Hinterlassene Kolonialerinnerungen
I
Als Mitte der 1930er-Jahre die nationalsozialistische Bildungspolitik den Einsatz von Film im Schulunterricht forcierte, zogen auch Aufnahmen aus den ehemaligen deutschen Kolonien in die Klassenräume ein. Die 1934 gegründete Reichsstelle für den Unterrichtsfilm (RfdU) hatte Titel im Programm wie Afrikanische Steppentiere (1936), Deutsche Kulturarbeit in Kamerun (1935) und Fang und Zähmung afrikanischer Elefanten (1938). Sie wurden über ein deutschlandweites Netzwerk von Bildstellen als 16mm-Kopien an Schulen verliehen und konnten mit tragbaren Projektoren vom Lehrer vorgeführt werden. Die Filme waren durchschnittlich 10 Minuten lang, stumm, schwarz-weiß und ohne Zwischentitel. Erklärungen und Kommentare sollten der Lehrperson überlassen werden.
In verschiedenen Aufführungskontexten und Dispositiven – vom Kino bis zum Klassenraum – wirkten Filme an der Konstruktion einer Erinnerungskultur an die bis 1918 bestehenden Kolonien mit.“
Für all jene, die in den Schmalfilmvorführungen saßen, Schüler, Studenten, Soldaten u. a., waren das freilich nicht die einzigen Filmerlebnisse. Es existierte das Kino parallel. Die RfdU-Filme über Afrika und die Südsee wurden zumeist von denselben Firmen hergestellt, die auch Kultur- und Beiprogrammfilme für das Kino produzierten. Neben diese dokumentarischen und nicht fiktionalen Formen traten Spielfilme. Sie boten Geschichten und Abenteuer. Während die Lehrfilme den Blick zurück eher scheuten, entwarfen sie das Bild eines vergangenen Zeitalters. Das Biopic Carl Peters von Herbert Selpin (1941) sticht hierbei besonders hervor. Verkörpert wird er von Hans Albers, der in diesem Film einmal mehr einerseits als Draufgänger – so der Titel eines Kriminalfilms mit Albers von Richard Eichberg aus dem Jahr 1931 –, andererseits als melancholisch erscheint. Ein paar Jahre später spielte er den Helden in Wasser für Canitoga (1939), ebenfalls unter der Regie Selpins. Während die RfdU-Filme langsam im Panoramaschwenk die Ausmaße von Kaffeeplantagen überblicken, wagt Selpin rasche Kamerafahrten. Albers als Peters überlebt – wagemutig und mit glücklicher Hand – diverse Anschläge auf seinen Expeditionen; bei der RfdU wird bedächtig gewirtschaftet. Ursula von Keitz beobachtet z. B. an den Lehrfilmen von Paul Lieberenz, dass sie „[…] die aus den Unterrichtsfilmen vielfach rekonstruierbare, narrative Basisstruktur von Verwertungs- bzw. Verarbeitungskette und ökonomischer Wertschöpfung [illustrieren]“ (Keitz 2004, S. 95).
In verschiedenen Aufführungskontexten und Dispositiven – vom Kino bis zum Klassenraum – wirkten Filme an der Konstruktion einer Erinnerungskultur an die bis 1918 bestehenden Kolonien mit. Die Absicht war revanchistisch. Die Kolonien erscheinen nicht wie etwas Saturiertes oder Gewonnenes. So wie Carl Peters in der Vergangenheit erscheinen auch die zeitgenössischen Pflanzer gleichsam als Vorkämpfer – beiden stehen Briten gegenüber. So gehören Mut zum Risiko und kühne Helden zu diesen Filmen immer schon dazu.
Löste Albers die Abenteuerlust ein, versuchten diverse Marketingkampagnen die historische Korrektheit des Films abzusichern. So präsentierte das „Union-Kino“ in Elberfeld eine Ausstellung mit Objekten aus Afrika, wie die Zeitschrift „Der Film“ berichtete: „Mit viel Liebe und Ausdauer wurde da aus Museen, vom Reichskolonialbund und von Einheimischen manches Stück aus Deutsch-Ostafrika zusammengetragen, das viel bewundert und vor einzelnen Vorstellungen [von Carl Peters, Anm. d. Verf.] erläutert wurde.“1 Das Kino verwandelt sich zum Museum und zum Vortragssaal. Auf die Begegnung mit der vermeintlichen historischen Authentizität von „Originalobjekten“ folgt Selpins Historienfilm. Wie der Film zeigt auch die Ausstellung etwas: Die Artefakte verweisen auf die deutsche Kolonialgeschichte. Nicht nur Carl Peters wurde ausgestattet, um eine historische Epoche im Film unverkennbar zu machen, auch der Vorführort beruft Objekte gleichsam in den Zeugenstand. Die museal präsentierten Objekte belegen die Authentizität bzw. den Wahrheitsanspruch des Biopics.
