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Groschenromane mit Porno-Inhalten?

Warum Dark Romance fasziniert und polarisiert

Nicola Döring

Prof. Dr. Nicola Döring ist Psychologin und leitet das Fachgebiet „Medienpsychologie und Medienkonzeption“ an der Technischen Universität Ilmenau. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Inhalte, Nutzung und Wirkung digitaler Medien einschließlich sozialer Medien und Tools der künstlichen Intelligenz.

Dark Romance ist eine Variante des Liebesromans, in der es vornehmlich um die dunklen Seiten der zwischenmenschlichen Anziehung geht – um Obsession, Angstlust, Besitzanspruch, Machtgefälle, Schmerz, Gewalt. Mehrheitlich von und für Frauen geschrieben und auf sozialen Medien intensiv diskutiert, erfreut sich Dark Romance großer Beliebtheit. Doch das Genre wird auch heftig kritisiert – als Schundliteratur, die toxische Beziehungen und nicht konsensuellen Sex romantisiere und daher eine Altersfreigabe ab 18 Jahren brauche.

Printausgabe mediendiskurs: 29. Jg., 1/2025 (Ausgabe 111), S. 64-72

Vollständiger Beitrag als:

Lange machte man sich Sorgen, dass im Digitalzeitalter das Bücherlesen aussterben könnte. Doch in den letzten Jahren boomt der Büchermarkt. Buchmessen verzeichnen Besuchsrekorde. Das liegt an den jungen Lesenden, vor allem den Frauen. Sie haben sich auf sozialen Medien unter buchbezogenen Hashtags zu lebhaften Buch-Communitys zusammengeschlossen. Auf YouTube (#BookTube), Instagram (#Bookstagram) und TikTok (#BookTok) sowie in Reddit-Foren feiern sie ihre #Bücherliebe. Durch die digitalen Lesekulturen ist das Lesehobby viel sozialer geworden und hat neue Anziehungskraft gewonnen: Buchfans, die einander liebevoll „Bookies“ nennen, geben sich Lektüreempfehlungen, präsentieren ihre gut gefüllten Bücherregale, spekulieren gemeinsam, wie es wohl im angekündigten Fortsetzungsroman weitergehen wird, und schwärmen von ihren Lieblingscharakteren. Auch der Kontakt zu den Autorinnen hat sich verändert: Viele veröffentlichen ihre Texte zunächst auf Onlineplattformen, wo sie fortlaufend Feedback von Fans sammeln, bevor sie ihre Romane als gedruckte Bücher auf den Markt bringen. Dabei erscheinen viele Titel veredelt mit cremefarbenem Offsetpapier, Farbschnitt, Glanzlack und Prägung, sind also echte Handschmeichler und Augenweiden.
 

New Adult und Dark Romance

Was junge Menschen im Alter zwischen 18 und 29 +Jahren mit neuer Begeisterung stundenlang in ihrer Freizeit lesen, ist vornehmlich Unterhaltungsliteratur, die alterstypische Interessen aufgreift. Im Buchhandel heißt die Sparte New Adult: Es geht um Erwachsenwerden, Identitätsfindung, mentale Gesundheit, Freundschaft, Gemeinschaft – und oft auch um Liebe, Lust und Leidenschaft. New Adult hat viele Subgattungen, darunter etwa den klassischen Liebesroman (Romance), den Liebesroman, der im Hochschul- oder Sportmilieu spielt (College Romance, Sports Romance), den fantastischen Liebesroman, in dem es von Drachen, Elfen und Vampiren wimmelt (Romantasy) sowie den dunklen Liebesroman (Dark Romance).

Im dunklen Liebesroman buhlt die Protagonistin nicht um den Vorzeigeschwiegersohn, den Fußballer oder den Vampir, sondern ist unterwegs mit Berufsverbrechern, Psychopathen, Mafiabossen und Motorradgangs. Dementsprechend rau, grenzwertig und gewalthaltig ist der Plot – und auch das Liebesleben. Denn mit den gefährlichen und moralisch fragwürdigen Männerfiguren trifft sich die Heldin nicht Händchen haltend im Kino. Stattdessen erlebt sie ein dramatisches Katz-und-Maus-Spiel, in dem Kellerverliese, Messer, Fesseln und Schusswaffen eine Rolle spielen, aber auch leidenschaftliche Küsse, schamlose Dialoge, lustvolle Berührungen und massenhaft weibliche Orgasmen. Die Fans mögen die Bücher, weil sie das Eintauchen in eine oft antibürgerliche, gleichermaßen bedrohliche wie aufregende Fantasiewelt ermöglichen.
 


