Innovative Filmlooks als Kino-Attraktion

Wie die Filmästhetik zur Errettung des Kinos beiträgt

Werner C. Barg

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Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg leitet er in der Abteilung Medien- und Kommunikationswissenschaft den Ergänzungsstudiengang „Medienbildung“ des Zentrums für Lehrer*innenbildung (ZLB)

Die Auswahl bzw. Entwicklung spezifischer Ästhetiken auf der Grundlage filmtechnischer Neuerungen wird in diesem Beitrag als Bewältigungsstrategie von Kinokrisen und als Innovationsmotor der Filmgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrachtet.

Online seit 29.08.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/innovative-filmlooks-als-kino-attraktion-beitrag-772/

 

 

Mit zunehmender Verwunderung und wachsender Skepsis verfolgten Zuschauer wie Kritiker 1980 in der ARD die TV-Serie Berlin Alexanderplatz, Rainer Werner Fassbinders aufwendige Verfilmung des legendären Romans von Alfred Döblin. Grund: Fassbinder hatte den Kameramann Xaver Schwarzenberger angehalten, die Bilder so dunkel wie möglich und so knapp belichtet wie nötig auszuleuchten. Auf vielen Bildschirmen kam das TV-Drama mehr oder weniger nur als Schwarzbild rüber: „Da kam ein hochstilisiertes Dunkelkammerspiel, mit Roman-Zitaten, die aus dem Off gelesen wurden, mit verwirrenden akustischen Montagen aus Musik, Geräuschen und Dialogen. So dunkel wie der Schirm blieb auch der Sinn des Werkes. Das breite Publikum war total überfordert“, schrieb seinerzeit Kritiker Jens Jessen im „Spiegel“ (Jessen 1980).

Fassbinders augenzwinkerndes Experiment, mit den extremen Gestaltungsmitteln seiner Verfilmung dem Publikum die Schwächen des „Pantoffelkinos“ gegenüber den ästhetischen Stärken des Lichtspielhauses vorzuführen und damit zum wiederholten Mal die individuelle visuelle Handschrift eines Autorenfilmers zu betonen, ist heute zu einer Strategie des nach den Corona-Restriktionen noch immer schwächelnden Kinos geworden, um sich der Konkurrenz der Streamingdienste zu erwehren. Durch die Auswahl spezifischer Ästhetiken, die der großen Leinwand mit den ausgeklügelten Soundsystemen moderner Kinosäle bedürfen, heben die Macher von Kinofilmen die Alleinstellungsmerkmale der Kinovorführung gegenüber der Präsentation ihrer Produkte auf den vergleichsweise kleinen Bildschirmen von Smart-TVs, Tablets und Laptops deutlich hervor.
 

The Batman

Eine Strategie gegen die zwar ubiquitäre, aber teils visuell und akustisch ungenügende Verfügbarkeit von Kinofilmen in den Streamingdiensten zeigt die neueste Verfilmung von Bob Kanes berühmten Batman-Comic durch das Hollywoodstudio Warner Bros. in der Regie von Matt Reeves. Wie einst bei Fassbinder hat Regisseur Reeves die Bilder seines düsteren Thriller-Dramas The Batman (USA 2022) im Film-noir-Stil von Kameramann Greig Fraser so knapp belichten lassen, dass der sogenannte „low key in manchen Sequenzen extrem niedrig ist. Dadurch gibt es kaum mehr eine Durchzeichnung von Objekten und Figuren, sprich: Die Bilder sind selbst im Kino extrem dunkel. Im Heimkino dürfte der Zuschauer bestenfalls mit einem aufwendigen 4-K-Beamer noch ein bisschen visuellen Spaß an dem Film haben. Wer also den Blockbuster nicht als Podcast sehen möchte, dem bleibt nur das Kino. Auf Tablets und Laptops oder gar auf dem Handy sind die in tiefes Schwarz getauchten Bilder kaum mehr konturiert. Der Handlung zu folgen, wird da schwer.
 

