Ist der Egoismus Feind oder Freund des Gemeinwohls?

Wolfgang Schmidbauer

Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor, Psychoanalytiker und Paartherapeut in München.

Die zentrale psychologische These zu der Frage, ob sich Egoismus und Gemeinwohl versöhnen lassen, lautet: unter entspannten, geordneten Verhältnissen sehr wohl. In Zuständen von Angst, Panik, sozialem Druck nicht mehr.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97), S. 35-37

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Mitten in der Pandemie ein Termin beim Steuerberater. Unterschriften sind fällig. Auf dem Tisch im Besprechungsraum läuft ein großer Luftfilter; der Berater wirkt bedrückt. „Ich verstehe das nicht“, erklärt er, „ich habe Mandanten, deren Umsatz in der Pandemie sogar gewachsen ist. Und trotzdem wollen sie die Entschädigung nicht zurückzahlen, die sie anfangs beantragt haben. So viel Raffgier ist mir bisher nicht begegnet!“

Vielen Beobachtern fiel auf, wie sich die Stimmung der Menschen im Lauf der Pandemie verändert hat. Zu Beginn dominierte eine überraschende Solidarität, es wurde von Balkonen Beifall geklatscht, in Treppenhäusern wurde dem älteren Mitbewohner angeboten, für ihn einkaufen zu gehen. Als die Bedrohung durch die Pandemie wiederkehrte und sich durch eine bösartige Mutante noch gesteigert hatte, bröckelte die Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Vorwürfe vergifteten öffentliche Debatten. Wer vom Staat Geld bekommen hatte, um das schlechte Geschäftsklima abzuwettern, krallte sich an der Gabe fest.

Noch bündiger bringt ein Unglückstag in Israel den Zusammenhang auf den Punkt. Wenn Menschen genügend Raum und Ruhe haben, einen Feiertag zu genießen, stehen sich Egoismus und Gemeinwohl nicht im Weg. Wenn aber eine Panik ausbricht und sich zu viele Menschen durch einen Engpass drängen, denkt jeder nur noch so verblendet an sein eigenes Durchkommen, dass Schwächere zu Tode gedrückt und getreten werden.

Solche Szenarien begründen die zentrale psychologische These zu der Frage, ob sich Egoismus und Gemeinwohl versöhnen lassen: unter entspannten, geordneten Verhältnissen sehr wohl. In Zuständen von Angst, Panik, sozialem Druck nicht mehr.

Die Beobachtung der Natur lehrt uns ebenso wie die Selbstbeobachtung, dass der natürlichen Auslese das Wohlbefinden des Individuums gleichgültig ist. Das ist eine tiefe Kränkung, die an dem gütigen Schöpfergott zweifeln lässt und den Volksglauben zwingt, ihm einen Teufel gegenüberzustellen, der Stechmücken, Wespen, Coronaviren und jene Unzahl weiterer Übel erschaffen hat, die uns plagen.
 


Die Beobachtung der Natur lehrt uns ebenso wie die Selbstbeobachtung, dass der natürlichen Auslese das Wohlbefinden des Individuums gleichgültig ist.



Die Scholastiker haben sich gefragt, ob es im Paradies schon Stechmücken und Giftschlangen gab. Wir können hinzusetzen, dass die hebräische Mythologie eine tiefe Wahrheit offenbart, indem sie die Unbekömmlichkeit der Erkenntnis betont. Diese schafft innere Gefahren, auf die eine im Kampf gegen äußere Feinde entwickelte Intelligenz keine Antworten findet. Je mehr technische Kompetenz wir anhäufen, desto schwerer wird es auch, Ohnmacht zu ertragen. Die Manie der Machbarkeit zeugt als charakteristische Krankheit des 21. Jahrhunderts die Depression.

Wer wilde Tiere beobachtet, wird herausfinden, dass Angst überaus mächtig ist. Womit sie sich auch beschäftigen, ein Teil ihrer Aufmerksamkeit gilt immer möglichen Gefahren. Sie sind bereit, alle anderen Aktivitäten aufzugeben, sobald sie etwas wahrnehmen, das gefährlich sein könnte, und sich auf diese Gefahr einzustellen. Selbst die größten Raubtiere, die keine natürlichen Feinde haben, tragen diese Angstbereitschaft noch in sich, sonst könnten sie nicht dressiert werden.

Auch das menschliche Ich ist in seinen Anfängen ein Zentrum der Kunst des Überlebens. Angst ist die Energie, die es in Betrieb hält, Schmerz der Wächter, der die Angst weckt. Vernunft und Mitgefühl sind späte Errungenschaften des menschlichen Geistes. Wenn es dazu kommt, dass die Angst vor Einbußen an Sicherheit und Komfort stärker ist als die Verantwortung für das Wohlergehen aller Lebewesen, wird die Menschheit den Planeten und damit sich selbst ruinieren.
 

Die Entwertung des Egoismus

Wer sich mit den Aussagen der großen Denker beschäftigt, entdeckt bald, dass sie eine Entwertung des Egoismus ablehnen, die unter frommen und/oder militaristischen Gemütern so beliebt ist. Vor allem fällt in jeder gründlicheren Reflexion auf, wie oft die Rede vom Egoismus der anderen eigensüchtige Interessen verbirgt. Der Spötter Ambrose Bierce formuliert das so: „Ein Egoist ist ein unfeiner Mensch, der für sich mehr Interesse hat als für mich.“

Wenn in der Paaranalyse ein Partner dem Gegenüber Egoismus vorwirft, wird nur der Aggressionsgehemmte darauf verzichten, das Geschoss zurückzuschleudern: Und wenn ich meinen Egoismus aufgebe, dient das doch nur deinem Egoismus!
 

