Inszenierte Authentizität: „lonelygirl15“ und die Erschaffung von Echtheit auf YouTube
Das YouTube-Video zeigt einen jungen Mann. Daniel. Sein Gesicht ist von Schrammen gezeichnet, das weiße T-Shirt mit Blutflecken durchtränkt. Er steht offenbar am Strand. Im Hintergrund ist der berühmte Pier von Santa Monica mit seinem Riesenrad in der goldenen Abendsonne Kaliforniens zu erkennen. Sichtlich erschöpft spricht er mit brüchiger Stimme direkt in die Kamera, die er selbst hält: „Also, wir haben es geschafft, wir sind da rausgekommen, wo auch immer dieser Ort war. Ich erinnere mich nicht mal mehr. Bree, … sie ist tot“ (lonelygirl15 2007b).
Lonelygirl15 Season Finale 11 of 12 -- 6 pm (lonelygirl15, 06.08.2007)
In einem weiteren Video, das etwa eine Stunde zuvor veröffentlicht wird, ist Daniel gemeinsam mit einigen Freund:innen in einer Art Krankenhaus zu sehen. Die Gruppe reagiert panisch, als sie Bree in einem Krankenzimmer auf einer Trage entdecken. An ihren Arm ist ein Schlauch angeschlossen, durch den ihr Blut abfließt. Eine Krankenpflegerin bewegt sich geschäftig durch den Raum. Plötzlich tritt ein Mann in einer schwarzen Kutte hinzu. Sein Gesicht bleibt verborgen. Er beugt sich über Bree und will sie offenbar mitnehmen. Dann wird die Tür zum Zimmer unter Daniels verzweifelten Rufen geschlossen (vgl. lonelygirl15 2007a).
Lonelygirl15 Season Finale 11 of 12 -- 5 pm (lonelygirl15, 06.08.2007)
Die beiden Szenen gehören zu den letzten Minuten der 1. Staffel einer Webserie, die nach 260 Folgen am 3. August 2007 bei MySpace zu Ende geht. Gestartet war sie rund ein Jahr zuvor auf dem Kanal lonelygirl15 auf dem damals noch jungen Videoportal YouTube.
Nur ein einsames Mädchen?
Zu diesem Zeitpunkt ist YouTube erst seit etwas mehr als einem Jahr online. Der Verkauf an den Google-Mutterkonzern Alphabet ist noch nicht vollzogen. Täglich werden rund 65.000 Videos hochgeladen, deren Maximallänge noch auf zehn Minuten beschränkt ist. Der geschätzte Gesamtumfang der Plattform liegt bei etwa 100 Mio. Clips. Unter den populärsten Inhalten finden sich neben zahllosen Lip-Sync-Videos auch frühe virale Erfolge wie Noah takes a photo of himself every day for 6 years oder das Musikvideo Here It Goes Again der Band OK Go. Zugleich etablieren sich zunehmend Vlogs und Videotagebücher, die sich schrittweise zu einem dominierenden Format auf der Plattform entwickeln. In ihnen berichten Nutzer:innen aus ihrem Alltag, teilen persönliche Gedanken oder reagieren auf Kommentare aus der Community.
Eine von ihnen ist Bree. Unter dem Pseudonym „lonelygirl15“ erscheint sie am 16. Juni 2006 zum ersten Mal in einem Video auf dem gleichnamigen YouTube-Kanal. Darin sitzt sie in ihrem Kinderzimmer, das Kinn auf dem Knie abgelegt. Scheinbar verlegen kaut sie auf der Unterlippe und spricht direkt in die Kamera: „Ich heiße Bree. Ich bin 16. Ich möchte nicht so gern sagen, wo ich wohne. Ihr könntet mich ja stalken oder so … Na ja, das Einzige, was man über meine Stadt sagen kann, ist, dass sie total langweilig ist. Also wirklich langweilig. Richtig, richtig langweilig. Wahrscheinlich verbringe ich deshalb so viel Zeit am Computer. Ich bin ein Nerd. Ich hatte eigentlich keinen richtigen Plan für dieses Videotagebuch, aber ich denke, ich mache es jetzt einfach so“ (lonelygirl15 2006).
Was derart unspektakulär beginnt, entwickelt sich innerhalb weniger Monate zu einem globalen Internetphänomen. Bereits das siebte Video erzielt innerhalb einer Woche über 500.000 Aufrufe. Nach einem Jahr zählt der Kanal mehr als 60 Mio. Views. Zeitweise ist er der meistgesehene auf der gesamten Plattform.