Trailer The Batmann (KinoCheck, 24.08.2020)



Dune

Im Jahr vor der Kinoaufführung von The Batman hatte Kameramann Greig Fraser die Neuverfilmung des Science-Fiction-Klassikers Der Wüstenplanet von Frank Herbert fotografiert. Gemeinsam mit Regisseur Denis Villeneuve verfolgt er in Dune (USA 2021) eine zu The Batman geradezu entgegengesetzte Lichtkonzeption. Der australische „Director of Photographie“ (DOP) – wie die lichtsetzenden Kameraleute in der US-Produktion genannt werden – leuchtete die Bilder mit „high key, also sehr hell, teils überbelichtet und mit starkem Gegenlicht aus, sodass auch dieser Film seine vollständige visuelle Kraft nur in der Brillanz, Lichtstärke und Tiefe eines Leinwandbildes entfalten kann. Es kommt hinzu, dass Regisseur Villeneuve in Dune gemeinsam mit DOP Fraser seine Vorliebe für Bilder perfektioniert, wie er sie schon in seinen Filmen Arrival (USA 2016) und Blade Runner 2049 (USA 2017) in einzelnen Sequenzen erprobt hatte. Hierbei handelt es sich um visuelle Tableaus, die wirken, als wären sie durch Gaze gefilmt. Durch die Aufnahme schwebender Rauch, ins Bild wehender Sand oder aufwirbelnder Staub erzeugen einen „blurred“-Effekt und verstellen dem Betrachter einen klaren Blick auf das Dargestellte. In Dune sind diese Bilder z. B. durch die Darstellung von Sandstürmen motiviert, die verstärkt auftreten, wenn auf dem Wüstenplaneten die gefürchteten Sandwürmer auftauchen.
 

Soundtrack fürs Kino

Unique fürs Kino wird Dune zudem durch den Soundtrack des Filmkomponisten Hans Zimmer. Die feinen, durch Elemente der Weltmusik inspirierten archaischen Klänge sind so präzise auf die vielen Lautsprecher des Dolby-Surround- oder Dolby-Atmos-Soundsystems im Kino abgestimmt, dass zu Greig Frasers Bildern ein atemberaubender Raumklang entsteht, der sich wiederum beim Hören der Filmmusik auf der heimischen Stereoanlage nur schwerlich einzustellen vermag.
 

Trailer Dune (KinoCheck, 10.09.2020)



Popmusik als Alleinstellungsmerkmal

Auch in anderer Hinsicht wurde in den letzten zwei Jahrzehnten die Filmmusik als ein Alleinstellungsmerkmal für Kinofilme immer bedeutsamer. Hollywoodstudios wie Warner, Universal oder auch Sony kauften seit der Jahrtausendwende die Musikrechte vieler Labels ein und stiegen so zu riesigen Musikverlagen auf, die wiederum gerne die von Ihnen erworbenen Popmusiktitel verstärkt in den Filmen ihrer Produktionsfirmen einsetzten. Eine Win-win-Situation für die Medienkonzerne: Einerseits peppte populäre Musik in den Bild-Ton-Montagen die Filme auf und machte die Soundtracks zu Markenzeichen für Filme wie z. B. Almost Famous (USA 2000), mitproduziert von Columbia Pictures, einer Tochterfirma von Sony Pictures Entertainment, für Blow (USA 2001), produziert von der Warner-Tochterfirma New Line Cinema, oder für die Universal-Produktion Radio, Rock, Revolution (GB 2009). Anderseits riefen die Soundtracks manche Popsongs dem Publikum wieder ins Gedächtnis zurück und machten die Filme somit zu idealen Marketingplattformen für die Musikverlage der Hollywoodstudios, die aus dem Verkauf der Soundtracks auf Tonträgern zusätzliche Gewinne erwirtschafteten.
 

