Gesellschaftliche Vermittlung in der Krise

Medien und Plattformen als Intermediäre

Otfried Jarren, Christoph Neuberger (Hrsg.)

Baden-Baden 2020: Nomos Verlagsgesellschaft
Rezensent/-in: Kathrin Friederike Müller

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 2/2022 (Ausgabe 100), S. 95-96

Vollständiger Beitrag als:

Gesellschaftliche Vermittlung in der Krise

Die Bedeutung von Plattformen wie Twitter, Facebook oder Google äußert sich in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und kommunikativen Zusammenhängen: Vor mehr als zehn Jahren kam im Arabischen Frühling ihr demokratieförderndes Potenzial zum Ausdruck. Inzwischen zeigt sich, dass sie mindestens genauso als Mittel zur Agitation taugen, etwa in Donald Trumps Einsatz von Twitter und Facebook, welcher nach seiner Wahlniederlage in einen Sturm auf das Kapitol mündete, oder im Gebrauch sozialer Medien durch Verschwörungstheoretiker*innen in der Coronapandemie. Der vorliegende Sammelband greift eine weitere Problemlage auf und beschäftigt sich kritisch mit ihr. Sieben Autor*innen diskutieren die Rolle von Intermediären und benennen in diesem Zusammenhang Merkmale, die Plattformen als Medienumgebungen für die Weitergabe von Informationen bzw. Nachrichten charakterisieren. Im Wesentlichen geht es um die Frage, wie heute Öffentlichkeit entsteht und unter Rückgriff auf welche Intermediäre sich Menschen mit der Umwelt und Gesellschaft auseinandersetzen, in der sie leben. Der Band diskutiert die Konsequenzen, die die Plattformen für das etablierte Mediensystem und vor allem für den Journalismus und die Deliberation, die öffentliche Meinung und politische Willensbildung haben. Im Zentrum steht somit ein Forschungsbereich, den die Kommunikationswissenschaft als ihren Ausgangspunkt begreift und der identitätsstiftend für das Fach ist. Andere Aspekte von Plattformkommunikation, wie die interpersonale Kommunikation und Vernetzung, werden eher am Rande thematisiert.

Der Band spiegelt, wie sich die Vermittlerrolle von Medien vor dem Hintergrund der Etablierung von Plattformen entwickelt hat, und diagnostiziert – so wird es bereits im Titel deutlich – eine Krise, die durch die Präsenz der algorithmischen Vermittlung begründet und von den Autor*innen als Konkurrenz zur publizistischen bzw. journalistischen Vermittlung begriffen wird. Als inhaltliche Klammer fungieren fünf Thesen, auf die sich die einzelnen Beiträge beziehen, nämlich erstens, dass es einen steigenden gesellschaftlichen Vermittlungsbedarf und zweitens eine Expansion und Komplexitätssteigerung von Vermittlung gibt. Außerdem wird angenommen, dass drittens ein Nebeneinander von Medien- und Plattformlogik existiert, dass viertens ein Wettbewerb verschiedener gesellschaftlicher Leitbilder in Bezug auf journalistische Medien und Plattformen vorliegt und fünftens als zentraler Ankerpunkt und letztlich Schlussfolgerung, dass es vor diesem Hintergrund zu einer Krise gesellschaftlicher Vermittlung gekommen ist. Über diese Thesen mag man diskutieren: Genau das tun die einzelnen Beiträge, die der Band versammelt. Sie ordnen die Thesen ein, relativieren sie teilweise und zeigen Perspektiven auf, beispielsweise für eine Reform des Journalismus oder hinsichtlich einer Regulierung der Plattformen. Das macht die Lektüre spannend. Einerseits veranschaulicht der Band, dass – trotz eines etablierten und erprobten Mediensystems – eine Teilhabe an Nachrichten und Information nicht selbstverständlich ist. Andererseits wird deutlich, dass sich die Situation aktuell nicht so problematisch darstellt, wie es Titel und Thesen des Bandes nahelegen: So lassen sich durch Befunde zur Mediennutzung zumindest in Bezug auf die breite Bevölkerung noch keine umfassenden Verwerfungen bezüglich der Nutzung journalistischer Nachrichtenmedien feststellen. Die Autor*innen zeigen außerdem Möglichkeiten auf, wie der Journalismus Plattformen sinnvoll einbinden kann und wie Plattformen zukünftig reguliert werden können. Dementsprechend, so der Tenor, ist die Lage ernst, aber sicher nicht hoffnungslos.

Der Band ist insgesamt als Einstieg in die Auseinandersetzung mit Datafizierung und Algorithmisierung geeignet. Er bietet einen fundierten Überblick über die aktuelle Debatte zur Plattformisierung und führt diese instruktiv im Sinne einer originär kommunikationswissenschaftlichen Betrachtungsweise und Einordnung fort. Vor diesem Hintergrund wird – ausgehend von einem funktionsfähigen Journalismus im Prä-Plattformzeitalter und eine*r sich informierenden Bürger*in – stellenweise ein ideales Bild von Öffentlichkeit gezeichnet, dem Journalismus und Rezipierende möglicherweise schon vor der Einführung von Plattformen nur in Teilen entsprochen haben. Es ist hilfreich, dass die Konsequenzen der Plattformisierung bezogen auf die Kernbereiche des Faches diskutiert werden, nämlich den Journalismus und die Rezipierenden, aus institutionenökonomischer Perspektive und unter Aspekten der Governance. Der Band macht deutlich, dass es kein Allheilmittel für die Vermittlungskrise gibt. Er fordert vielmehr Politik, Wirtschaft und Kommunikationswissenschaft dazu auf, den bereits vollzogenen Wandel des Mediensystems nicht hinzunehmen, sondern ihn zu gestalten.

Dr. Kathrin Friederike Müller