In den zwei- bis dreiminütigen Clips, die in der Regel im Abstand von wenigen Tagen veröffentlicht werden, erscheint Bree als zurückhaltende, mitunter naive Jugendliche, die unter der strengen Kontrolle ihrer Eltern steht. Sie wird zu Hause unterrichtet, verlässt kaum das Haus und darf nur mit wenigen Menschen in Kontakt treten. Eine dieser Ausnahmen ist ihr bester Freund Daniel. Im Laufe der Zeit nehmen ihre Erzählungen über die eigenen religiösen Überzeugungen sowie über die nicht näher benannte Glaubensgemeinschaft ihrer Eltern zunehmend Raum ein. Bree berichtet etwa von einer rätselhaften Zeremonie, an der sie teilnehmen soll.
First Blog/Dorkiness Prevails (lonelygirl15, 16.06.2006)
Zu gut, um echt zu sein?
Parallel zur wachsenden Popularität der Serie mehren sich innerhalb der Community Zweifel an der Echtheit der Geschichte(n). Das stets perfekte Make-up, die saubere Schnittführung und der sich langsam steigernde Spannungsbogen wecken den Verdacht, dass es sich nicht um spontane Aufnahmen eines Teenagers handeln kann. Bald kursieren zudem erste Gerüchte, Bree sei in Santa Monica gesichtet worden, obwohl sie angibt, in der US-amerikanischen Provinz zu leben.
Der 18-jährige Matt Foremski, Sohn eines Internetjournalisten, beginnt daraufhin zu recherchieren. Er stößt auf das Foto einer jungen Frau, die Bree zum Verwechseln ähnlich sieht, untertitelt ist es jedoch mit dem Namen Jessica Rose. Ende August 2006 entdecken drei andere Nutzende, dass sowohl eine Domain- als auch eine Markenregistrierung für „lonelygirl15“ existieren. Beide wurden eingetragen, bevor das erste Video überhaupt veröffentlicht wurde. Am 7. September 2006 fasst ein Artikel der Los Angeles Times die bisherigen Recherchen zusammen und bestätigt: Bree ist eine fiktive Figur und ihre Erlebnisse sind Teil einer inszenierten Narration. Es ist der erste große Vorfall dieser Art, der die bis dahin idealistische YouTube-Community erschüttert.
Gemeinsame Erzählung(en)
Wie sich herausstellt, stecken hinter dem Projekt der ehemalige Medizinstudent Miles Beckett und der Drehbuchautor Mesh Flinders. Auf einer Party erfinden sie die Geschichte des einsamen Mädchens aus dem Internet und entwickeln eine passende Veröffentlichungsstrategie. Später stößt noch der Anwalt Greg Goodfried hinzu, der sich um die rechtlichen Fragen kümmert. Gemeinsam casten sie die 19-jährige Schauspielstudentin Jessica Rose für die Rolle der Bree. Die Clips werden mit einfachsten Mitteln gedreht. Zwei Schreibtischlampen, ein Fenster als natürliche Lichtquelle und eine Digitalkamera für 130 Dollar reichen aus, um die anfängliche Illusion von lonelygirl15 zu erschaffen.
Ihre innovative Idee besteht darin, gezielt Techniken des Internets zu nutzen, um den Charakteren eine umfassende Identität zu verleihen und dem Publikum zu ermöglichen, mit ihnen in Kontakt zu treten. So erscheint Bree nicht nur in den YouTube-Videos, ihr Profil ist zudem in Social-Media-Netzwerken zu finden. Sie postet Beiträge in Foren, reagiert auf Kommentare und lässt sich in Livechats von ihren Fans beraten. Und die Community macht fleißig mit. Den rund 30 Videos von lonelygirl15 stehen bald Hunderte Clips gegenüber, in denen andere YouTuber:innen auf die Beiträge des Mädchens reagieren. Dazu kommen Tausende Kommentare, Foreneinträge und Chatunterhaltungen mit und über Bree.
Welchen Effekt diese Interaktionen auf die Geschichte haben können, erläutert Miles Beckett an einem Beispiel. So wird nach einem Video, das Bree und Daniel beim Bergsteigen zeigt, eine eventuelle Verliebtheit von Daniel intensiv diskutiert. Die Vermutung ergibt sich aus der Art, wie Daniel Bree gefilmt hat. Eigentlich eine zufällig entstandene Aufnahme, die von vielen Fans jedoch als ein verliebter Blick interpretiert wird. „Wir haben die Kommentare gesehen und gesagt: Das ist die perfekte Gelegenheit, dies aufzunehmen“ (zit. nach Rushfield/Hoffman 2006). Schon im nächsten Clip berichtet Bree davon, wie sie Daniel mit der Vermutung konfrontiert und er dies bejaht habe. „Kollaboratives Storytelling“ (ebd.) nennt Beckett diesen Ansatz, der für ihn nur im Internet und nicht etwa im Fernsehen umsetzbar wäre. Ein revolutionäres Konzept, das bei lonelygirl15 erstmals so konsequent und erfolgreich umgesetzt wird.
