Gamification

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

„Gamification […] steht für die Nutzung von Spielelementen in anderen als unterhaltungsorientierten, nämlich in ernsten Kontexten“, erklärt Gerd Hallenberger und liefert auch Beispiele aus der realen Welt.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 1/2020 (Ausgabe 91), S. 80-81

Vollständiger Beitrag als:

Gamification

Wer spielt, probiert etwas aus – und dabei zugleich sich selbst. Da die Spielwelt eine ganz eigene ist, geschieht dies ohne jedes Risiko, kann aber tolle Erfolgserlebnisse zur Folge haben. Spielen nutzt die menschliche Neugier und fördert sie. Kinder eignen sich die Welt im Spiel an, und auch Erwachsene spielen gern. Spielen ist eine paradoxe Tätigkeit: Einerseits schafft sie eine eigene Welt, andererseits ist diese Welt auf vielfältige Weise mit der realen, der Nichtspielwelt, verbunden – allein schon durch die Spielenden, die in beiden Welten sie selbst bleiben, nur in anderen Rollen. Auf dem langen Weg vom analogen Spielen im Sandkasten, mit Bausteinen, am Brett oder mit Karten zum digitalen Gaming ist ein wichtiger Teilbereich der Medienbranche entstanden. Der dort erzielte Gesamtumsatz kann leicht mit dem von Film- und Musikgeschäft konkurrieren, in vielen Statistiken liegt die Gamesbranche sogar deutlich vorn.

Wenn Spielen Spaß macht, Gaming ein großes Geschäft ist und das Spiel immer auch mit der wirklichen Welt zu tun hat, liegt die Überlegung nahe, ob sich vielleicht einzelne Elemente in ganz andere Kontexte transponieren lassen. Das Resultat wird Gamification genannt und steht für die Nutzung von Spielelementen in anderen als unterhaltungsorientierten, nämlich in ernsten Kontexten. Eine präzise, unumstrittene Definition gibt es zwar bis heute nicht, aber ganz allgemein besteht Einigkeit darüber, dass von Gamification vor allem dann gesprochen werden kann, wenn Aktivitäten jeglicher Art in messbare und dann tatsächlich gemessene Leistungen transformiert werden, die beispielsweise Ranglisten und Highscores ermöglichen oder auch die Vergabe von Abzeichen und virtuellen „Belohnungen“ und das Aufsteigen in höhere Levels. Mit diesem Framing soll die betreffende Aktivität in etwas anderes, Unernstes, verwandelt und Motivation und Engagement der Beteiligten durch den Rollenwechsel in „Spielende“ gesteigert werden. Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, dass man anspruchsvollere Spielformen, die entweder mit einem komplexen Regelwerk oder ernsten Absichten oder beidem verbunden sind, schon länger kennt.

In der Welt der Videospiele gibt es z.B. Open-World-Games wie Minecraft oder No Man’s Sky, die die Spielenden nicht in eine einzige Rolle zwingen, sondern ihnen mehrere Rollenoptionen lassen. Sie können entweder vorgegebene Missionen erfüllen oder aber eine Spielwelt selbstständig entdecken oder sogar gestalten. Während Open-World-Games demonstrieren, welche Freiheiten in einem Spiel theoretisch möglich sind, steht das ältere Phänomen der Serious Games für die vielfältigen Möglichkeiten, Spiele für ernste Zwecke einzusetzen.

Unter diesem Begriff versteht man vor allem – aber nicht nur – Simulationen und Lernspiele, die es schon deutlich vor Computer, Spielkonsole und Internet gab, wenn auch nicht den Begriff selbst. Militärische Planspiele und Rollenspiele dienen seit Langem als Entscheidungshilfe; und selbst Flugsimulatoren sind keine ganz neue Erfindung. Dank Digitalisierung haben sich jedoch die Verwendungsbereiche von Serious Games drastisch vermehrt. Sie kommen beispielsweise bei der medizinischen Ausbildung ebenso zum Einsatz wie bei der Förderung persönlicher Fitness, beim schulischen und außerschulischen Lernen ebenso wie bei der Herstellung von Kunst – und bei der Rekrutierung und Ausbildung von Soldaten.

Serious Games kreieren vollständige Spielwelten, bei der Gamification geht es dagegen nur darum, einzelne Elemente von Spielen in Settings einzubinden, die erkennbar kein „Spiel“ sind – und nicht gerade spontane Begeisterung auslösen. Es ist kein Zufall, dass der wenig beliebte, aber unvermeidliche Bereich der Werbung hier eine Schlüsselrolle spielt: Kleine Spiele, Playable Ads, haben sich als erfolgreiches Marketing-Tool erwiesen, mit dem die Klickrate bei Werbebannern deutlich erhöht werden kann. Gamification liegt aber auch dort vor, wo Fitnesstracker erreichte Ziele mit Feuerwerk und Applaus auf dem Display quittieren oder zum Wettbewerb mit Freunden einladen; wo die Bereitschaft, einen Onlinefragebogen auszufüllen, dadurch gestärkt werden soll, dass ständig ein Fortschrittsbalken eingeblendet wird: So viel hast du schon geschafft! Gamification kann ebenso Menschen zu kleinen Verhaltensänderungen in Alltagssituationen motivieren. Rolltreppen sind bequem, Treppen zu steigen, ist dagegen anstrengend, aber gesünder. Deshalb wurde 2009 eine Treppe der Stockholmer U-Bahn-Station Odenplan in eine begehbare Klaviertastatur umgebaut – wenn eine Stufe betreten wird, erklingt der dazugehörige Ton. Die Idee funktionierte, die Treppe wurde nun wesentlich häufiger benutzt, und heute gibt es in zahlreichen Städten Piano Stairs.
 



Ebenso wie Serious Games haben auch viele Erscheinungsformen von Gamification eine lange Vorgeschichte in prädigitaler Zeit. Kommerzielle Preisausschreiben waren letztlich auch nur ein Weg, Werbebotschaften zu höherer Aufmerksamkeit zu verhelfen; und Rabattmarken, Treuepunkte und Bonusmeilen dienten erkennbar dem Zweck, auf spielerische Weise die Kundenbindung zu fördern.

Jede Aktivität kann durch Gamification zumindest angenehme Aspekte gewinnen, als weniger anstrengend erscheinen, geradezu ein wenig Spaß versprechen – auch wenn die Sache selbst kein Spaß ist. So bereitet die Volksrepublik China gerade ein umfassendes Scoringsystem vor, das mit spielerischen Mitteln zu angepasstem Verhalten führen soll. Scoring an sich ist kein neues Phä­nomen, das macht beispielsweise in Deutschland schon die Schufa, um die persönliche Kredit­würdigkeit zu ermitteln. Das chinesische Sozialkreditsystem geht jedoch weit über finanzielle Themen hinaus, es bezieht die private Lebensgestaltung insgesamt ein: Verhält man sich richtig? Verkehrt man mit den richtigen Personen? Der Punktestand kann unmittelbare Bedeutung für die eigene Lebensgestaltung und für die Lebenschancen haben, aber durch nachgewiesenes Wohlverhalten im Sinne der Regierung verbessert werden – das Ergebnis: ein gamifizierter Überwachungsstaat.