„Immer das Optimum“

Tilmann P. Gangloff im Gespräch mit Hannu Salonen

Spätestens seit Oktoberfest 1900 gilt der Regisseur Hannu Salonen als Experte für hochwertige Serien, zumal sich seine Arbeiten stets durch eine besondere Bildgestaltung auszeichnen. Im Interview beschreibt der gebürtige Finne die unterschiedlichen Herausforderungen, die aufwendige Produktionen wie Ich bin Dagobert (RTL) oder die im Sommer in Budapest entstandene Disney+-Serie Vienna Game mit sich bringen. Bei Turmschatten (Sky) ergaben sich Herausforderungen ganz anderer Art: In dem Thriller führt ein deutscher Jude einen live im Internet übertragenen Schauprozess gegen zwei Neonazis, die ständig faschistische Parolen von sich geben.

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Herr Salonen, wenn man bei Ihren letzten Projekten nach inhaltlichen Gemeinsamkeiten sucht, stellt man fest: Es gibt keine. Arctic Circle ist ein Eis-Krimi, Oktoberfest 1900 ein historischer Stoff, Ich bin Dagobert eine Gaunergroteske, Turmschatten ein Hochspannungsthriller, die zuletzt gedrehte Serie Vienna Game spielt im 19. Jahrhundert und beeindruckt durch opulente Kostüme. Was braucht ein Stoff, um Sie anzusprechen?

Starke Charaktere und visuelles Potenzial. Früher hatte ich oft das Gefühl, Projekte retten zu müssen, das hat sich radikal geändert. Die Qualität der Drehbücher, die mir mittlerweile angeboten werden, ist äußerst hoch. Die Figuren sind fundiert, die Geschichten enthalten überraschende Wendungen und bieten tolles Spielmaterial, sodass sich auch die Top-Liga der Schauspieler dafür begeistern lässt. Es ist ein großes Glück, dass ich derart unterschiedliche Serien drehen durfte. Ich bin selbst großer Genre-Fan und bringe, denke ich, eine gewisse Stilsicherheit mit, das kommt mir bei der Bandbreite natürlich entgegen.

Sind die Drehbücher generell besser geworden oder hat die höhere Qualität vor allem mit Ihrem Status zu tun?

Ich vermute Letzteres. Ehrlich gesagt kann ich das aber nur schwer einschätzen, weil ich schon seit einiger Zeit kein Formatfernsehen mehr drehe. Meine letzten Serien waren allesamt High-End-Projekte, das galt auch für die Drehbücher.
 


Früher hatte ich oft das Gefühl, Projekte retten zu müssen, das hat sich radikal geändert.“



Sie erwähnten Ihre Stilsicherheit, die Sie für solche Projekte prädestiniert. Woran machen Sie das fest?

Zum Beispiel in der Bewältigung unterschiedlichster Herausforderungen. Bei Turmschatten bestand die Aufgabe darin, ohne gehobenen Zeigefinger zu erzählen und auf schlichte Schwarzweißmuster zu verzichten. Dagobert war ein sehr schmaler Grat zwischen Heroisierung und Verharmlosung eines Verbrechers. Hier bestand die Aufgabe darin, der Geschichte durch die Bildgestaltung ein gewisses Augenzwinkern zu verleihen. Die sechsteilige Serie Vienna Game, die ich in Budapest für Disney+ gedreht habe, ist dagegen eine Satire mit viel Humor. Wenn man bei einem derartigen Stoff nicht den Mut hat, tiefer zu bohren, geht man baden.
 

Trailer Ich bin Dagobert (RTL+, 05.06.2024)



Frivol, hedonistisch und vibrierend

Dagobert erzählt die Geschichte des Kaufhauserpressers Arno Funke. In Turmschatten droht ein deutscher Jude mit der Ermordung zweier Neonazis, die angeblich seine Tochter getötet haben. Worum geht’s bei Vienna Game?

Die Serie spielt vor dem Hintergrund des Wiener Kongresses 1814/15: Auf dem Spiel steht Europa, auf den Tischen Champagner. Alles ist sehr frivol, skurril, hedonistisch und vibrierend.

Das klingt eher nicht wie ein klassischer Kostümschinken.