Unscharfe Konventionen
Die Entlarvung von Bree ruft in der Community große Empörung hervor, die teils in Hass umschlägt. In vielen Kommentaren bringen Nutzende zum Ausdruck, dass sie sich betrogen fühlen. Der Fall lenkt den Fokus auf das, was Jean Burgess und Joshua Green als emblematisch für YouTube charakterisieren: eine allgegenwärtige „unscharfe Grenze zwischen professionellen und amateurhaften Produktionspraktiken“ (Burgess/Green 2009, S. 95). Seit den Enthüllungen um lonelygirl15 besteht kein Zweifel daran, dass „die Möglichkeit einer unechten Authentizität zum kulturellen Repertoire von YouTube gehört“ (ebd.).
In akademischen Auseinandersetzungen entfacht derweil ein Diskurs über die Aushandlungsprozesse von Authentizität in Internetgemeinschaften. So erklärt Eggo Müller die Enttäuschung vieler Fans damit, „dass die rezeptionsseitig als sozial aufrichtig und verbindlich erfahrene ‚para-soziale‘ Beziehung ein reines Kunstprodukt war. Damit haben die Macher von Lonelygirl15 gegen implizit unterstellte Kommunikationsmaximen verstoßen, an die sie sich gemäß den Konventionen von Videoblogs und ihrem Ethos gleichberechtigter, aufrichtiger Kommunikation hätten halten müssen“ (Müller 2011, S. 244 f.).
Authentizität als mediale Praktik
Was Müller noch vage als einen Verstoß gegen „implizit unterstellte Kommunikationsmaximen“ beschreibt, konkretisiert der Kulturanthropologe Torsten Näser in einem Aufsatz. Das Empfinden von Authentizität beschreibt er darin als einen zwischen einem (medialen) Angebot und seinen potenziellen Rezipient:innen bestehenden Vertrag, dessen Abschluss an eine Reihe von Variablen und Authentizitätssignalen geknüpft ist. Diese Vorboten könnten sich sowohl auf das Angebot als solches als auch auf den Inhalt des betreffenden Videos beziehen und basieren auf bereits gemachten Erfahrungen, erlernten Mustern und suggerierten Versprechungen. Als Anhaltspunkte und Signale, die eine Authentizitätserfahrung in Aussicht stellen, identifiziert Näser eine Reihe von Strategien, die typischerweise in YouTube-Vlogs verwendet werden: „In Hinblick auf die audiovisuelle Suggestion von Authentizität lassen sich hier eine in der Farb- und Schattierungswiedergabe nicht zu perfekte, amateurhafte Webcam-Optik nennen sowie eine fast schon stereotype, meist halbnahe Einstellungsgröße, die den sich an die Community wendenden Nutzer – scheinbar am Schreibtisch vor dem PC sitzend – etwa bis zur Höhe des Bauchnabels zeigt. […] Der Ton ist oft mäßig und eine editierende Nachbearbeitung erfolgt in der Regel nicht“ (Näser 2008, S. 6).
Neben solchen Gesten der Imperfektion, die eher die Bild- und Audiogestaltung betreffen, gehören bei (Video-)Tagebüchern ebenso inkludierende „Handlungs- und Kommunikationspraktiken“ (ebd.), die ein Interesse und einen Wunsch nach Interaktion mit den User:innen zum Ausdruck bringen. Werden die vorab entstandenen Erwartungshaltungen bei der Rezeption jedoch nicht eingelöst, erfüllt sich auch der Authentizitätsvertrag nicht und das Video wird als nicht authentisch empfunden. Authentizität ist demzufolge nicht als ein Zustand zu verstehen, dem eine vermeintlich echte Wirklichkeit gegenübersteht, sondern eher als eine mediale Praktik, die als solche gelesen und gegenseitig angenommen werden muss. Sie ist – wie Felix Stalder ergänzt – nicht einfach vorzufinden, sondern wird aktiv und bewusst (re)produziert: „Es geht also nicht um die Errettung, sondern um die Schaffung von Authentizität. Diese ist damit nicht essentialistisch, sondern performativ zu verstehen“ (Stalder 2011).
The (Web-)Show must go on
Nach der Enthüllung folgen noch etwa 230 Episoden, die das Schicksal von Bree fortschreiben. In ihnen zeigt sich, dass die Eltern einer kultischen Gemeinschaft namens „Der Orden“ angehören, die an die heilenden Kräfte einer bestimmten Blutgruppe glaubt. Es ist jene Blutgruppe, die auch Bree in sich trägt. Dies führt schließlich zu den eingangs zitierten Szenen und zum Tod von Bree. Das dramatische Finale erstreckt sich über zwölf Episoden, die in Form einer Eventprogrammierung an einem Tag im Abstand von jeweils einer Stunde veröffentlicht werden. Diesmal nicht direkt auf YouTube, sondern auf der Plattform MySpace.
