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Geschichte(n) erzählen

Claudia Mikat

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Claudia Mikat, Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), weist auf die Verantwortung der Medien bei der Vermittlung von historischen Ereignissen hin.

Printausgabe mediendiskurs: 29. Jg., 1/2025 (Ausgabe 111), S. 1-1

Vollständiger Beitrag als:

Im Jahr 2025 jähren sich die Befreiung der Konzentrationslager und das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 80. Mal – Anlass, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie dieser wesentliche Teil der deutschen Geschichte Kindern und Jugendlichen heute nahegebracht werden kann. Wie lässt sich über die NS-Geschichte und den Holocaust sprechen, ohne zu verharmlosen, ohne zu überfordern? Wo ist dokumentarische Genauigkeit geboten, wo die Inszenierung legitim? Welche Darstellungen helfen zu verstehen – und welche dienen dem Verschleiern?

Zeitgleich erleben wir, dass Geschichte politisch umkämpft ist. In Deutschland ist mit der AfD eine rechtsextreme, antidemokratische Partei zweitstärkste Kraft geworden, die gezielt historische Fakten verfälscht oder leugnet. In den USA ist der gesellschaftliche Umbau unter Donald Trump bereits deutlich sichtbar, samt gezielter Sprachverschiebung, Faktenverdrehung und Diskursverlagerung: Mit Blick auf den Ukrainekrieg wird das Täter-Opfer-Verhältnis umgekehrt, Museen werden unter Druck gesetzt, die rassistische US-Geschichte auszublenden, kritische Geschichtsschreibung wird per Förderpolitik kontrolliert.

Begriffe können umgedeutet, historische Zusammenhänge neu geschrieben werden – wie George Orwell das in seiner Dystopie zuspitzte. Im fiktiven Ozeanien von 1984 führt die systematische Manipulation der Vergangenheit zu einer radikalen Auflösung von Wahrem und Erfundenem. In unserer Gegenwart erleben wir zumindest Verunsicherung über Fakt und Fiktion, sei es durch politische Diskurse, gezielte Falschinformation oder künstliche Intelligenz. Digitale Plattformen verstärken diese Entwicklung, indem sie für jede noch so abstruse Sichtweise das passende Rabbit Hole liefern, inklusive alternativer „Fakten“.

In diesem Klima kommt den Medien eine enorme Verantwortung zu. Sie dokumentieren Geschichte, können historische Realität aber auch verzerren. Sie bestimmen wesentlich, wie Ereignisse der Vergangenheit vermittelt und wie Nationalsozialismus und Holocaust in der Gesellschaft verstanden und diskutiert werden.

80 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager stellt sich also nicht nur die Frage, wie Geschichte erzählt wird, sondern wo, durch wen und mit welchen Interessen. Es wäre an der Zeit, mit Darstellungen aufzuräumen, die die Deutschen im Nationalsozialismus als eher unpolitisch und nur wenige SS-Offiziere als Täter zeigen, mit Geschichten, die emotionale Entlastung statt Verständnis schaffen. Es braucht auch die Berichte und Erzählungen über die damalige NS-Begeisterung, über den Führerkult und den Antisemitismus in weiten Teilen der Bevölkerung. Man muss über die breite Zustimmung zu den Konzentrationslagern sprechen und sie in den Kontext einer NS-Propaganda setzen, die die Opfer kriminalisierte und die Lager als Schutzmaßnahme beschrieb. Nur wenn historische Darstellungen im Kern faktentreu bleiben, lässt sich aus der Geschichte lernen – z. B. mit Blick auf Diskurse über „Messermänner“ und „Kopftuchmädchen“, die in unserer Gegenwart Menschen pauschal kriminalisieren und abwerten. Denn, frei nach Orwell: Unser Blick auf die Geschichte formt auch unsere Zukunft.

Ihre
Claudia Mikat