebenfalls von den Nationalsozialisten zu Propagandazwecken erstellte Bilder. Wie gehen Sie damit um? Reicht da der Hinweis auf die Quelle, der Hinweis darauf, dass es sich um Propagandamaterial handelt? Oder nutzen Sie dieses Material gar nicht?
Das ist eine sehr gute Frage und wird bei jedem Ausstellungsprojekt immer wieder neu diskutiert. Propagandaplakate und ‑fotos der Nationalsozialisten geben die Täterperspektive wieder. Das muss immer berücksichtigt werden! Es reicht nicht, dazu einfach nur eine Bildunterschrift zu verfassen. Man muss in der Positionierung dieses Dokuments innerhalb der Ausstellung darauf achten, dass wir quellenkritisch damit umgehen und der Propagandawert oder der propagandistische Inhalt nach Möglichkeit gebrochen wird. Das wird nicht immer möglich sein, aber man muss sich dieser Sache sehr bewusst sein. Und Quellenkritik ist tatsächlich nicht nur für die historische Forschung, sondern auch für das Konzipieren einer Ausstellung die wichtigste Forderung überhaupt.
Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund das Gros des dokumentarischen Materials, das im Fernsehen gesendet wird? Wird Ihrer Meinung nach mit diesen Materialien sorgfältig genug umgegangen?
Es kommt immer darauf an. Sie kennen sicherlich noch die Filme von Guido Knopp aus dem ZDF. Darin wurde meines Erachtens schindluderhaft mit sogenannten Zeitzeugen umgegangen. Die Sendung hatte das Prinzip, dass aus dem Off apodiktisch irgendetwas behauptet wurde. Danach wurde vor schwarzem Hintergrund ein sogenannter Zeitzeuge eingeblendet, der im Prinzip dasselbe noch einmal sagte – gewissermaßen als Beglaubigung dessen, was vorher der Wissenschaftler bzw. der Sprecher der Doku behauptet hatte. Damit nimmt man den Zeitzeugen in Wirklichkeit als historische Quelle überhaupt nicht ernst, weil er letzten Endes als Beglaubigungsinstrument missbraucht wird.
Und manchmal wurden Zeitzeugenausschnitte eklektizistisch zusammengeschnitten, sodass es ins Narrativ passte. Auch das ist kein quellenkritischer Umgang mit den Dokumenten. Es wurden z. T. Aufnahmen aus Propagandafilmen verwendet.
Was wir in letzter Zeit gerade bei jüngeren Kolleginnen und Kollegen häufiger erleben, ist die Forderung, vor fast jedes historische Dokument eine Triggerwarnung zu stellen. Oder bestimmte Begriffe aus historischen Quellen wie das N- oder das Z-Wort zu streichen. Damit habe ich, ehrlich gesagt, große Probleme. Das sind historische Dokumente – und die sollten wir nicht ändern. Denn damit verändern wir auch den semantischen Charakter eines Dokuments. Bei der Präsentation sollte man natürlich vorsichtig sein. Ich würde z. B. niemals eine riesige Typografie mit dieser Wortführung an die Wand drucken oder dergleichen. Aber so etwas dezent in einer Vitrine präsentieren, das darf man meines Erachtens schon.
Empfinden Sie eine Triggerwarnung als Hohn den Opfern gegenüber?
Wenn man ein Dokument, in dem es um Erschießungen von Juden geht, mit einer Triggerwarnung versieht – mit dem Hinweis auf Retraumatisierung, weil man vielleicht auf der Straße rassistischen Kommentaren ausgesetzt ist –, dann halte ich das schon fast für anmaßend gegenüber dem, was ein Mensch erleiden musste, der Opfer dieser Erschießung wurde. Womit ich überhaupt nicht kleinreden möchte, was jemand an Alltagsrassismus erlebt. Aber da ergibt sich eine Schieflage und ich finde, dass wir in solchen Zusammenhängen etwas vorsichtig sein müssen.
Im Spannungsfeld von Bildungsanspruch und Jugendschutz stellt sich grundsätzlich die Frage, wie mit drastischen Bildern umzugehen ist. Halten Sie sogenannte Schockbilder für notwendig, um Betroffenheit zu erzeugen, oder sehen Sie eher die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche traumatisiert oder zu früh mit diesen Inhalten konfrontiert werden und sich dann der Thematik verschließen? Wie stehen Sie zu Schockbildern im Kontext von Dokumentationen?
Ablehnend, wenn sie als Schockbilder verwendet werden und das Ziel ist, jemanden moralisch zu überwältigen. Der Beutelsbacher Konsens spricht von Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot. Mittlerweile ist das in der Gedenkstättenarbeit auch Common Sense. Man kann das Thema Jugendlichen ab 14 Jahren auch altersgerecht vermitteln, ohne sie zu schocken und im schlimmsten Fall zu traumatisieren. Fotos von Leichenbergen vor dem Krematorium oder von geöffneten Massengräbern zeigen wir zwar in unseren Ausstellungen, aber nicht als Blow-up oder über Freisteller. Wir spielen also nicht mit diesen Fotos. Wir zeigen sie eher klein und verzichten auf Fotografien, auf denen z. B. explizit Geschlechtsteile und dergleichen zu sehen sind. Wir verzichten aber nicht ganz auf solche Fotografien, weil das Argument durchaus schlagend ist, dass es letzten Endes eine Verharmlosung der Geschichte wäre, wenn wir die Bilder, die das Grauen dokumentieren, völlig weglassen.