Trailer Almost Famous (Rotten Tomatoes Classic Trailers, 07.03.2019)



Dieses einträgliche Geschäft funktionierte deshalb ganz gut, weil sich im Zuge der Digitalisierung der Kinos auch die Soundsysteme immer weiter verfeinerten und schließlich sogar solch brillanten Hörgenuss versprachen, dass viele Kinos begannen, z. B. im Rahmen von Matineen oder Special-Events-Aufführungen aus berühmten Opernhäusern wie der Mailänder Scala oder der New Yorker Metropolitan Opera in ihre Vorführräume zu projizieren (vgl. www.innenstadtkinos.de).

So wie heute die Entwicklung ausgefeilter Bild- und Tontechniken dem Kino helfen, sich aus der Coronakrise zu befreien und sich als einzigartigen Ort für Filmvorführungen und für spezielle visuelle Events neu zu erfinden, um sich gegenüber der Streamingkonkurrenz zu behaupten, so waren es in der Geschichte des Kinos immer wieder technische Neuerungen, die die Basis dafür schufen, den Kinofilm fürs Publikum stets aufs Neue attraktiv zu machen und das Kino als Ort filmischer Präsentation zu erretten.
 

Die Krise der 1950er-Jahre

1949 müssen die bis dato blühenden Major Companies Hollywoods nach einem Urteil des Supreme Courts, dem obersten Gericht der USA, auf Betreiben des Justizministeriums damit beginnen, ihr erfolgreiches Konglomerat aus Filmproduktion und Kinoketten zu entflechten. Gleichzeitig verbieten die sogenannten Paramount Consent Decrees das „block booking“, wodurch die Filmkonzerne ihre Kinos zuvor vollumfänglich auslasten konnten. Die in Hollywoods „Goldener Ära“ der 1930er- und 1940er-Jahre geradezu fließbandmäßig organisierte US-Filmproduktion von A- und B‑Pictures gerät ins Wanken. Dennoch entscheiden sich die Majors, sich auf die Filmproduktion zu konzentrieren und ihre Kinoketten zu verkaufen (Blanchet 2003, S. 128). So entgehen sie zwar unmittelbar der Krise des Kinos, die mit dem Aufstieg des Fernsehens in den 1950er-Jahren einhergeht, müssen aber dennoch nach Strategien suchen, sich mit der Kinofilmproduktion gegen das Fernsehen zu behaupten. Denn die Hollywoodstudios machen am Beginn der 1950er-Jahre herbe Verluste. So reduziert sich etwa bei Paramount von 1949 bis 1950 der Jahresertrag von 20 auf 6 Mio. US-Dollar (ebd., S. 129). Und die Besucherzahlen in den US-Kinos reduzieren sich von 1949 bis 1959 von 85,5 Mio. auf 42 Mio. pro Jahr, während im gleichen Zeitraum die Fernsehnutzung von 1 Mio. Haushalte 1949 auf 50 Mio. Haushalte 1959 anwächst (ebd., S. 130).
 

Episches Kino statt kleiner Bildschirm

Der Übermacht des kleinen Bildschirms setzen die Filmproduzenten epische Abenteuerfilme wie In 80 Tagen um die Welt (USA 1956), Historien-Epen wie Ben Hur (USA 1959), Cleopatra (USA 1963), Spartacus (USA 1960) oder Lawrence von Arabien (GB 1962), schließlich Melodramen wie Doktor Schiwago (USA/GB/I 1965) entgegen. Voraussetzung für die Wirkung all dieser Filme ist eine Weiterentwicklung der Größe des Leinwandbildes durch Breitwandtechniken sowie die Verfeinerung der Präsentation von Farben im Film. Hierbei entwickeln unterschiedliche Firmen unterschiedliche Verfahren: Parallel zur Entwicklung von Kameras mit anamorphotischen Linsen1 zur Breitwandbildherstellung durch die kalifornische Technikfirma Panavision entwickelte Paramount das VistaVision-Verfahren. Bei 20th Century Fox hieß das Breitwandbild fortan CinemaScope. Und Metro Goldwyn Mayer (MGM) brachte 1957 mit Camera 65 ein anamorphotisches Verfahren für 70-mm-Filme heraus.