Zwischen Erfolg und Moralpanik

Dass erotische Unterhaltungsliteratur im Mainstream angekommen ist und ein Bestseller den nächsten jagt, beobachten wir seit rund 15 Jahren. Denn 2011 erschien die aus der digitalen FanFiction-Community entsprungene Romantrilogie Fifty Shades of Grey (E. L. James) und wurde zum weltweiten Hit. Doch Fifty Shades of Grey zählt nicht zu Dark Romance, sondern zu Erotic Romance, da eine einvernehmliche BDSM-Beziehung im Mittelpunkt steht. Ein frühes und stilbildendes Dark-Romance-Werk ist vielmehr die ebenfalls 2011 begonnene Trilogie Captive in the Dark (C. J. Roberts). Hier wird die Protagonistin von einem Menschenhändler entführt und zunächst in einem Verlies eingesperrt, in dem sie jedoch nicht nur Angst, sondern auch Lust erlebt. In anderen Klassikern des Genres wird die Heldin vom eigenen Vater an eine kriminelle Bande verkauft (Den of Vipers, K. A. Knight) oder im Haus ihrer Großmutter von einem mörderischen Stalker verfolgt (Haunting Adeline, H. D. Carlton).

Die große Popularität und der enorme wirtschaftliche Erfolg von Dark Romance haben die Gattung auf den Radar des Feuilletons gebracht. Doch die Berichterstattung trägt bislang wenig zu ihrem Verständnis bei. Die Journalistin der „taz“ beispielsweise kanzelt in ihrem Bericht über die Leipziger Buchmesse 2025 das gesamte Genre ab als „Groschenromane“ mit „Porno“-Inhalten, die keine nähere Betrachtung verdienen (Hubernagel 2025). Der Journalist der „Süddeutschen Zeitung“, der die deutsche Dark-Romance-Autorin D. C. Odesza auf der Buchmesse interviewt, stellt klar, dass er als „ahnungsloser Vanilla-Reporter“ überhaupt keinen Zugang zu der Materie hat. (Heckler 2025) Er schreibt: „Himmel hilf, denkt man“ und „Oh Gott, oh Gott, oh Gott, denkt man“. Der Literaturkritiker der „Zeit“ betont in einer Videorezension ebenfalls seine Abneigung gegen das Genre, er bevorzuge Hochliteratur mit Liebesszenen, die allein aus „Andeutungen“ bestehen.1 Sein Analyseansatz für den Dark-Romance-Klassiker Haunting Adeline basiert folgerichtig darauf, unter süffisantem Grinsen einige möglichst sexuell explizite Sätze vorzulesen und das Buch dann für gleichermaßen lächerlich wie „moralisch verstörend“ zu erklären.
 


Wer daran interessiert ist, den Reiz von Dark Romance zu verstehen, muss sich auf die Inhalte der Texte, die Rezeptionsweisen der Lesenden und die psychologische Bedeutung von dunklen Fantasien einlassen.“



Romantisierung von Gewalt?

Doch nicht nur mittelalte Feuilletonisten, auch junge Bookies, die andere Sparten von New Adult bevorzugen, kritisieren Dark Romance heftig. Immer wieder wird beklagt, das Genre romantisiere toxische Beziehungen und nicht konsensuellen Sex, rechtfertige damit reale Gewalt und zementiere zudem fragwürdige Geschlechterrollen, also den ewig dominanten Alphamann und die unterwürfige Frau, die es toll findet, gejagt und gefügig gemacht zu werden. Diese Vorwürfe scheinen auf den ersten Blick plausibel: Denn schon bei dem frühen Genrevertreter Captive in the Dark ist der Titel Programm: Die 18-jährige Olivia wird entführt und in einem dunklen Raum gefangen gehalten. Caleb, ihr acht Jahre älterer, gut aussehender Entführer, flößt ihr Angst ein, schlägt sie, verlangt Unterwerfung und plant, sie als Sexsklavin an einen Menschenhändlerring zu verkaufen. Aber er übt auch eine geheimnisvolle Anziehung aus. Trotz der Gewalterfahrungen erlebt Olivia einzelne zunächst aufgezwungene sexuelle Kontakte nicht nur als traumatisch, sondern auch als körperlich lustvoll – eine Ambivalenz, die sie selbst anfänglich nicht einordnen kann. Kritische Stimmen in der Buch-Community warfen dem Werk prompt vor, Entführung, Vergewaltigung und Menschenhandel zu romantisieren und das Stockholm-Syndrom als Liebe zu verklären.