Genau das wollen wir durch eine moderne Erzählweise vermeiden. Wenn hierzulande historische Stoffe verfilmt werden, geschieht das immer mit einem Rucksack voller Ehrfurcht, davon haben wir uns völlig freigemacht. Es gibt viel Verspieltheit, viel Action und sogar fantastische Elemente.
 


Natürlich ist Geld nicht alles. Man muss auch gute Ideen haben und den Mut zum Ungewöhnlichen.“



Abgesehen von der wesentlich längeren Drehzeit: Worin unterscheidet sich die Umsetzung aufwendiger Serien vom Drehalltag eines Fernsehfilms?

Mir stehen bei den größeren Projekten dank der deutlich höheren Budgets ganz andere Mittel zur Verfügung, vor allem zur Umsetzung visueller Ideen. Das erhöht den Production Value erheblich, was ja auch der Sinn der Sache ist, um einen gewissen Abstand zu normalen Fernsehproduktionen zu kreieren. Natürlich ist Geld nicht alles. Man muss auch gute Ideen haben und den Mut zum Ungewöhnlichen.

Wie viel Lebenszeit investieren Sie in so ein Projekt?

Sehr viel. Das ist ein hoher Preis, den zu zahlen man bereit sein muss. Es bedarf einer langen Vorbereitung, weil wir für große Teile dieser Serien Storyboards entwerfen. Die Nachbearbeitung verschlingt auch noch mal viel Zeit. Ich gebe grundsätzlich immer alles, wenn ich ein Projekt annehme, aber bei Vienna Game kommt hinzu, dass Disney+ die Serie auf der ganzen Welt zeigen wird. Das ist ein Traum für jeden Regisseur. Auch Dagobert verkauft sich weltweit.

Wie hält man bei Dreharbeiten, die sich über mehrere Monate hinziehen, das Team bei Laune?

Gute Frage! Ich glaube, wenn man als Regisseur Leidenschaft und Hingabe vorlebt, wenn man immer Vollgas gibt, sind die anderen auch mit großer Motivation dabei. Es gehört zum Job, alle Mitwirkenden dazu zu bringen, ihre bestmögliche Produktivität und Kreativität in das Projekt einzubringen. Das funktioniert nur, wenn sie sich wohlfühlen, und das tun sie definitiv nicht, wenn man am Set rumbrüllt.
 

Trailer Oktoberfest 1900 (ARD, 11.09.2020)



Grenzen und Konventionen überwinden

Welchen Einfluss hat es auf Ihre Arbeitsweise, ob Sie eine Serie für ARD, ZDF, RTL oder einen Streamingdienst drehen?

Jeder Auftraggeber hat natürlich seine eigenen Interessen im Auge. RTL wusste bei Dagobert ebenso wie Paramount bei Turmschatten ganz genau, was man wollte und was man nicht wollte. Das macht es für einen Regisseur grundsätzlich leichter; vor allem, wenn es sachlich und gut begründet wird, weil die Zusammenarbeit auf gegenseitigem Respekt beruht. Schwierig wird es immer dann, wenn Geschmacksfragen ins Spiel kommen. Oktoberfest 1900 war etwas komplexer, weil die ARD alle Altersgruppen bedienen muss. Gleiches gilt natürlich für das ZDF. Im Unterschied dazu haben Privatsender wie auch Streamdienste den Vorteil, genauer definieren zu können, für wen sie produzieren. ARD und ZDF lassen mittlerweile viele Serien für ihre Mediatheken produzieren, das eröffnet ganz neue Chancen, die gewohnten Grenzen und Konventionen zu überwinden.

Gerade Ihre letzten Arbeiten, die alle in Zusammenarbeit mit dem Kameramann Felix Cramer entstanden sind, zeichnen sich durch eine große visuelle Kraft aus. Wie gehen Sie beide vor?

