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Getrennte Medienwelten

Mediennutzung in Ost- und Westberlin nach der Wende

Elisa Pollack

Köln 2024: Herbert von Halem
Rezensent/-in: Uwe Breitenborn

Buchbesprechung

Online seit 14.10.2025: Link

Getrennte Medienwelten

Das Buch geht der Frage nach, wie Ost- und West-Identitäten die Mediennutzung und ‑bewertung seit den 1990er‑Jahren prägen. Wie wirken herrschende Diskurse auf den Umgang mit Medien? Wie werden Identitäten konstruiert? Zentrale These ist, dass Mediennutzung und ‑bewertung mit kollektiver Identität verknüpft sind. 

Um gegenwärtige Muster zu verstehen, muss man auf vergangene (Medien‑)Erfahrungen zurückblicken. Gerade im Osten zeigt sich mittlerweile ein tiefes Misstrauen gegenüber etablierten Medien. Das lasse sich jedoch weniger aus der DDR‑Vergangenheit erklären als vielmehr aus den Erfahrungen der Wiedervereinigung. Die 1990er‑Jahre sieht die Autorin als „formative Phase“, die Erinnerungen und Selbstbilder bis heute präge. Die Art und Weise der damaligen Neugestaltung der Medienlandschaft förderte eher die Ost-West-Distanz. Es war für den Osten ein Jahrzehnt rasant veränderter Bedürfnis- und Medienstrukturen, sozialer Verwerfungen und tiefer biografischer Brüche.

Das zeigt sich auch in den über 80 (medien‑)biografischen Interviews aus Ost- und Westberlin, die die Grundlage der Studie bilden. Hieraus clustert Pollack Mediennutzungstypen für beide Stadthälften, um deren Spezifika herauszuarbeiten. Für Ostberlin unterscheidet sie Differenzierte, Kritische, Gekränkte, Konformisten und Übersiedler; für Westberlin Insulaner, Etablierte und Alternative. Was auf den ersten Blick schlicht klingt, entpuppt sich als veritable Erklärung für die unterschiedlichen Haltungen zu Medien, die bis in die Gegenwart reichen. 

Die Beschreibung der konkreten Erfahrungen (insb. Kap. 5) ergeben ein differenziertes Bild. Dass der Fokus auf der vormaligen Mauerstadt liegt, ist methodisch nachvollziehbar, denn hier liefen die Prozesse der Nachwendezeit verdichtet ab und waren gut beobachtbar („Werkstatt der Einheit“, Jens Bisky in Berlin. Biographie einer großen Stadt [2019]). Die Hauptstadt war aber schon vor der Wende ein Sonderfall – mit Viermächtestatus, spezieller Medienverfügbarkeit und politischer Exotik. Die Autorin weiß das und betont, dass ihre Ergebnisse über die Stadt hinausweisen: „Es ist insbesondere der Befund, dass herrschende Diskurse sich grundsätzlich in das Mediennutzungsverhalten und Identitäten in Ost ebenso wie West eingeschrieben haben, der wohl über Berlin hinaus Gültigkeit beanspruchen kann. Denn mit jenen Mediendiskursen sah man sich sowohl im bayerischen Illertissen wie auch im sächsischen Taucha konfrontiert – wenn auch in unterschiedlicher Intensität“ (S. 320). 

Die Autorin reflektiert und wägt ihre methodische Herangehensweise ab. Zweifellos hätte eine andere Gewichtung der Befragten (z. B. politisch Verfolgte oder Führungskader) andere Perspektiven eröffnet, aber die Studie kann in Anspruch nehmen, für eine beträchtliche Zahl der Ostdeutschen zu sprechen und deren Erfahrungen zu repräsentieren. Sie richtet sich dezidiert auch gegen eine „Exotisierung ostdeutscher Mediennutzung und ‑bewertung“ (S. 15). Ebenso wendet sie sich gegen die Theorie der nachholenden Modernisierung, die Integration vorrangig aus westlicher Perspektive begreift (Integrationsparadigma).

Ein Resultat der Studie lautet, dass der Umgang mit Medien von Personen mit DDR-Herkunft deutlich stärker identitätsbezogen geprägt sei, was auf „gravierend unterschiedliche (Medien­)Erfahrungen vor und nach 1989 […] ebenso wie auf ungleiche Ressourcenverteilungen“ (S. 315) zurückzuführen sei. Medien prägten durch ihre Diskurse auch den Umgang mit ihnen. Viele Ostdeutsche hätten eine Notwendigkeit zur Identitätsrekonstruktion erlebt, weil die dominanten Diskurse ihnen fremd gewesen seien und eher dem Selbstbild des Westens entsprochen hätten. Das habe dazu geführt, dass sich zunehmend eine kollektive Ost-Identität herausgebildet habe, die auch hinsichtlich der Mediennutzung und ‑bewertung an Relevanz gewonnen habe. 

Im Ausblick zeigt sich die Autorin durchaus skeptisch. Damit Perspektiven Ostdeutscher „dauerhaft Einzug in die westdeutsch geprägten Leitmedien finden, müssten schließlich auch Fragen nach Eigentümerschaft und Organisationsweise von Medien gestellt werden – dahingehend sind derzeit […] keine grundlegenden Reformen zu erwarten“ (S. 322). 

Die Studie ist die Dissertation der Autorin, entstanden im Forschungsverbund „Das mediale Erbe der DDR“. Sie leistet einen empirisch fundierten Beitrag zur Präzisierung des Ost-West-Diskurses – eines Diskurses, der noch immer erstaunlich virulent und von beiderseitigen Missverständnissen geprägt ist. Ein aufschlussreiches und lesenswertes Buch.

Dr. Uwe Breitenborn
 



Elisa Pollack: Getrennte Medienwelten. Mediennutzung in Ost‑ und Westberlin nach der Wende. Köln 2024: Halem Verlag. 392 Seiten, 32,00 Euro