Für viele Nutzende erwächst aus der vermeintlichen Schummelei offenbar kein Grund, sich von den Videos abzuwenden. Im Gegenteil, die einzelnen Videos erreichen nun zuverlässig zwischen 300.000 und 700.000 Aufrufe binnen einer Woche. Tausende verfolgen die weiteren Ereignisse auch über die mittlerweile neu geschaffene eigene Webseite und diskutieren dort ebenso engagiert wie zuvor.
Dafür mag die dargebotene Mischung aus verbotener Liebe, Teenagedrama und Mystery, insbesondere bei jüngeren Menschen, verantwortlich sein. Vor allem aber profitieren die Macher davon, dass sie sich nach ihrer Enttarnung als schlichte YouTube-Nutzer inszenieren, denen ihr Projekt lediglich etwas aus dem Ruder gelaufen ist. In einem offiziellen Statement, das sie direkt nach der Enthüllung teilen, heißt es nämlich: „Wir möchten, dass ihr wisst: Wir sind kein großer Konzern. Wir sind wie ihr – ein paar Leute, die gute Geschichten lieben. Wir hoffen, dass ihr uns in der fortlaufenden Geschichte von Lonelygirl15 begleitet und uns helft, eine Ära des interaktiven Erzählens einzuleiten, in der die Grenze zwischen ‚Fan‘ und ‚Star‘ aufgehoben ist – und engagierte Fans wie ihr für ihre Beiträge bezahlt werden. Dies ist eine unglaubliche Zeit für den Creator in uns allen“ (zit. nach Heffernan 2006).
Mit der Zusicherung, sich weiterhin als Teil der Gemeinschaft zu verstehen und nicht aus niederen finanziellen Gründen gelogen zu haben, bitten sie die Community um Vergebung. Schließlich haben sie sich einem höheren, ehrenvollen Ziel verschrieben, von dem die gesamte Szene profitieren soll. Durch dieses als ehrlich empfundene Verhalten gelingt es ihnen bei vielen Nutzenden, den einst abgeschlossenen Authentizitätsvertrag vor einer Kündigung zu bewahren. Man einigt sich darauf, die anfängliche Täuschung als Nebensächlichkeit einzustufen und schlicht auszublenden.
Literatur:
Burgess, J./Green, J.: The Entrepreneurial Vlogger: Participatory Culture Beyond the Professional-Amateur Divide. In: P. Snickars/P. Vonderau: The YouTube Reader. Stockholm 2009, S. 89–107.
Heffernan, V.: ‚who is interested in a story when all your investment in the characters within is false‘. In: The New York Times. The Medium – The Way We Watch Now, 07.09.2006. Abrufbar unter: archive.nytimes.com (letzter Zugriff: 06.05.2025
lonelygirl15: First Blog / Dorkiness Prevails. In: YouTube, 16.06.2006. Abrufbar unter: www.youtube.com (letzter Zugriff: 06.05.2025)
lonelygirl15 (2007a): Lonelygirl15 Season Finale 10 of 12 -- 5pm. In: YouTube, 06.08.2007. Abrufbar unter: www.youtube.com (letzter Zugriff: 06.05.2025)
lonelygirl15(2007b): Lonelygirl15 Season Finale 11 of 12 -- 6pm. In: YouTube, 06.08.2007. Abrufbar unter: www.youtube.com (letzter Zugriff: 06.05.2025)
Müller, E.: Not only Entertainment. Studien zur Pragmatik und Ästhetik der Fernsehunterhaltung. Köln 2011.
Näser, T.: Authentizität 2.0: Kuturanthropologische Überlegungen zur Suche nach ‚Echtheit‘ im Videoportal YouTube. In: kommunikation@gesellschaft 9/2008. Abrufbar unter: https://d-nb.info (letzter Zugriff: 06.05.2025)
Rushfield, R./Hoffman, C.: Lonelygirl15 Video Blog Is Brainchild of 3 Filmmakers. In: Los Angeles Times, 13.09.2006. Abrufbar unter: www.latimes.com (letzter Zugriff: 06.05.2025)
Stalder, F.: Who’s afraid of the (re)mix? Autorschaft ohne Urheberschaft. In: Archithese, 4/2012, S. 60 ff. Zitiert wird aus einer Onlineveröffentlichung des Textes auf dem persönlichen Blog des Autors, der keine zitierfähigen Seitenzahlen enthält. Abrufbar unter: felix.openflows.com (letzter Zugriff: 06.05.2025)