Ich habe schon beim Lesen des Drehbuchs eine klare Vorstellung davon, wie die Bilder aussehen und wie sie sich anfühlen sollen. Ich weiß, wo das Energielevel einer Szene steckt und wo daher die Kamera positioniert werden muss, um diese Energie bestmöglich einzufangen. Ganz entscheidend ist dabei die Dynamik einer Szene: Gibt es Bewegung oder ist sie eher tableauhaft? Und wenn ich mal keine Eingebung habe, kann ich mich darauf verlassen, dass Felix die richtige Idee hat. Wir sind wie zwei Maler, die mit den gleichen Pinseln und der gleichen Farbpalette arbeiten, deshalb müssen wir uns auch gar nicht groß austauschen, weil wir beide wissen, was dem anderen vorschwebt. Wir haben den gleichen Filmgeschmack, wir wollen beide unterhalten, deshalb drehen wir Filme und Serien, die eine gewisse Kommerzialität haben. Wir wollen ein Geschehen nicht bloß abbilden, sondern mit der Kamera aktiv in die Erzählung eingreifen.

Dagobert steckt voller origineller optischer Einfälle. Standen die schon alle im Drehbuch?

Ronny Schalks Drehbuch war sehr aufwendig, die Produktion stand unter großem Druck. Wenn das Drehbuch eine Szene beschreibt, die eine Umsetzung im Guy-Ritchie-Stil mit 15 verschiedenen Perspektiven vorsieht, aber in einer halben Stunden ist Drehschluss, muss man sich was einfallen lassen; zum Beispiel eine Kamerafahrt, die zwar aus der Not geboren ist und aus Sicht der Zuschauer unkonventionell wirkt, aber eine ganz eigene Qualität entwickelt. Auch das gehört zum Filmemachen.
 

Leichter Dunst in der Luft

Dauert der Schnitt bei solchen Großprojekten genauso lang wie der Dreh?

Im Grunde ja. Die Dauer der Nachbearbeitung hängt aber auch davon ab, welche Änderungswünsche die Auftraggeber haben. Bei Dagobert war der Schnitt allerdings ungewöhnlich kompliziert. Durch die verschiedenen Zeitebenen und die vielen assoziativen Momente ist die Serie im Schneideraum neu entstanden, weil wir die Dramaturgie verändert haben. Laut Drehbuch war die Hauptfigur in den ersten 20 Minuten zwar präsent, aber ihr Gesicht sollte nicht zu sehen sein. Beim Lesen erschien das völlig plausibel, in der Umsetzung hat die Idee jedoch überhaupt nicht funktioniert.

Warum liegt bei Dagobert und Turmschatten in den Innenaufnahmen stets ein leichter Dunst in der Luft, als wären sämtliche Crewmitglieder Kettenraucher?

Dieser Nebel macht das Licht plastisch. Selbst opulent ausgestattete Räume sehen nackt aus, wenn das Licht keinen Weg findet, als Licht empfunden zu werden. Dann verströmen die Bilder gerade auch durch die moderne Kameratechnik keinerlei Zauber. Dank des Nebels, der heutzutage viel feiner ist als früher, bekommt das Licht einen Körper, durch den es hindurch scheinen kann.
 


Ich habe tatsächlich den Ehrgeiz, dass meine Produktionen dreimal so teuer aussehen, als sie in Wirklichkeit waren. Das ist eine Frage der Visualität und der Zielsetzung.“



In Dagobert gibt es eine sehr eindrucksvolle Matrix-Einstellung, sie spielt in der Kfz-Werkstatt, in der Funke arbeitet: Das Bild friert ein, aber die Kamera wandert durch die Szenerie. Wie haben Sie das gemacht?

Dieser Effekt stand schon im Drehbuch. Die Umsetzung war sogar relativ simpel: Die Mitwirkenden sind in ihrer Bewegung erstarrt. Einige Effekte wurden per CGI eingefügt, aber die in der Luft schwebende Coladose hing an einem Seil, das in der Nachbearbeitung entfernt worden ist. Die dreidimensionale Wirkung kommt zustande, weil wir die Abgase des Motorrads, den Rauch einer Zigarette und die Tropfen aus der Coladose sehen.

Täuscht der Eindruck oder wirken Ihre Serien aufwendiger, als es die Budgets eigentlich erwarten ließen?