Durch historisierende Ausstattungen geraten Filme laut Siegfried Kracauer in einen Konflikt mit dem Realismus des Films, mit der Wirkung des Bildes auf die Zuschauer: „Beim Anblick dieser notwendig gestellten Dinge kann daher der fürs Medium empfängliche Kinobesucher kaum umhin, Unbehagen zu spüren. Die Affinität des Films zum Ungestellten mag seine Reaktionen sogar bis zu dem Grade bedingen, dass er, gleichgültig gegen den Fortgang der Handlung, unwillkürlich die Scheinwelt auf der Leinwand durch unverfälschte Natur ersetzt. Das heißt, indem er sich ganz mit der Kamera identifiziert, erliegt er nicht mehr naiv dem Zauber einer angeblich wiedererstandenen Vergangenheit, sondern bleibt sich der Anstrengungen bewusst, mit denen sie rekonstruiert wurde. […] Historische Kostüme im Film erinnern ans Theater oder an eine Maskerade.“ (Kracauer 1985, S. 115).

Nun scheinen sich die Lehrfilme aus den Bildstellen auf den ersten Blick ganz auf das Ungestellte zu verlassen, indem sie die Natur aufnehmen (wenn auch im Interesse der Verwertung). Sie lassen keine vergangene Welt auferstehen bzw. versuchen, eine historische Epoche zu rekonstruieren. Statt Artefakte zeigen sie eine (vermeintlich) existierende Welt, die vom Gedächtnis an die deutschen Kolonien bestimmt wird. Wieso wären die Deutschen sonst dort? Nicht nur verzichten diese Filme auf historisierende Ausstattungsobjekte, sondern auch auf Momente, die sich als inszenierte sofort erkennen ließen. Anders als in den großen kolonialistischen Kulturfilmen wie Hans Cürlis’ Die Weltgeschichte als Kolonialgeschichte (1926) montierten die Hersteller nur in Ausnahmen Karten, Trickaufnahmen und erklärende Zwischentitel ein. Die Filme überlassen sich ganz den Aufnahmen von Küstenstreifen, Feldern und Wäldern, über die die Kamera immer wieder schwenkt. Eine Art des Filmens, die auch aus Reise- und Amateurfilmen bekannt ist. So beginnt der von Paul Lieberenz hergestellte Lehrfilm Deutsche Kulturarbeit in Kamerun mit dem Titel „Der Urwald – das spätere Pflanzungs- und Siedlungsgebiet“, auf den ein Panoramaschwenk über ein dicht bewaldetes Gebiet folgt. Darauf schließt sich eine Aufsicht über dichte Baumkronen an, über denen die Kamera zu schweben scheint. Aus dem Dickicht treten Schwarze Arbeiter heraus, die zusammen mit weißen Männern einen Baum fällen.
Was Kracauer im Kontext seiner Filmtheorie entwickelt, erhält für die Betrachtung von Filmen über den deutschen Kolonialismus eine besondere Relevanz. Ein als nachhaltig angesehenes Mittel, um die Erinnerung an die deutsche Kolonialvergangenheit wachzuhalten, war nicht der Einsatz eines bestimmten Ausstattungsobjekts, sondern die Naturaufnahme. Die Natur ist in diesen Lehrfilmen nicht das Tendenzlose. Und an der Natur erregten und befriedigten die Spielfilme ihre Abenteuerlust.

