Im freien Fall? Politische Kommunikation in sozialen Medien
Frau Sommer, der Zustand der öffentlichen Debatte beschäftigt die Landesmedienanstalten. Am 13. März widmeten sie sich im Rahmen des Branchentreffs „DLM im Dialog“ diesem Thema, im Sommer letzten Jahres hatte das Hamburger Mediensymposium den Fokus auf die sozialen Medien gerichtet – damals hieß es, die politische Kommunikation sei „ins Rutschen geraten“. Wie hat sich diese Entwicklung seither fortgesetzt? Sind wir noch im kontrollierten Abwärtsgang oder bereits im freien Fall?
Die Herausforderung ist definitiv nicht kleiner geworden. Die Kommunikation in sozialen Medien unterscheidet sich grundlegend von traditionellen Diskursen, da ihre Algorithmen Inhalte bevorzugen, die Empörung oder Skandale auslösen. Während leise und differenzierte Stimmen kaum Reichweite erzielen, verbreiten sich polarisierende Beiträge besonders schnell, da sie häufiger angeklickt und weitergeleitet werden. Dieses Phänomen ähnelt dem Verhalten von Gaffern auf der Autobahn: Menschen halten nicht aus böser Absicht an, sondern weil außergewöhnliche Ereignisse ihre Neugier wecken. Ebenso ziehen reißerische Schlagzeilen Aufmerksamkeit auf sich und bleiben im Gedächtnis. Algorithmen reagieren auf dieses Nutzerverhalten, indem sie emotional aufgeladene Inhalte bevorzugt ausspielen. Dadurch erhalten kontroverse Beiträge größere Sichtbarkeit, während längere, ausgewogene Analysen seltener weitergeleitet und damit weniger wahrgenommen werden. In der Folge verstärkt sich die Polarisierung im digitalen Raum. Dies prägt die öffentliche Debatte und beeinflusst die Art und Weise, wie Informationen wahrgenommen und diskutiert werden.
In Deutschland gibt es traditionell einen breiten Konsens darüber, dass Meinungsfreiheit nicht bedeutet, alles uneingeschränkt sagen zu dürfen, sondern vielmehr den Raum für einen kritischen und konstruktiven Diskurs zu schaffen.“
Inwiefern kann Regulierung dieser Polarisierung des öffentlichen Diskurses entgegenwirken?
Das ist eine enorme Herausforderung, da wir uns hier im Kernbereich der Meinungsfreiheit bewegen. Es handelt sich um ein äußerst sensibles Thema, das sorgfältig abgewogen werden muss. In Deutschland gibt es traditionell einen breiten Konsens darüber, dass Meinungsfreiheit nicht bedeutet, alles uneingeschränkt sagen zu dürfen, sondern vielmehr den Raum für einen kritischen und konstruktiven Diskurs zu schaffen. Dazu gehört es, Argumente auszutauschen und Debatten auch kontrovers zu führen. Gleichzeitig endet die Meinungsfreiheit dort, wo sie gezielt zur Verunglimpfung oder zur Beeinträchtigung der Rechte anderer genutzt wird. Hetze, Diffamierung und bewusste Manipulation überschreiten diese Grenze, da sie nicht mehr auf Dialog, sondern auf Spaltung abzielen.
Diese Abgrenzung unterscheidet sich in Teilen von der derzeit in den USA vertretenen Auffassung, die Meinungsfreiheit als nahezu uneingeschränktes Rederecht interpretiert. In Deutschland hingegen besteht der Grundsatz, dass der Schutz der Meinungsfreiheit eine Abwägung mit anderen Grundrechtspositionen nicht nur zulässt, sondern auch erfordert. Daher ist es richtig und notwendig, entschieden gegen unzulässige Inhalte und digitale Hetze vorzugehen.
Haben wir in der Gesellschaft noch dieses gemeinsame Verständnis von Meinungsfreiheit? Die Juristin Ellen Wagner hat im Rahmen des Mediensymposiums gesagt, es brauche für den Diskurs zumindest eine Art Verständigungsbereitschaft – ist die noch vorhanden?
Ich glaube durchaus, dass eine grundsätzliche Bereitschaft zur Verständigung in der Gesellschaft vorhanden ist. Soziale Medien spiegeln dies durch ihre Mechanismen der Reichweitenverstärkung nicht wider. Vielmehr fördern sie Inhalte, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen, während differenzierte und auf Verständigung ausgerichtete Kommunikation oft weniger Beachtung findet. Gerade hier liegt das Dilemma, denn Verständigung setzt eine bestimmte Rhetorik voraus – eine respektvolle Ansprache, Offenheit für andere Perspektiven und die Bereitschaft zur Reflexion. Im direkten Austausch funktioniert Verständigung nur, wenn beide Seiten einander mit Respekt begegnen. Auf sozialen Medien hingegen wird genau diese Art der Kommunikation durch die Funktionsweise der Algorithmen kaum belohnt.
Deshalb würde ich die grundsätzliche Verständigungsbereitschaft der Menschen nicht infrage stellen – in weiten Teilen der Bevölkerung und auch in der Politik ist sie nach wie vor vorhanden. Die eigentliche Herausforderung besteht vielmehr darin, eine ausgewogene und gesellschaftlich anschlussfähige Kommunikation so zu gestalten, dass sie in den sozialen Medien überhaupt noch Gehör findet. Denn viele Zielgruppen sind inzwischen fast ausschließlich dort erreichbar, was den Druck auf politische Akteure erhöht, ihre Botschaften entsprechend anzupassen, ohne dabei an inhaltlicher Tiefe oder Sachlichkeit zu verlieren.