Tatsächlich erscheint es vielen schwer verständlich, wie eine dermaßen krude Story überhaupt zum Bestseller werden konnte. Doch in den Tausenden von begeisterten Goodreads- und Amazon-Rezensionen wird geschwärmt: „Was für ein Buch!!! Ich habe noch nie so eine düstere, verwirrende, brutale, sadistische und gleichzeitig so tief emotionale, wahnsinnig intensive Geschichte gelesen“.

Wer daran interessiert ist, den Reiz von Dark Romance zu verstehen, muss sich auf die Inhalte der Texte, die Rezeptionsweisen der Lesenden und die psychologische Bedeutung von dunklen Fantasien einlassen.
 

Was erzählt Dark Romance wirklich?

Ein Großteil der Dark-Romance-Kritik basiert auf Hörensagen und nicht auf einer Beschäftigung mit den Texten. So werden immer wieder besonders „krasse“ und „verstörende“ gewalthaltige Sexszenen kontextfrei kolportiert: vergewaltigt im dunklen Verlies (Captive in the Dark). Penetriert mit einer geladenen Pistole (Haunting Adeline). Während des Aktes auf einem Boot mit dem Kopf in haiverseuchtes Wasser gedrückt (Does It Hurt?, H. D. Carlton). Beim Sex neben einer Leiche mit dem Messer verletzt (Den of Vipers). Die Kritik setzt auf die Schockwirkung allein der Benennung solcher Szenen. Sie analysiert aber weder ihre Machart und Bedeutung noch ihre Funktionen in den durchaus komplexen Handlungen und Charakterentwicklungen der Romane.

So gehört es zur Geschichte von Captive in the Dark, die als Romantrilogie rund 600 Seiten umfasst, dass der Entführer Caleb selbst Überlebender von Menschenhandel ist und Olivias Entführung als Teil eines Rachefeldzuges darstellt, den er anfangs noch verbissen und verblendet verfolgt und mit dem er seine Peiniger zur Strecke bringen will. Weit entfernt davon, Gewalt eindimensional zu glorifizieren, Caleb als emotionslosen und aggressiven Alphamann, Olivia dagegen als hilfloses Opfer darzustellen, wirft das Buch Fragen nach Ursachen und Folgen von Gewalt auf. Es geht um Rache, Vergebung, Heilung und um romantische Hoffnungen auf Liebe und Rettung. Der Text thematisiert Gewalt aus verschiedenen Perspektiven, auch in Verbindung mit Liebe und Sexualität: Es geht um die zerstörerische Kraft von Gewalt, um Angst vor Gewalt und gleichzeitig auch um den Reiz von Kontrollverlust und Überwältigung. Am Ende der Trilogie finden Olivia und Caleb, beide von Gewalt gezeichnet, nach vielen Rückschlägen zu einer gesunden Beziehung.
 

Was machen die Leserinnen mit Dark Romance?

Genau diese Vielschichtigkeit trifft bei den Dark-Romance-Leserinnen einen Nerv. Denn junge Frauen haben im Alltag ständig mit Gewalt zu tun. Die Mehrzahl erlebt in der einen oder anderen Form sexuelle Belästigung, Bedrohung, Übergriffe und Vergewaltigungen am eigenen Leib, etwa vom Bruder oder Vater, vom Freund oder Ex-Freund. Dass Liebe und Gewalt im gelebten Leben vielfach ineinandergreifen, wissen junge Frauen zur Genüge. Vor dem Hintergrund dieser Alltagserfahrungen lässt sich nun fragen, welche Arten von Liebesgeschichten wohl für Frauen so spannend und bestärkend sind, dass sie diese mit Genuss in ihrer Freizeit lesen?

Mit dem Aufkommen des Romanlesens im 18. Jahrhundert begannen die in die häusliche Sphäre zurückgedrängten bürgerlichen Frauen, dem öden Alltag ihrer gewaltgeprägten und emotionsarmen Pflicht- und Zwangsehen zu entfliehen – in die aufregende Welt der Liebesromane, die von inniger Verbindung, Glück und Leidenschaft erzählten. Gesellschaftlich gebilligt wurde das nicht: Moralhüter, Mediziner, Pädagogen und Geistliche warnten einhellig vor der „Lesesucht“ der Frauen, die zur Vernachlässigung des Haushalts und ungesunder „Schwärmerei“ führe. Bis heute macht man sich kollektiv lustig, wenn Frauen liebliche Lovestorys genießen, schließlich gilt das als weltfremder Kitsch.

