Festival ohne Kino und Publikum

Der erste Teil der 71. Berlinale

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

Ein Jahr nach ihrem beachtlichen Jubiläum hat nun die Berlinale – coronabedingt – in aller Stille und unter Ausschluss des Publikums stattgefunden. Zumindest der erste Teil, das „Industry-Online-Angebot“, zu dem auch die Presse eingeladen war. Im Juni 2021 soll es dann das „Publikums-Event“ geben, wenn es Corona zulässt, die Kinos wieder geöffnet sind und wenn …

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 2/2021 (Ausgabe 96), S. 8-11

Vollständiger Beitrag als:

 

Ein verkürztes Festival, das von zehn Tagen auf fünf heruntergeschraubt wurde, ohne Stars, roten Teppich, ohne große Leinwand und aufregende Kinoatmosphäre ganz allein vor dem PC und manchmal auch abends auf dem Sofa zu verfolgen, war traurig und wenig inspirierend. Obwohl ich mir dieses Jahr keine Erkältung geholt habe wie sonst bei der Berlinale, nicht um Einlass bangen musste und nicht vom Zoo zum Potsdamer Platz und dann noch zum Haus der Kulturen der Welt hetzen musste, wird mir das diesjährige Festival als ein sehr merkwürdiges, einsames in Erinnerung bleiben. In diesen Tagen ist mir besonders bewusst geworden, wie wichtig die physische Präsenz ist, das gemeinsame Erleben mit dem Publikum, die Gespräche und Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen, der Austausch mit den Filmemacherinnen und -machern. Es fehlte nicht nur der Spaß und die Aufregung, sondern vor allem der künstlerische Diskurs, der – angeregt durch die Filmproduktionen – ja oft in einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen gipfelt.

Am allermeisten aber habe ich das jugendliche Kinopublikum vermisst. Um Filme aus der Sektion „Generation“ zu beurteilen, ist es unabdingbar, die spontanen und damit authentischen Reaktionen der Kinder und Jugendlichen, ihre Fragen und Kommentare in den üblichen Filmgesprächen zu erleben. Immer wieder wurden „Generation“-Beiträge von uns Fachleuten bei den Pressevorführungen falsch eingeschätzt, wurde vermutet, dass sie das junge Publikum überfordern würden. Während des Festivals wurden wir öfter eines Besseren belehrt. Manchmal erhielten gerade diese Filme den Gläsernen Bären von der Kinder- bzw. Jugendjury. Beide Jurys haben jetzt im März 2021 noch nicht gearbeitet, hoffentlich dürfen sie dann im Juni tagen.

So können wir zunächst nur mutmaßen, wie die insgesamt 15 Wettbewerbsbeiträge von „Kplus“ und „14plus“ bei dem jugendlichen Publikum ankommen werden. Es sind in der Mehrzahl leise Filme, die sich sensibel mit dem Innenleben, den seelischen Konflikten von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen. Sektionsleiterin Maryanne Redpath beschreibt – bezogen auf die veränderte Stimmung in Coronazeiten – die Anmutung der diesjährigen Auswahl so:

Die Filme bieten eine willkommene Pause vom Leben, wie wir es gerade kennen.

Gesellschaftliche Missstände, die für die Lebenswege der jungen Protagonistinnen und Protagonisten nicht ohne Bedeutung sind, spielen sich eher im Hintergrund ab oder nehmen gar keinen Raum ein.
 

Trailer: Last Days at Sea (2021)



Bei „Kplus“ sind in diesem Jahr hauptsächlich Filme für Kinder ab 8, 9 Jahren ausgewählt worden. Bis auf den Dokumentarfilm Last Days at Sea (Letzte Tage am Meer) von den Philippinen und aus Taiwan handelt es sich dabei um Spielfilme. Animations- und Kurzfilme befinden sich nicht in dem gekürzten Programm. Ein Teil der Spielfilme ist in einem doku­mentarisch anmutenden Stil inszeniert, wie beispielsweise der Wettbewerbsbeitrag aus der Republik Korea Jong chak yeok (Bis ans Ende der Welt). Hier fahren vier Mädchen für ein Fotoprojekt, bei dem sie analoge Fotoapparate mit jeweils 27 Bildern verwenden sollen, an das vermeintliche Ende der Welt. Das befindet sich zunächst an der Endhaltestelle der U‑Bahn-Linie 1 am Stadtrand von Seoul. Doch die Mädchen ziehen weiter über die Landstraße, wo sie – ganz unspektakulär – die Provinz für sich entdecken. Dieses Langfilmdebüt von Kwon Min-pyo hätte ich gern zusammen mit einem hiesigen Kinderpublikum erlebt, um zu sehen, ob es sich auf so eine langsame, beschauliche Erzählweise, die im Prinzip nicht mehr als Alltäglichkeiten wiedergibt, einlassen kann und will.

