Film als pädagogisches Setting

Ein Medium als Vermittlungs- und Vergegenwärtigungsinstanz

Elvira Neuendank

Bielefeld 2022: transcript
Rezensent/-in: Uwe Breitenborn

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 1/2023 (Ausgabe 103), S. 94-95

Vollständiger Beitrag als:

Film als pädagogisches Setting

Die Autorin folgt einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive (Pädagogik der Medien), die strukturell „jede Form der Ansprache, aus der potentiell Momente der Selbst- und Weltbeschäftigung hervorgehen können“ (S. 8), als pädagogisch definiert. Übertragen auf ihren Untersuchungsgegenstand bedeutet dies, dass in allen Filmen, unabhängig vom Genre und Format, eine Pädagogik eingebettet ist, da Filme in der Regel so angelegt sind, „dass sie zu einer Begegnung und Beschäftigung mit dem Dargestellten verhelfen“ (S. 9). Die Autorin setzt die filmische Form zur „Deutung pädagogischer Implikationen“ (S. 211) in das Zentrum ihrer Analyse und folgert: „Die damit einhergehenden Selektions- und Kanonisierungsprozesse, die medial mit getragen, forciert oder durchbrochen werden, weisen Parallelen zu drängenden Fragen der Pädagogik auf: Was soll wie weitergegeben werden?“ (S. 212). Ihr geht es also um Wissenstransfer durch Filme. Ihre Studie mündet in drei Thesen (S. 212 ff.): 1) Allen Filmen liegen Aufmerksamkeitsstrukturen zugrunde, aus denen mögliche Zugänge und Annäherungen an das Dargestellte hervorgehen. 2) Filme sind im Zusammenhang mit innerfilmischen, intermedialen und außerfilmischen Geschehnissen, Praxen und Diskursen zu verstehen. 3) Filmgeneriertes Wissen ist nicht restlos in andere Wissenspraktiken überführbar.

Wie im Film Zugänge zum Dargestellten ermöglicht werden, mediale Erfahrungsräume entstehen und Aufmerksamkeit gelenkt wird, entscheidet darüber, wie ein Film als Ort der Werte- und Wissensvermittlung funktioniert (S. 12). Das ist nicht unbedingt neu, wird aber in Neuendanks Buch anhand zahlreicher Filme analytisch neu durchexerziert. Zu ihnen gehören u. a. Holocaust (1978), #Uploading_Holocaust (2016), Der Rat der Götter (1950), Aufschub (2007), Die Brücke (1959), In jenen Tagen (1947), Son of Saul (2015), So weit die Füße tragen (1959) oder Die bleierne Zeit (1981), wobei sich die Autorin bei Letzterem beispielsweise auf die Szene konzentriert, in der der Film Nacht und Nebel (1956) vorgeführt wird, die im Grunde genommen eine Kernaussage des Films definiert. Das ist plausibel, denn der Szene wohnt wirklich ein pädagogischer Impuls inne. Der methodische Ansatz der Studie ist generell sehr weitgespannt, und es darf natürlich hinterfragt werden, ob er geeignet ist, das Spezifische eines pädagogischen Settings zu erfassen. In konventioneller Sichtweise beschäftigt sich Pädagogik ja mit der „Höherentwicklung“ des Menschen durch Erziehungs- und Bildungsprozesse. Weil im Film durch Gestaltung „Wissen (vielfach gezielt) gedeutet, selektiert, arrangiert und zueinander in Bezug gesetzt wird“ (S. 10), entstehe eine pädagogische Machtinstanz, so die Autorin. Folgt man dieser Perspektive, wird letztlich jedes Arrangement zur Pädagogik. Und so sieht es Elvira Neuendank in der Tat selbst: „Ob Serien, Spielfilme oder Youtube-Videos, ob unterhaltsam, ernst, fiktional oder dokumentarisch ausgerichtet, allem liegt eine pädagogische Struktur zugrunde, weil jedes filmische Ensemble auf Vermittlung und Aneignung hin ausgelegt ist – es soll gesehen und von einem (gewissen) Publikum verstanden werden“ (S. 19). Ihre Herangehensweise lässt sich gut auf ambitionierte Filme anwenden, die ein gesellschaftlich relevantes Anliegen verfolgen. Bei ihr sind es historische Stoffe, die sich zumeist mit Themen des Nationalsozialismus befassen. Der Autorin gelingt es sehr gut, anhand der genannten Filme die künstlerischen Vermittlungsprozesse und gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer Rezeption herauszuarbeiten. Neuendank versteht Film als eine „gezielt in Gang gesetzte pädagogische Kommunikation“ (S. 9), bei der die pädagogischen Momente meist nicht dezidiert als solche benannt werden. Filmrezeption basiere auf einem pädagogischen Verhältnis zwischen Film und Publikum, so die Autorin. Die Fassung von Wissen findet mit den jeweiligen „medialen Möglichkeiten statt: Auslassungen, Andeutungen, Verdichtungen, Konkretisierungen erfolgen mithilfe von technischen und ästhetischen Strategien des Mediums Film“ (S. 217). Das ist richtig, aber es umfasst eben alles und wird damit unscharf. Der generelle Anspruch, den die Autorin mit dem Konzept des pädagogischen Settings erhebt, geht in der Konsequenz vielleicht zu weit. Darüber lässt sich aber auch vortrefflich diskutieren. Insofern ist das Buch, das auch filmphilosophische Qualitäten besitzt, in filmanalytischen Seminaren und bei einem interessierten Fachpublikum gut aufgehoben. Die Autorin diskutiert sehr kenntnisreich fachwissenschaftliche Perspektiven auf Pädagogik, Filmkultur und die Integration von Filmen in wissenschaftliche Diskurse. „Filme als pädagogische Settings zu denken, heißt daher, filminduzierte Wahrnehmungs- und Denkmuster als mögliche selbst- und weltverändernde Erkenntnispotentiale ernst zu nehmen“ (S. 217). Dem letzten Satz des Buches möchte man hinzufügen: Ob das für alle Filme gelten kann, sei einmal dahingestellt.

Dr. Uwe Breitenborn