Im zeitgenössischen Dark-Romance-Genre wird der gewaltvolle und oft lustarme Alltag vieler Frauen nicht verdrängt, sondern literarisch bearbeitet – auf provokante Weise. Im Unterschied zum klassischen Liebesroman, der die Gewalt meist ausblendet oder harmonisiert, erhält sie hier einen prominenten Platz: Sie wird detailliert beschrieben, ästhetisch zugespitzt, mitunter grotesk übersteigert. Diese narrative Überzeichnung lässt sich als Geste der Aneignung verstehen: Autorinnen und Leserinnen schrecken nicht sprachlos zurück, sondern machen gewaltvolle Gedanken, Fantasien und Erfahrungen in einem fiktionalen Raum artikulierbar. Die Protagonistinnen sind dabei meist keine naiven Mädchen, die auf die große Liebe warten, sondern schicksalserprobte, komplexe Figuren: verletzlich und stark zugleich. Gut und Böse sind in diesen Erzählungen nicht sauber voneinander getrennt – im Gegenteil: Sie durchdringen einander, verschwimmen, sind moralisch ambivalent. Gerade diese Grauzonen sind ein zentrales Kennzeichen des Genres. Sie eröffnen Räume, in denen Unaussprechliches verhandelt, Schmerz ausgedrückt und Widersprüche ausgehalten werden können.
 


Denn junge Frauen haben im Alltag ständig mit Gewalt zu tun. Die Mehrzahl erlebt in der einen oder anderen Form sexuelle Belästigung, Bedrohung, Übergriffe und Vergewaltigungen am eigenen Leib, etwa vom Bruder oder Vater, vom Freund oder Ex-Freund.“



Ebenso wenig, wie sich Dark Romance bei Gewaltdarstellungen zurückhält, tut die Gattung das bei Sexualität. Auch hier herrschen Detailfreude und Drastik vor. Anders als im klassischen Liebesroman, in dem innige Umarmungen ausreichen müssen, um Leidenschaft anzudeuten, werden sexuelle Handlungen explizit und ausschweifend beschrieben – meist mit Fokus auf die Lust der Frau und mindestens einem Finger auf der Klitoris. Die Orgasmuslücke beim Heterosex, belegt für die reale Partnersexualität ebenso wie für mediale Sexualitätsdarstellungen, wird in Dark Romance unterlaufen: Denn hier sind nicht Penetration und männlicher Höhepunkt das Maß aller Dinge, sondern dreht sich fast alles um die Befriedigung der Frau. Dabei bietet das Genre für jeden Geschmack etwas. Die Protagonistin muss sich nicht auf einen Partner beschränken, sondern kann gleich mehrere haben (Reverse-Harem-Trope), sie kann sich jenseits von Männern orientieren (Queer-Awakening-Trope) und auch selbst die dominante Rolle einnehmen (Femme-Fatale-Trope). Kulturell gebilligt wird indessen auch diese Form weiblichen Mediengenusses nicht. Ist der traditionelle Liebesroman der Kritik zu süßlich und kitschig, so ist Dark Romance zu krass und direkt.
 

Welche Funktionen haben dunkle Fantasien?

Aber was ist eigentlich so „krass“ an Dark Romance? Es ist doch seit Langem belegt, dass Fantasien von Kontrollverlust und Überwältigung weitverbreitet, bei vielen Frauen sogar die erotischen Lieblingsfantasien sind. Ebenso ist klar, dass der Reiz solcher Fantasievorstellungen keinesfalls bedeutet, dass reale Übergriffe akzeptiert oder gar gewünscht wären. In der Psychologie besteht Einigkeit, dass eine moralische Verurteilung dunkler Fantasien, auch eine Selbstverurteilung, sie nicht zum Verschwinden bringt, sondern schädliche Scham- und Schuldgefühle erzeugt. Empfehlenswert für psychische Gesundheit und sexuelles Wohlbefinden ist daher die Akzeptanz dieser Fantasien als Teil der eigenen Gedankenwelt. Denn willkürlich zu verändern, was fasziniert oder erregt, gelingt den meisten Menschen nicht. Und so diskutieren Buchfans immer wieder ängstlich und schuldbewusst die Frage: „Bin ich eine schlechte Feministin, weil ich gerne Dark Romance lese?“