Ähnlich geht es mir mit dem bezaubernden Film Una escuela en Cerro Hueso (Eine Schule in Cerro Hueso) der argentinischen Regisseurin Betania Cappato. Auch dieser ist sehr ruhig und mit langen Einstellungen inszeniert. Der Film erzählt, wie ein kleines, autistisches Mädchen in der behüteten Atmosphäre einer Dorfschule allmählich aus seiner inneren Isolation herauszutreten vermag. Erwachsene zieht dieser Film allein schon durch seine magische, zarte Hauptdarstellerin in den Bann – und vermutlich hätte sie auch das junge Publikum beeindruckt. Die Internationale Jury, bestehend aus der Schauspielerin Jella Haase, dem niederländischen Regisseur Mees Peijnenburg sowie der Regisseurin und Drehbuchautorin Melanie Waelde, sprach „dieser wunderschönen, herzerwärmenden und starken filmischen Vision“ eine lobende Erwähnung aus.

Den Großen Preis für den Besten Film vergab sie an die chinesische Produktion Han Nan Xia Ri (Sommerflirren), auch eine ganz langsam und sensibel erzählte Mädchengeschichte. In dem Langfilmdebüt der Regisseurin und Drehbuchautorin Han Shuai muss die 13-jährige Guo mit dem Unfalltod ihres besten Freundes fertigwerden und außerdem die Trennung von ihrer Mutter, die in den USA arbeitet und dort eine neue Familie gegründet hat, verwinden. Still und mit knappen Dialogen fängt die Kamera die Gefühlsregungen, die Sehnsüchte und den Schmerz der jungen Protagonistin ein.
 

Trailer: Nelly Rapp – Monster Agent (2021)



Action, Spaß und Hintergründigkeit bei zwei europäischen Produktionen

Was hätte ich dafür gegeben, wenn ich das witzige, anarchische wie warmherzige Roadmovie Mission Ulja Funk der in Bochum geborenen Filmemacherin Barbara Kronenberg im Zoopalast voller Kinder hätte sehen können! In ihrem Langfilmdebüt, unterstützt von der Förderinitiative „Der besondere Kinderfilm“, geht es um die 12-jährige Astronomin Ulja Funk, die einen Asteroiden entdeckt hat, der demnächst in Weißrussland auf die Erde stürzen soll. Klar, dass sie dabei sein muss! So zwingt sie ihren Mitschüler Henk, der nichts kann außer Auto fahren, sie in das 1.257 Kilometer entfernte Patzschurk zu kutschieren. Ungewollt haben sie Uljas russlanddeutsche und streng nach alten Traditionen lebende Großmutter im Gepäck und werden dazu vom Bus der freikirchlichen Gemeinde mit dem Rest der Familie Funk sowie dem Pastor Brotz und dem Chor verfolgt. Mission Ulja Funk bringt das Publikum durch die frechen, oftmals unkorrekten Dialoge, die schrägen Figuren mit ihren nur allzu menschlichen Unzulänglichkeiten und durch die komischen Situationen zum Lachen und singt so ganz nebenbei ein Hohelied auf wahre Freundschaft, Liebe und den Zusammenhalt in der Familie.

Action, Spannung und Spaß bietet ebenso die schwedische Produktion Nelly Rapp – Monster Agent (Nelly Rapp – Monsteragentin) von Amanda Adolfsson. Basierend auf der auch in Deutschland populären Buchreihe Monsteragentin Nelly Rapp steht hier eine junge Außenseiterin im Mittelpunkt, die entdeckt, dass ihre Familie und damit auch sie zu einem Netzwerk von Monsteragentinnen bzw. -agenten oder besser gesagt: Monsterjägerinnen und -jägern gehört. Nelly will – obwohl sie eigentlich noch zu jung ist – unbedingt bei der Monsterjagd dabei sein, bis sie die geheimnisvolle, einsame Roberta, ein Frankenstein’sches Wesen, entdeckt und sich mit ihr anfreundet. Nelly Rapp – Monster Agent ist ein Fantasyfilm der Güteklasse – mit einer ausgesprochen kunstvollen Ausstattung und bildnerischen Gestaltung, zwei wunderbaren Kinderdarstellerinnen und einer schönen Botschaft.
 

Trailer: From The Wild Sea (2021)



Innere Befindlichkeiten, dokumentarisch anmutende Formsprache

Unter den sieben Beiträgen des Wettbewerbs „14plus“ findet sich ein bewegender Dokumentarfilm aus Dänemark. From the Wild Sea hat die Rettung von Meerestieren, die durch Umweltverschmutzung wie auch durch Klimaveränderungen in Not geraten sind, zum Thema. Dabei begegnet Filmemacherin Robin Petré den Tieren respektvoll auf Augenhöhe, zeigt die aufopferungsvolle Arbeit der Menschen und gleichwohl deren Anteil als Verursacher dieser Katastrophen.