II
Eingedenk der enormen medialen Präsenz der deutschen Kolonialgeschichte (als Heldengeschichte) und der Obsession einzelner Verbände und Personen erscheint ihre marginale Rolle nach 1945 überraschend. Selpins Carl Peters ist bis heute ein Vorbehaltsfilm, der in Deutschland nicht ohne wissenschaftliche Einführung öffentlich gezeigt werden darf. Auch einige Lehrfilme über Kamerun wurden nach 1945 aus dem Verleih genommen, ein Großteil zirkulierte aber weiter. Die Beihefte zu den Filmen, mit denen sich die Lehrer auf den Unterricht vorbereiten konnten, wurden aktualisiert. In den Bildstellen war über Jahrzehnte ein Bilderreservoir aus den ehemaligen deutschen Kolonien, die selbst historisch wurden, als die meisten Länder sich unabhängig machten. Hinterfragt wurde das Material nicht. Vielmehr blieb diese Form des filmischen Gedächtnisses weiter in Umlauf.
Die historischen Bedingungen für die Herstellung von Filmen über die deutschen Kolonien waren nach 1945 andere als noch zur Zeit des Dritten Reiches und der expansionistischen Pläne Deutschlands während des Krieges. Die Lehrfilme riefen die deutsche Kolonialvergangenheit ins Gedächtnis, veranlassten die Zuschauer, an die kontinuierliche Präsenz von Deutschland zu denken, und verwiesen auf eine „Wiedergewinnung“ des Kolonialreiches. Nach dem Zweiten Weltkrieg sah wohl selbst der 1955 gegründete „Verband ehemaliger Kolonialtruppen“ keine Chance mehr auf ein deutsches Kolonialreich. Das Gedächtnis wurde nostalgisch, verklärend.
Das änderte sich in der Bundesrepublik ab den späten 1960er-Jahren. Die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte, der zeitgenössischen Entwicklungspolitik der BRD und dem Interesse für die damals sogenannte Dritte Welt erreichte auch die Bestände der Bildstellen. Das Schwarzbuch des entwicklungspolitischen Films zeigte 1977 auf, welche der Filme in den Verleihbeständen der Landesfilmdienste von Wirtschaftskonzernen finanziert wurden und nicht nur Extraktivismus und Apartheid schönredeten, sondern auch ein idyllisches Bild der deutschen Kolonien verbreiteten und so in der Erinnerung verankerten. Die Abenteuerlust gehörte bei diesen Filmen unbedingt dazu. Unter den Herausgebern des Schwarzbuches war auch der Filmemacher Peter Heller, der in den folgenden Jahren neue Bilder aus den ehemaligen Kolonien anstieß. Heller war kein Einzelkämpfer, doch gehörte er zu den wenigen, die sich in dieser Zeit für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus einsetzten. Dies war auch biografisch bedingt, war sein Vater doch leitender Angestellter bei der Eisenbahn in „Deutsch-Südwest“ gewesen, wo auch seine Mutter Ruth Heller geboren worden war. Erst spät begibt sich Heller auf Spurensuche in seiner eigenen Familiengeschichte, in seinem eindrucksvollen Dokumentarfilm Kolonialmama – Eine Reise in die Gegenwart der Vergangenheit (2009). Zuvor durchbricht Heller in einer Reihe von Filmen die dominante Perspektive auf die deutsche Kolonialvergangenheit.

Wie überlagert die Erinnerungskultur durch die alten Filme war, macht schon der Titel seines Films Die Urwälder unserer Kindheit (1980) deutlich, der von dem Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) in den Katalog mit Unterrichtsfilmen aufgenommen wurde. Bei dem Film handelt es sich um die Kurzfassung von Usambara – Das Land, wo Glaube Berge versetzen soll (1979/1980). Hier blicken zwei ältere Frauen, Frieda Wohlrab und Agnes Rösler, auf ihre Kindheit zurück. Sie wuchsen als deutsche Missionarskinder in der Missionsstation Hohenfriedeberg in Deutsch-Ostafrika (heute Mlalo in Tansania) auf und mussten 1918 die Kolonie, die zwischen Belgien und Großbritannien aufgeteilt wurde, verlassen. In den 1970er-Jahren kehren sie in das nun unabhängige Tansania mit der Absicht zurück, das Gebiet zu renaturieren, die Wälder wieder aufzuforsten. Hierbei versuchen sie die lokale Bevölkerung anzuleiten – in Kontinuität des christlichen Missionsgedankens –, um mit ihnen zusammen Bäume zu pflanzen und eine Baumschule anzulegen. Unterstützt werden sie von dem Verwaltungsbeamten Lenard Mkulya, der im Einklang mit der Regierung Maßnahmen treffen soll, um den Waldbestand zu schonen. Doch wirkt es schräg: Von wem geht hier die Initiative aus? Welche Vorstellungen von einem Urwald werden hier verfolgt? Erinnern sich die beiden Frauen nicht eher an Fiktionen zu der deutschen Kolonialvergangenheit?