In Filmen der 20th Century Fox jener Zeit, die etwa wie Ben Hur mit dem Camera-65-Verfahren gedreht wurden, verfeinerten sich zudem auch Farbfilmtechniken wie das seit den 1930er-Jahren für Filmaufnahmen entwickelte Technicolor-Verfahren im Hinblick auf die Möglichkeiten der 70-mm-Aufnahmetechnik. Der Name „Eastmancolor“ steht u. a. für diese Technik.
 

Movie CLIP Parade of the Charioteers (Movieclips, 09.01.2015)



Diese filmtechnischen Neuerungen zeigten Wirkung. Das Publikum goutierte die enormen Schauwerte der sogenannten Monumentalfilme. Sie wurden von den Verleihfirmen auch erstmals durch spezielle Marketingmaßnahmen, sogenannte Roadshows, beworben und spielten in der Regel ihre hohen Produktionskosten wieder ein.
 

Kino in der dritten Dimension

Ein weiterer technischer Gimmick der 1950er-Jahre war das 3-D-Verfahren, das dreidimensionale Kinobild, das das Publikum nur durch die gleichnamige Brille während der Kinovorführung wahrnehmen konnte. Regisseur Jack Arnold perfektionierte diese Technik in seinen B-Movies wie Gefahr aus dem Weltall (USA 1953) oder Der Schrecken vom Amazonas (USA 1954). Er erlangte später, in den 1980er-Jahren im Arthouse-Milieu, mit seinen trashigen Science-Fiction-Streifen und Horrorfilmen Kultstatus.

Regisseur James Cameron nahm die 3-D-Technik unter den Bedingungen des modernen digitalen Kinos wieder auf und entwickelte zusammen mit Vince Pace und dessen Firma Pace Technologiesin den 2000er-Jahren innovative digitale Kameras, mit der ein stereoskopisches 3-D-Filmbild aufgenommen werden konnte. Zum Schaufenster dieser neuen 3-D-Digitaltechnik wurde Camerons Erfolgsfilm Avatar (USA 2009), dessen überaus großer weltweiter Publikumserfolg am Beginn der 2010er-Jahre einen regelrechten 3-D-Boom im Kino auslöste und dazu führte, dass heutzutage viele Blockbuster-Produktionen sowohl in 2-D als auch in 3-D präsentiert werden.
 

Trailer Avatar (KinoCkeck Heimkino, 07.06.2020)



Mechanische Props

In den 1970er-Jahren wurden aus den „Monumentalfilmen“ der 1950er- und 1960er-Jahren die ersten „Blockbuster“ wie Steven Spielbergs Der weiße Hai (USA 1975) oder William Friedkins Der Exorzist (USA 1973), da sie bei Budgets von 7 Mio. bzw. 12 Mio. US-Dollar mit Einspielergebnissen von mehr als 400 Mio. US-Dollar alle bis dahin gültige filmökonomische Dimensionen sprengten. Konventionell gemachte Spezialeffekte, die sich besonderer Props, mechanischer Spezialrequisiten wie der Hai-Attrappe in Der weiße Hai, dem wackelnden Bett oder der „Erbsensuppenkotzmaschine“ in Der Exorzist bedienten, schufen überraschende, auch angsteinflößende Horroreffekte. Sie trugen zum Erfolg der Filme maßgeblich bei, wodurch die existenzbedrohende Krise der Filmproduktion Hollywoods am Beginn der 1970er-Jahre überwunden werden konnte (Christen/Blanchet 2016).
 

Trailer Der weiße Hai (Rotten Tomatoes Classic Trailers, 13.12.2011)