Wie auch schon bei „Kplus“ zeichnen sich einige der Spielfilme bei „14plus“ durch einen dokumentarisch wirkenden Stil aus. Beim diesjährigen Preisträger, ausgezeichnet von der Internationalen Jury, bemerkt man erst beim Abspann, dass es sich hier um eine Inszenierung handelt. La Mif (The Fam) aus der Schweiz porträtiert sieben Mädchen und erzählt deren Lebensgeschichten. Sie alle kommen aus schwierigen familiären Verhältnissen und leben in einem Heim, geleitet von der engagierten Sozialarbeiterin Lora, die auch „ihr Päckchen“ zu tragen hat. Die Mädchen haben mit tiefen Verletzungen zu kämpfen, sind schwer traumatisiert und dementsprechend oft unberechenbar im Zusammensein mit anderen. Das Heim ist ihr Zuhause, Heimleiterin, Betreuerinnen und Betreuer versuchen, ihnen Halt zu geben und sie auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit zu begleiten. Filmemacher Fred Baillif, selbst viele Jahre als Sozialarbeiter und Streetworker tätig, entwickelte die einzelnen Figuren in seinem Film gemeinsam mit den jungen Laiendarstellerinnen.

„Wie ein rauschender, energiegeladener, pulsierender Herzschlag treibt dieser Film seine Figuren und die Zuschauer*innen mit schonungsloser Ehrlichkeit durch verschiedene klug miteinander verwobene Geschichten und Ereignisse. Getragen wird er dabei von fesselnden und intensiven schauspielerischen Leistungen und hält stets seine Balance zwischen Stärke und Verletzlichkeit“, heißt es zu Recht in der Begründung der Internationalen Jury.

Auch der ukrainische Wettbewerbsbeitrag Stop-Zemlia von Kateryna Gornostai könnte das dokumentarische Porträt einer 16-Jährigen sein. Masha (unglaublich sensibel und für sich einnehmend gespielt von Maria Fedorchenko), ihre Freundin Iana und ihr Freund Senia stehen im Mittelpunkt dieser fiktionalen Produktion. Es geht vor allem um Mashas unerwiderte Liebe zu einem Mitschüler und den Beistand, den ihr besonders Senia gibt. Es geht aber auch um die enge Freundschaft der drei, ihre Unsicherheiten, ihre Fragen an die Welt, ihre Träume und Zukunftsvorstellungen. Kateryna Gornostai, die hier an eigene Jugenderinnerungen anknüpft, lässt ihre jungen Hauptfiguren immer wieder aus der Handlung heraustreten und über ihre Gefühle sprechen, so als würde sie sie interviewen.
 

Trailer: Ninjababy (2021)



Lebenswege, die eine unerwartete Richtung nehmen

Mit tiefschürfenden, unerwarteten Ereignissen, die ihrem Leben eine ganz andere Richtung geben, müssen sich die Protagonistinnen aus zwei sehr unterschiedlichen Filmen aus­einander­setzen. So bemerkt eines Tages die junge Rakel in dem norwegischen Film Ninjababy, dass sie schwanger ist, und zwar bereits im sechsten Monat. Nun bleibt der chaotischen Comiczeichnerin nichts anderes übrig, als sich mit der Vorstellung, Mutter zu werden, zu arrangieren. Der Weg dahin ist mühsam, zumal der Vater des Kindes herausgefunden und zur Verantwortung gezogen werden muss und Rakel selbst ein Verhältnis zu dem winzigen Ninja in ihrem Bauch aufbauen muss. Basierend auf einer Graphic Novel von Inga Sætre hat Regisseurin Yngvild Sve Flikke diese Geschichte mit leichter Hand, aber ohne die Dramatik dieses Konflikts herunterzuspielen, inszeniert.

Die schüchterne, junge Jina in dem Film Fighter ist aus Nordkorea geflohen und lebt nun endlich in einer eigenen Wohnung in Seoul. Um auch ihrem Vater, der noch an der chinesischen Grenze festsitzt, die Flucht finanziell zu ermöglichen, hat sie zwei Jobs angenommen. So wäscht sie Geschirr in einem Restaurant und putzt in einem Boxstudio. Doch dann bietet der Trainer an, ihr Boxunterricht zu geben. Als Jina erfährt, dass „frau“ als Profiboxerin viel Geld verdienen kann, beginnt sie zu kämpfen – so wie sie es bisher immer in ihrem Leben tun musste. Der koreanische Filmemacher Jéro Yun erzählt eine spannende, mitreißende Geschichte von einem starken Mädchen, das sich erst seiner Kraft bewusst werden und zudem in seiner neuen Heimat zurechtfinden muss. Der Film geht nahe und ich bin gespannt, wie er im Juni bei der Jugendjury und dem Publikum ankommen wird. Hoffen wir also, dass dann ein bisschen Berlinale-Atmosphäre nachgeholt werden kann!
 


 

Die Preise
 

Großer Preis der Internationalen Jury für den Besten Film im Wettbewerb „Generation Kplus“

Han Nan Xia Ri (Sommerflirren)

von Han Shuai (Volksrepublik China 2020)
 

Lobende Erwähnung „Generation Kplus“

Una escuela en Cerro Hueso (Eine Schule in Cerro ­Hueso)

von Betania Cappato (Argentinien 2021)
 

Großer Preis der Internationalen Jury für den Besten Film im Wettbewerb „Generation 14plus“

La Mif (The Fam)

von Fred Baillif (Schweiz 2021)


Lobende Erwähnung „Generation 14plus“

Cryptozoo

von Dash Shaw (USA 2021)