Es gibt vielfältige Erklärungsansätze dafür, warum das Gefährliche und Verbotene im Safe Space der eigenen Fantasie und selbst gewählten Fiktion einen so großen Reiz ausüben kann – auch und gerade, wenn es den eigenen Wertvorstellungen widerspricht. Das Spektrum der Erklärungen reicht von einer imaginierten Rebellion gegen gesellschaftliche Normen über den Kitzel des vorgestellten Tabubruchs und die Faszination an Übersteigerung bis hin zum Schlüpfen in eine der Alltagsidentität widersprechende Rolle und der Verarbeitung von Ängsten und Traumata. Keine dieser Funktionen rechtfertigt oder propagiert reale Gewalt. Vielmehr ist zumindest ein Teil der Gewaltfantasien auch als Reaktion auf reale Gewalt und deren Bewältigung zu interpretieren.

Wirklich „krass“ ist – das sollte in der Diskussion nicht zu kurz kommen – reale Gewalt. Erotische Gewaltfantasien von Frauen sind nicht das Problem. Auch wenn die Debatte teilweise die altbekannte Schuldumkehr nahelegt: Wird man Vergewaltigungsopfer bald nicht nur nach der Rocklänge, sondern auch nach der Freizeitlektüre fragen? Womöglich hat sie sich als Dark-Romance-Leserin aktiv in eine toxische Beziehung begeben, die Tat sogar selbst provoziert? Ein unreflektierter Problemdiskurs um die Gefährlichkeit der Dark-Romance-Lektüre von Frauen birgt nicht nur Elemente von Victim Blaming, sondern auch von Entmündigung. Glaubt man wirklich, dass erwachsene Leserinnen von 600-seitigen Romantrilogien kollektiv eine Belehrung benötigen, dass sie gerade in Fantasiewelten eintauchen und dass eine reale Motorradgang sich vermutlich nicht als Erstes ausgiebig ihrer oralen Befriedigung widmen würde? Und wenn es uns um sexuelle Handlungsmacht und Autonomie von Frauen geht, würde diese nicht bei der selbstbestimmten Entscheidung über die eigene Lektüre beginnen?
 


Wirklich ‚krass‘ ist – das sollte in der Diskussion nicht zu kurz kommen – reale Gewalt. Erotische Gewaltfantasien von Frauen sind nicht das Problem.“


 

Jugendmedienschutz bei Dark Romance

Dark Romance wird durch die expliziten Sex- und Gewaltszenen im Buchhandel der Erwachsenenliteratur zugeordnet (New Adult), ausdrücklich nicht der Jugendliteratur (Young Adult). Ein freiwilliger Hinweis auf die Eignung ab 18 Jahre ist inzwischen weitverbreitet – etwa in Form von QR-Codes oder Aufklebern auf Buchcovern, Hinweisschildern an Büchertischen, Ausweiskontrollen bei Lesungen. Altersfreigaben müssen daher nicht mehr gefordert werden. Auch Inhaltsbeschreibungen und Triggerwarnungen sind in Dark-Romance-Büchern und auf den Buchplattformen gängig. Die von der Kritik vorgebrachte Sorge, 12-jährige Mädchen könnten versehentlich an Dark Romance geraten, obwohl sie eigentlich ein Pferdebuch lesen wollten, ist angesichts der deutlichen Kennzeichnung wenig plausibel. Dass viele Jugendliche auf TikTok von der Existenz solcher Bücher erfahren, ist wahrscheinlich. Und je nach Interessenlage und Reifegrad mögen nicht wenige Mädchen zusammen mit ihren Freundinnen bewusst zu erotischen Büchern – einschließlich Dark Romance – greifen. Genau wie Jungen massenhaft gewollt Pornografie nutzen. Der aufgeregte öffentliche Diskurs über Dark Romance und die Inhaltswarnungen werden einige Jugendliche abschrecken, bei anderen vermutlich aber auch Interesse wecken. Empirische Daten dazu, wie viele und welche Jugendliche Dark Romance lesen und welche Erfahrungen sie damit machen, liegen noch nicht vor.