Digitale Spezialeffekte

Mit dem Beginn der Digitalisierung der Filmproduktion in den 1990er-Jahren wurden diese „Wow-Effekte“ in den Blockbustern mehrheitlich durch computergenierte Bilder erzeugt. Protagonist dieser technischen Neuerungen war u. a. wieder Regisseur Steven Spielberg, der in Jurassic Park (USA 1993) diverse Arten der auf der Erde ausgestorbenen Dinosaurier auf der Kinoleinwand in einer filmtechnischen Verknüpfung von Dino-Props und -modellen mit Digitaleffekten neu zum Leben erweckte. Zuvor nie gesehene Bilder lieferte wenig später das digitale Morphing-Verfahren in Chuck Russells Comic-Komödie Die Maske (USA 1994), die 1995 dann prompt mit dem Oscar für die besten Spezialeffekte ausgezeichnet wurde, oder die Bullet-Time-Technik in Matrix (USA 1999), „eine modernisierte Form der Stopptrick-Technik“ (Barg 2019, S. 97), bei der die Realbilder aus 120 Standbildkameras pro Szene bzw. pro Sequenz gescannt und computergestützt zu bewegten Bildern verarbeitet und in dem SciFi-Thriller der Wachowskis zu einer ganz eigenen Filmrealität kompiliert wurden.
 

Trailer Jurassic Park (KinoCheck, 17.05.2013)



Cinéma du look

Mit seinen Filmen Diva (F 1981) und Betty Blue – 38,5 Grad am Morgen (F 1986) begründete der kürzlich verstorbene französische Regisseur Jean-Jacques Beineix am Beginn der 1980er-Jahre einen neuen Filmstil, der als „Cinéma du look“ in die jüngere Filmgeschichte eingegangen ist (vgl. Lexikon der Filmbegriffe). Dieser neue Filmlook ist stark durch die Werbefilmästhetik beeinflusst und zeichnet sich neben kühl designten und hyperreal gestylten Raum- und Objektkompositionen durch ausgeklügelte, stark emotionalisierende Farb- und Lichtkonzepte aus. Beineix, der vor seiner Kinofilmkarriere selbst als Werbefilmer gearbeitet hatte, inspirierte mit seinen Filmen im französischen Kino u. a. Regisseure wie Luc Besson in dessen Filmen Subway (F 1985) und Nikita (F 1990) oder Leo Carax in der filmischen Gestaltung von Die Nacht ist jung (F 1986) (Jameson 1992, S. 65 ff.).
 

Trailer Diva (Umbrella Entertainment , 23.08.2011)



Farbe im Film als Kino-Attraktion

Im weiteren Verlauf der 1980er-Jahre färbte das Cinéma du look u. a. auf viele Filmproduktionen des Hollywoodkinos ab. So präsentierte Oliver Stone sein Vietnamheimkehrer-Drama Geboren am 4. Juli (USA 1989) fast durchgängig in goldenem „Southern Comfort“-Licht; Kathryn Bigelow tauchte ihren Polizei- und Serienkiller-Thriller Blue Steel (USA 1990) durchgehend in ein kühles Blau und griff damit den Stil von Beineix‘ Diva direkt auf. Adrian Lyne wiederum nutzte in der Gestaltung seines Films 9 ½ Wochen (USA 1986) die intensive Verwendung zumeist warmer Farben wie Rot, Orange und Gelb, um die Geschichte seines Erotikthrillers noch stärker zu emotionalisieren. Und Tony Scott versuchte die Aktionen der Navy-Kampfpiloten in Top Gun (USA 1986) in bester Werbefilmästhetik durch warme Farbtöne und einen eindringlichen Soundtrack besonders für ein junges Publikum zu erotisieren. Die Briten Tony Scott und Adrian Lyne waren ebenso wie der Franzose Beineix über die Werbebranche ins Filmgeschäft eingestiegen; andere, wie Kathryn Bigelow oder der britische Regisseur Jonathan Glazer, der im Jahr 2000 mit Sexy Beast (GB/E) noch ein Spätwerk des Cinéma du look vorlegte, arbeiteten u. a. als Musikvideoregisseure.
 

Trailer Sexy Beast (LEONINE Studios, 14.06.2012)



Die Fähigkeit, starke emotionale Momente im Kino erzeugen zu können und zu wollen, ist all diesen, wie auch vielen anderen Regisseuren gemeinsam. Die in den 1980er-Jahren stark verfeinerte Kamera- und Lichttechnik gab ihnen die Möglichkeit, ihre Filme so wirkungsvoll gestalten zu können und die Ästhetik eines modernen Gefühlskinos zu erschaffen, das ein Massenpublikum weiter oder wieder verstärkt in die Kinos lockte.
 