Der Beutelsbacher Konsens spricht sich gegen Überwältigung aus. Geht es dabei in erster Linie um den emotionalen Schutz Heranwachsender – also darum, sie nicht zu stark zu konfrontieren? Oder steckt auch die Sorge dahinter, dass eine zu starke emotionale Wirkung dazu führen könnte, dass sich junge Menschen aus Selbstschutz rational vom Thema abwenden?
Dahinter stehen ein psychologischer und ein didaktischer Gedanke. Der psychologische ist der, dass Schock und Schwarze Pädagogik eher zu Abwehr führen und dass gewissermaßen kognitiv die Schranken heruntergefahren werden. Der didaktische Gedanke ist, dass wir unseren Besucher:innen nicht irgendeine Lehre aus der Geschichte oder eine Sichtweise auf Geschichte aufzwingen wollen. Vielmehr wollen wir sie befähigen, sich selbst ein Urteil aus der Geschichte zu erarbeiten. Das ist ein mühsamer Prozess.

Der Appellplatz nach der Befreiung. Blick vom Turm des Torgebäudes über den Appellplatz, 14. April 1945 (Foto: Walter Chichersky, U.S. Signal Corps.)
Im Zusammenhang mit Geschichtsrevisionismus und einer wachsenden Demokratiegefährdung: Welche Erfahrungen machen Sie mit Angriffen auf Gedenkstätten und Ihre Arbeit? Beobachten Sie hier eine Zunahme?
Ja. Wir erleben seit etwa zehn Jahren eine Zunahme von Anfeindungen, aber auch von tätlichen Angriffen gegen die Gedenkstätten. Insbesondere in den letzten zwei, drei Jahren hat das sehr stark zugenommen. Da hat die Pandemie sicherlich auch eine Rolle gespielt mit den verschwörungsideologischen Protesten gegen die Schutzmaßnahmen, die zu einer Zunahme von antisemitischen Verschwörungserzählungen und Ressentiments gegenüber der liberalen Gesellschaftsordnung geführt haben.
Die Anfeindungen sehen wir aus den Parlamenten heraus, z. B. durch die AfD, die ständig geschichtsrevisionistische Positionen in die Öffentlichkeit bringt. Sie versucht auch, Misstrauen gegen unsere Arbeit zu säen, indem wir mit diskreditierenden kleinen Anfragen im Landtag konfrontiert werden.
Wir erleben diese Anfeindungen aber auch in direkten Angriffen auf die Gedenkstätten. Info- oder Gedenktafeln werden mit Hakenkreuzen oder SS-Runen beschmiert und Gedenkbäume für individuelle Opfer des KZ Buchenwald abgesägt. Diesen erinnerungspolitischen Klimawandel erleben wir auch bei Besucherinnen und Besuchern. Eine Minderheit von ihnen tritt zunehmend lauter und selbstbewusster auf und vertritt offen geschichtsrevisionistische Positionen in den Gedenkstätten. Das hatten wir vor einigen Jahren so noch nicht.
Sie haben in einem Gespräch mit Carolin Emcke einmal gesagt: „Wenn ich heute höre, wehret den Anfängen, kann ich nur antworten: Welche Anfänge? Wir sind schon mittendrin.“ Was meinen Sie damit? Haben wir aus der Geschichte nichts gelernt?
Ja. Wir merken, dass auch demokratische Parteien rassistische und verschwörungsideologische Narrative der AfD übernommen haben. Das hat dazu geführt, dass sich der gesamte politische Diskurs in Deutschland sehr stark nach rechts verschoben hat. Wir haben mit der AfD eine Partei in Deutschland, die antiliberale, antidemokratische Ressentiments bedient, die notorisch den Holocaust kleinredet, verharmlost, die die deutsche Größe postuliert, die autoritäre, rassistische Parolen verbreitet und unseren Staat radikal umbauen möchte. Sie stellt im Grunde die institutionalisierte Absage an Art. 1 unseres Grundgesetzes dar, der da heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Da müssen bei uns allen tatsächlich sämtliche Alarmglocken läuten! Wir sind aufgefordert, uns für die liberale Demokratie einzusetzen und für die offene, humane und gerechte Gesellschaft zu streiten und uns dafür zu engagieren. Das muss jetzt passieren, denn morgen ist es vielleicht zu spät.

Jens-Christian Wagner (Foto: privat)
Dr. Jens-Christian Wagner ist seit Oktober 2020 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Claudia Mikat (Foto: sh/fotografie)
Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).