Bislang gibt es nur Anekdoten: Die eine Leserin berichtet in sozialen Medien, sie habe als Teenagerin mit Wissen und Zustimmung ihrer Mutter bewusst und gerne Dark Romance gelesen – und das habe ihr geholfen, sich sexuell zu entdecken. Schließlich habe sie nirgendwo sonst in Gesprächen oder Büchern Motive ihrer geheimen Fantasiewelt wiedergefunden. Dark Romance habe ihr gezeigt, dass sie nicht allein ist, dass auch grenzwertige Fantasien bei der Selbstbefriedigung normal sind. Das habe ihr Selbstwertgefühl gestärkt. Eine andere Leserin blickt kritisch auf ihre frühzeitige Konfrontation mit dem Genre zurück und meint, dadurch ein verzerrtes Bild von Sexualität und der Normalität von harten Sexpraktiken entwickelt zu haben.

Wirkungsstudien zur Dark-Romance-Lektüre bei unterschiedlichen Personengruppen stehen aus. Die umfassende psychologische und sexualwissenschaftliche Forschung zu Wirkungen sexueller Medien legt jedoch nahe: Vorstellungen von Liebe, Sexualität und Beziehungen entstehen in einem komplexen Zusammenspiel vieler Einflussfaktoren wie Familie, Freundesgruppe, Schule, Kirche, persönlicher Erfahrungen und gesellschaftlicher Normen, sodass Dark Romance allenfalls begrenzten Einfluss haben kann. Inhalte fiktionaler Medien werden von einem aufgeklärten jugendlichen Publikum in der Regel nicht direkt als Handlungsanleitungen verstanden, sondern durchaus kritisch als mediale Fiktionen verarbeitet, je nach Entwicklungsstand und Medienkompetenz.

Einem möglichen negativen Einfluss von Dark Romance – wie auch von anderen fiktionalen sexuellen Medien – lässt sich durch frühzeitige sexuelle und mediale Bildung vorbeugen und entgegenwirken. Zentrale Inhalte einer umfassenden sexuellen Bildung sind Informationen über Konsens und Kommunikation in Liebesbeziehungen und sexuellen Kontakten. Dadurch lernen Jugendliche, problematische Beziehungsmuster frühzeitig zu erkennen – sie wissen dann, wo sie sich Unterstützung holen können. Gleichzeitig sollte sexuelle Bildung im Medienzeitalter auch die Rolle sexueller Fantasien aufgreifen. Jugendliche können dadurch ein Verständnis dafür entwickeln, weshalb auch unrealistische oder normabweichende Szenarien in Fantasie und Fiktion Spaß machen, normal und erlaubt sind – solange sie als solche erkannt und nicht in die Realität übertragen werden. Die Fähigkeit, zwischen Fantasie und Fiktion einerseits und Realität andererseits zu unterscheiden, ist ein zentrales Element der Medienkompetenz und ein anhaltend wichtiges Thema der Medienbildung – nicht nur, wenn es um Bücher, sondern auch, wenn es um Games und Filme geht.
 

Fazit

Dark Romance ist – ebenso wie die populäre Kritik daran – ein Spiegel unserer Zeit. Was sich in diesem Genre ausdrückt, ist das Bedürfnis, Liebe nicht süßlich zu verklären, sondern damit verbundene Gewalt ebenso wie sexuelle Sehnsüchte kraftvoll zu artikulieren. Dark Romance tut das mit Mut zur Grenzüberschreitung, mit Lust an der Provokation – und stiftet dabei Gemeinschaft unter ihren Leserinnen und Autorinnen. Das Genre ist wirtschaftlich erfolgreich und kulturell relevant. Es wird sich in den nächsten Jahren weiterentwickeln, ausdifferenzieren, mit anderen Genres verbinden. Künftig werden wir mehr wissenschaftliche Arbeiten sehen, die Dark Romance weder anklagen noch verteidigen, sondern datenbasiert erklären und verstehen. Damit wächst die Chance auf einen differenzierteren öffentlichen Diskurs und einen sachgerechten pädagogischen Zugang. Dieser wird die Leserinnen und Autorinnen des Genres nicht belächeln, beschuldigen oder bevormunden, sondern bei Bedarf durch Förderung ihrer Sexual- und Medienkompetenz empowern.
 

Anmerkung:

1 Vgl. Weidermann 2024
 

Literatur:

Heckler, B.: Leipziger Buchmesse: „Kein Klaus, kein Heinz, kein Dieter“. In: Süddeutsche Zeitung, 28.03.2025

Hubernagel, J.: Bilanz der Leipziger Buchmesse 2025: Dem irrlichternden Moment auflauern. In: taz, 30.03.2025. Abrufbar unter: https://taz.de

Weidermann, V.: Kritik zu Haunting Adeline. In: Zeit auf TikTok. Siehe: TikTok, 26.09.2024. Abrufbar unter: https://www.tiktok.com