Ich habe tatsächlich den Ehrgeiz, dass meine Produktionen dreimal so teuer aussehen, wie sie in Wirklichkeit waren. Das ist eine Frage der Visualität und der Zielsetzung. Es geht immer um die Wirkung der Bilder. Ich will aus jeder Szene das Optimum rausholen und mich nie mit der erstbesten Lösung zufriedengeben. Die Filme und Serien sollen nie den Eindruck vermitteln, als hätten wir die Szenen bloß eingefangen. Ich liebe starke Erzählperspektiven! Es geht dabei um Entscheidungsfreude zugunsten eines Erzählstils, um Mut zur Auslassung, zu einer starken filmischen Sprache. Es geht darum, assoziativ zu arbeiten, Vertrauen in die filmischen Mittel zu haben – und um die Gewissheit, dass der Film letztlich im Kopf der Zuschauer stattfindet.
 

Trailer Turmschatten (Sky Deutschland, 05.09.2024)



Eine eigene Welt erschaffen

Dagobert spielt von 1988 bis 1994, Turmschatten im Jahr 2005, Vienna Game im 19. Jahrhundert. Was war hinsichtlich der Ausstattung die größere Herausforderung?

Filme oder Serien über Ereignisse, die nur wenige Jahrzehnte zurückliegen, sind immer schwieriger, weil jeder glaubt, sich noch gut an die Zeit erinnern zu können. Das mag zwar stimmen, aber diese Erinnerungen sind individuell gänzlich unterschiedlich. Bei Vienna Game hatten wir es einfacher: Diese Zeit hat niemand miterlebt, wir konnten also unsere eigene Welt erschaffen.

Es fällt auf, dass Sie bei Dagobert nicht die Hits aus den frühen 90ern einspielen, sondern Oldies. Warum?

Wir haben uns gefragt, welche Musik Arno Funke und seine Freunde gemocht haben könnten. Funke war damals Anfang 40 und hat vermutlich nicht die aktuelle Popmusik gehört. Die Oldies geben dem Film eine ganz eigene akustische Farbe und passen viel besser zum Stil der Serie als die damaligen Hits. In der Filmmusik haben wir dann einen anderen Akzent gesetzt: Michael Klaukien hat in seiner Komposition viele für die damalige Zeit typische Synthesizerklänge verwendet. Die grafischen grünen Linien, mit denen wir Funkes Pläne für die Geldübergaben verdeutlichen, sind ebenfalls der Computerästhetik der späten 80er nachempfunden.

Der Turm, dem Turmschatten den Titel verdankt, ist eigens gebaut worden. Warum?

Im Verlauf der Serie kreist ein Hubschrauber um den Turm, am Ende fliegt das Dach in die Luft, drumherum gibt es ständig einen großen Menschenauflauf, mit Neonazis, Antifaschisten und viel Polizei: Das hätten wir gar nicht in der Öffentlichkeit drehen können. Also haben wir den Turm auf einem ehemaligen Militärgebiet in der Nähe von München errichtet, Schaulustige hatten keinen Zutritt zu dem Gelände. Das waren natürlich optimale Bedingungen. Die Innenaufnahmen sind allerdings im Studio entstanden.

Während die Hauptfigur ihren live im Internet übertragenen Schauprozess gegen die Neonazis führt, geben die beiden Männer ständig faschistische und antisemitische Parolen von sich. Einer der beiden ist zudem ein standhafter Holocaustleugner. Ist das nicht ziemlich dünnes Eis für eine Unterhaltungsserie?

Ja, das stimmt, aber wir haben uns gesagt: Wenn wir so ein Thema erzählen, dann richtig und nicht mit angezogener Handbremse. Das Drehbuch basiert auf einem Roman von Peter Grandl, für den Holocaustleugner gab es ein reales Vorbild, einen Studenten, der tatsächlich eine Arbeit darüber geschrieben hat, warum der Holocaust nicht stattgefunden haben kann. Als vernünftiger Mensch fragt man sich: „Wie kann das sein?“ Das ist eine ernsthafte Frage, die wollten wir weder verharmlosen noch beschönigen, daher haben wir exakt geschildert, wie das Weltbild solcher Leute aussieht.
 

Sky zeigt die ursprünglich im Auftrag von Paramount+ entstandene Serie Turmschatten ab dem 15. November 2024 auf Sky Atlantic sowie auf Abruf bei Sky WOW.

Hannu Salonen, gebürtiger Finne und Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, ist als Regisseur von Serien wie „Arctic Circle“, „Oktoberfest 1900“, „Ich bin Dagobert“ und aktuell „Turmschatten“ ein Experte für aufwendige Filmstoffe.

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.