Also sind es die sozialen Medien selbst und ihre Funktionslogik, die die öffentliche Debatte gefährden?
Ja, das sehe ich so. Meiner Ansicht nach ist dies ein zentraler Punkt, an dem unsere öffentliche Kommunikation ins Rutschen geraten ist. In den neuen digitalen Kommunikationsräumen dominieren Mechanismen, die den offenen Diskurs nicht in den Vordergrund stellen. Dabei bin ich überzeugt, dass es durchaus möglich wäre, diese Dynamiken anders zu gestalten. Ursprünglich waren soziale Medien mit einer gewissen Befreiungsidee verbunden – insbesondere in Ländern, in denen Meinungsfreiheit stark eingeschränkt war. Sie sollten es ermöglichen, dass sich jeder äußern kann und Zugang zu vielfältigen Inhalten erhält. In der Praxis zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Die algorithmische Steuerung sorgt nicht für eine breite Vielfalt an Perspektiven, sondern führt vielmehr dazu, dass Nutzer schnell in bestimmte inhaltliche Richtungen gelenkt und absorbiert werden.
In den neuen digitalen Kommunikationsräumen dominieren Mechanismen, die den offenen Diskurs nicht in den Vordergrund stellen. Dabei bin ich überzeugt, dass es durchaus möglich wäre, diese Dynamiken anders zu gestalten.“
Was kann Regulierung an dieser Stelle leisten? Demokratischer Diskurs lässt sich schließlich nicht verordnen, ebenso wenig ein respektvolles Miteinander. Inwiefern kann Regulierung also dazu beitragen, eine vielfältige Debattenkultur zu sichern?
Ich sehe hier vor allem zwei unterschiedliche, aber sich gut ergänzende Ansätze. Erstens müssen wir konsequent gegen unzulässige Inhalte vorgehen, um sicherzustellen, dass sich Menschen auch online sicher bewegen und soziale Medien nutzen können. Dieser Schutz ist eine zentrale Voraussetzung für einen funktionierenden digitalen Diskurs. Zweitens stellt sich die Frage, wie wir mehr Transparenz darüber schaffen können, welche Art von Inhalten Nutzerinnen und Nutzer auf sozialen Medien konsumieren. Denn dort treffen sehr unterschiedliche Inhalte aufeinander: persönliche Meinungsäußerungen, die keinerlei Regulierung unterliegen, aber auch journalistische Beiträge oder professionell erstellte Inhalte, die bestimmten Standards folgen.
Ein gutes Beispiel sind Nachrichten-Influencer, die sich bewusst faktenbasierten Arbeitsweisen verpflichten – etwa durch die Nutzung mehrerer Quellen, die klare Trennung von Meinung und Nachricht oder die transparente Kennzeichnung von Informationen. Diese Standards orientieren sich an Prinzipien, die wir aus dem klassischen Journalismus kennen, und sollten auch im digitalen Raum sichtbarer werden. Diese Orientierung wäre ein wichtiger Schritt, um die Qualität der öffentlichen Debatte im digitalen Raum zu stärken.
An was denken Sie konkret? An eine Zertifizierung von Influencer:innen?
Ein möglicher Ansatz wäre die Einführung eines Zertifikats, das für die Einhaltung bestimmter Standards steht. Dazu könnte das Bekenntnis zu journalistischen Sorgfaltspflichten und den geltenden medienrechtlichen Vorgaben ebenso gehören wie Transparenz über den Absender der Inhalte sowie eine Erreichbarkeit für Nutzende und natürlich auch Aufsichtsbehörden. Ähnliche Modelle existieren bereits in manchen sozialen Medien, wo Nutzer ihre Identität hinterlegen können und dafür eine besondere Kennzeichnung – etwa ein Häkchen – erhalten. Vergleichbare Authentizitätssiegel gibt es auch im E-Mail-Verkehr, um die Vertrauenswürdigkeit von Absendern zu bestätigen. Allerdings sollten wir uns vorab intensiver mit der Frage auseinandersetzen, welche Kriterien wir anlegen wollen, wenn es um die Vergabe solcher Kennzeichnungen geht. Hier besteht eindeutig noch Klärungsbedarf.
Wie bewerten Sie die journalistischen Standards in den traditionellen Medien? Grenzen die sich gegenüber den sozialen Medien ab oder passen sie sich deren Logiken eher an?
Die Tendenz, sich den Logiken sozialer Medien anzupassen, ist noch nicht sehr stark ausgeprägt, aber das Risiko besteht definitiv. Die Mechanismen, die in sozialen Medien vorherrschen, sind völlig anders als in traditionellen Medien. Besonders auffällig ist, dass jüngere Generationen zunehmend mit diesen schnellen und kurzen Inhalten aufwachsen. Wenn man sich vorstellt, dass Inhalte oftmals nur noch 120 Sekunden lang sind und die Botschaft innerhalb dieser kurzen Zeit vermittelt werden muss, dann ist es schwer vorstellbar, dass in diesem Nutzungsverhalten Platz für tiefgehende und umfassende Dokumentationen bleibt.
Dennoch würde ich das nicht zu schwarz sehen, denn das Leben junger Menschen findet ja nicht ausschließlich auf sozialen Medien statt. Sie nutzen einen breiten Medienmix, zu dem traditionellere Formate nach wie vor gehören, ebenso wie weiterhin boomende Podcastformate, die sich durchaus auch sehr ausführlich mit politischen Themen befassen.

Eva-Maria Sommer (Foto: Ralf Graner Photodesign)
Eva-Maria Sommer ist Direktorin der Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein (MA HSH).

Claudia Mikat (Foto: sh/fotografie)
Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).