Hellers Film nimmt das Motiv auf, das die Produktionen der RfdU hinterlassen haben, dichte Wälder, in denen riesige Bäume gefällt werden. Urwälder werden in eine Vergangenheit hineinprojiziert. Die Urwälder unserer Kindheit ist eine Revision der Geschichtsbilder der deutschen Lehrfilmproduktion, ohne einen neuen Historienfilm zu inszenieren. Statt die Geschichte von Carl Peters umzudrehen und etwa einen anderen Helden zu finden, vervielfältigt Heller die Perspektiven. Wohlrab und Rösler treten als Zeitzeuginnen auf und blicken sowohl auf ihre Vergangenheit vor 1918 als auch auf die Gegenwart im Usambara-Gebirge; Mkulya blickt ebenfalls auf die Vergangenheit zurück, in der die Rodung großer Waldflächen während der Kolonisierung des Gebiets durch Deutsche (im Zuge von Carl Peters) begann, und auf die Zukunft seines Landes. Zudem betrachtet er auch die beiden Frauen und zeigt sich von ihrem missionarischen Eifer irritiert. Wenn im Filmtitel der Kurzfassung von „unserer Kindheit“ gesprochen wird, ist damit die der beiden Missionarskinder gemeint und nicht die von Mkulya und seinen Vorfahren.

Heller kommentiert die Haltung der Personen kaum – anders als in seinem Kompilationsfilm aus Archivmaterialien Die Liebe zum Imperium. Deutschlands dunkle Vergangenheit in Afrika (1977), der als 16mm-Kopie ebenfalls in Bildstellen und Landeszentralen auszuleihen war, in dem er nicht nur die Kolonialverbrechen anklagt, sondern auch die Verdrängung: „Von der kolonialen Mitschuld fühlen sich nur wenige Völker frei. Die Deutschen, deren Reich um die Jahrhundertwende für dreißig Jahre mit zu den größten Kolonialmächten aufgestiegen war, zählen dazu; zu unrecht, wie die Fakten der Geschichte belegen. Diese Verdrängung aus dem Bewusstsein der Bürger der Bundesrepublik gelang fast vollständig. Ohne Trauerarbeit ist die Kolonialschuld scheinbar verjährt – die Täter, Mittäter und Mitläufer sterben aus.“ (Heller 1978, S. 1) Sind Frieda Wohlrab und Agnes Rösler auch Mitläuferinnen gewesen, deren Engagement in Tansania dem Versuch einer Wiedergutmachung ähnelt?
Heute betrachten wir Die Urwälder unserer Kindheit als historisches Dokument, das auch von der bundesrepublikanischen Beschäftigung mit dem deutschen Kolonialismus erzählt. Unerwähnt bleiben Ereignisse wie der Maji-Maji-Aufstand gegen das deutsche Kolonialsystem, dem Heller in Die Liebe zum Imperium ein eigenes Kapitel widmet. Er erzählt von ihm allein über Fotografien. Es lohnt eine Beschäftigung mit diesem existierenden Bilderreservoir – und es lohnt auch, die Abenteuerlust ins Archiv zu verlagern, bevor neue Geschichtsbilder inszeniert werden.
Anmerkung:
1 Bildunterschrift auf der Seite „Der Film in Düsseldorf und Westdeutschland“. In: Der Film, 26/1942, S. 34
Literatur:
Heller, P.: Vorwort. In: D. Bald/P. Heller/V. Hundsdörfer/J. Paschen (Hrsg.): Die Liebe zum Imperium. Deutschlands dunkle Vergangenheit in Afrika. Ein Lesebuch zum Film. Bremen 1978
Keitz, U. von: Wie „Deutsche Kamerun-Bananen“ ins Klassenzimmer kommen. Pädagogik und Politik des Unterrichtsfilms. In: H. Segeberg (Hrsg.): Mediale Mobilmachung I. Das Dritte Reich und der Film. Paderborn 2004, S. 71–102
Kracauer, S.: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1985