Fazit

Bilanziert man die zuvor dargelegten Strömungen der filmtechnischen Entwicklungen, so kann man feststellen, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Intervall von cirka zehn Jahren immer aufs Neue filmtechnische Veränderungen stattfanden, die Filmemachern den Impuls gaben, innovative Filmästhetiken zu entfalten, um Kinokrisen abzumildern und das Kino fürs Publikum attraktiv zu halten.

In der durch die beginnende starke Fernsehrezeption ausgelösten Krise des Kinos in den 1950er-Jahre waren es Breitwand- und Farbfilmtechniken, die halfen, eine Ästhetik des Monumentalfilms zu schaffen.

In den 1970er-Jahren revolutionierten einfallsreiche Props das Schau-Erlebnis im Kino, ließen erste Blockbuster entstehen, die die am Boden liegende Filmindustrie Hollywoods wieder auf die Beine halfen.

In den 1980er-Jahren begründeten intensive Farb- und Lichttechniken die Gestaltung neuer Filmlooks und die Ästhetik eines modernen Emotionskinos.

In den 1990er-Jahren lockten die Effekte computergenerierter Filmbilder die Zuschauer ins Kino, um u. a. Comic- und Fantasy-Verfilmungen wie die Herr der Ringe-Trilogie (USA/NZL 2001–2003) oder Spiderman (USA 2002) anzuschauen, die bis dato als unverfilmbar galten, weil die in den literarischen Vorlagen kreierten Fantasiewelten mit konventionellen filmischen Gestaltungsmitteln nicht oder nur mit enormem Aufwand filmisch hätten dargestellt werden können.

Im Wechsel zum neuen Jahrtausend und in den 2000er-Jahren verbesserten sich die Soundsysteme im Kino, sodass sowohl digitales Sounddesign als auch Filmmusik immer bedeutsamer wurden.

Die innovative 3-D-Technik in Avatar eröffnete schließlich in den 2010er-Jahren eine neue Etappe der digitalen Kinofilmproduktion, die nun mit allen zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten um die Kreation von Filmästhetiken bemüht ist, der aktuellen Herausforderung durch die Streamer zu begegnen. Ob da Avatar: The Way of Water, James Camerons Fortsetzung seines Erfolgsfilms von 2009, wieder neue Dimensionen eröffnen kann, wird der Kinostart des Films im Dezember 2022 zeigen.
 

Trailer Avatar: The Way of Water (KinoCheck, 09.05.2022)



Anmerkung

1) Anamorph/anamorphotisch: „Das Adjektiv anamorph […] bezeichnet den gegenüber dem Original verzerrten Zustand eines Bildes. Vor allem in der technischen Optik ist auch die Bezeichnung ,anamorphotisch‘ gebräuchlich, die auch die verzerrende Eigenschaft eines optischen Systems bedeuten kann.
Meist wird ein anamorphes Bild mit einer Zylinderlinse oder einem Zylinderspiegel (Zerrspiegel) erzeugt. Das verzerrte Bild (seltener auch der Vorgang der Ver- oder Entzerrung) wird als Anamorphose bezeichnet. Ein Objektiv (oder Objektivvorsatz), das anamorph abbildet, nennt man Anamorphot oder Anamorphoskop.“ (Vgl. Wikipedia)
 

Literatur:

Barg, W. C.: Blockbuster Culture. Berlin 2019

Blanchet, R.: Blockbuster. Ästhetik, Ökonomie und Geschichte des postklassischen Hollywoodkinos. Marburg 2003

Christen, T./Blanchet, R. (Hrsg.): New Hollywood bis Dogma 95. Marburg 2016

Jameson, F.: Diva and French Socialism (1982). In: ders.: Signatures of the Visible. London 1992

Jessen, J.: Fernsehen. Dunkler Sinn. In: SPIEGEL Kultur, 02.11.1980. Abrufbar unter: www.spiegel.de