Sie schelten einander Egoisten;
Will jeder doch nur sein Leben fristen.
Wenn der und der ein Egoist,
So denke, daß du es selber bist.
Du willst nach deiner Art bestehn,
Mußt selbst auf deinen Nutzen sehn!
Dann werdet ihr das Geheimnis besitzen,
Euch sämtlich untereinander zu nützen;
Doch den laßt nicht zu euch herein,
Der andern schadet, um etwas zu sein.


So Johann Wolfgang von Goethe in den Zahmen Xenien. Egoismus ist universell; problematisch wird er erst, wenn andere im Dienst des eigenen Ich Schaden leiden. Nicht weniger nachdenklich Lew Nikolajewitsch Tolstoi in den Tagebüchern von 1907: „Alle Welt verurteilt den Egoismus. Egoismus aber ist das Grundgesetz des Lebens. Es kommt nur darauf an, was man als sein Ego anerkennt.“

Egoismusschelte wurzelt in Machtbedürfnissen. Wer bestimmen kann, was der Gemeinnutz ist, kann den Eigennutz derer aushebeln, die ihm folgen. In der Wirtschaft ist der Homo oeconomicus ein gemäßigter Egoist. Er verfolgt scham- und schuldlos die eigenen Interessen, aber er respektiert auch, dass andere ebenso handeln, und unterwirft sich der Marktordnung.

Eine Frau bleibt bei dem Mann, der sie schlägt. Sie denkt von sich und von ihm: Es geschieht aus Liebe, es wäre egoistisch, sich zu trennen. Sie behandelt ihn wie ein Kind, indem sie ihm verzeiht; er behandelt sie wie ein Ding und behauptet vielleicht sogar, sie so sehr zu lieben, dass er sich eben nicht beherrschen könne.

Das letzte Beispiel zeigt, dass es kaum eine Eigenschaft gibt, die so vieldeutig ist, die so oft verleugnet und schöngeredet wird wie der Egoismus. Der Vers von dem Menschen, der „anderen schadet, um etwas zu sein“, steht für eine Dynamik, die manchmal mit Egoismus im schlechten Sinn identifiziert wird, die aber genauer als narzisstischer Neid beschrieben werden sollte. Im Narzissmus geht es nicht um den Eigennutz im materiellen Sinn, sondern um Selbstliebe und soziale Anerkennung. In diesem Widerspruch von Narzissmus und Egoismus wurzeln die vielen Lügen und Ausreden, die den Egoismus in nach dem gesellschaftlichen Wertesystem „höher stehende“ Motive umformen möchten.
 


Im Narzissmus geht es nicht um den Eigennutz im materiellen Sinn, sondern um Selbstliebe und soziale Anerkennung.



Narzissmus ist für die Nervenheilkunde von dem deutschen Psychiater Paul Näcke entdeckt worden; er hatte seine Klassiker gelesen und aus Ovids Metamorphosen die Geschichte von dem in sein Spiegelbild verliebten Jüngling aufgegriffen. Er beschreibt Narzissmus als Perversion: eine sexuelle Besetzung des eigenen Körpers, die eher Frauen als Männer plagt und sich darin äußert, dass der Anblick von Körperteilen oder eines Spiegelbildes sexuell erregend wirkt und Selbstbefriedigung induziert.

Die Störung sei extrem selten, bemerkt Näcke. Er gibt an, sie unter 1.500 untersuchten Psychiatrie-Patienten nur einige Male gefunden zu haben. Das liegt daran, dass Näcke ausdrücklich fordert, Narzissmus und Eitelkeit zu unterscheiden; Narzissmus liege nur vor, wenn jemand ausschließlich durch den Anblick des eigenen Körpers zum Orgasmus gelange.

Freud macht nun aus einer seltenen Perversion ein universelles Stadium der Entwicklung. Wir alle waren demnach zu Beginn unserer Entwicklung „Narzissten“. Die Annahme eines primären Narzissmus lässt uns seelische Merkmale von Kindern verstehen, deren Muster sich auch bei Zwangskranken und im Größenwahn finden – der Glaube an die „Allmacht der Gedanken“, an die Zauberkraft der Worte, an die Magie schlechthin.

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung wird in dem heute am meisten gebrauchten Klassifikationssystem der WHO, dem ICD 10, unter „andere spezifische Persönlichkeitsstörungen (F 60.8)“ aufgeführt. Narzissten sind immer auf der Suche nach Bewunderung und Anerkennung, wobei sie anderen Menschen wenig echte Aufmerksamkeit schenken. Sie beanspruchen eine Sonderstellung, ohne sie sich verdienen zu können, zeigen ausbeutendes Verhalten und einen Mangel an Empathie.

Sie zerstören oft aus Neid, was begabtere Menschen aufgebaut haben. Zudem zeigen sie eine auffällige Empfindlichkeit gegenüber Kritik, die in ihnen Gefühle der Wut, Scham oder Demütigung hervorruft. Sie bauen sich illusionäre Szenarien vom Typus des verkannten Genies, des durch Intrigen um Reichtum, Rang und Geltung gebrachten Opfers auf.

Die Häufigkeit in der Gesamtbevölkerung wird auf etwa 1 % geschätzt. Wie bei anderen psychiatrischen Diagnosen auch kann sich dieser Wert, je nach den Vorlieben des Diagnostikers, halbieren oder verdoppeln. Der Übergang zur Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ist fließend.
 


Wir Menschen sind ziemlich wehrlos gegen die Strukturen, die wir selbst geschaffen haben. Wir waren nicht darauf vorbereitet, in einer von Besitzansprüchen beherrschten Welt zu leben.



Schwankungen im diagnostischen Urteil wurzeln bei näherer Betrachtung nicht allein in den Persönlichkeitsproblemen der Beurteilten, sondern in deren Wechselwirkung mit den Problemen der Urteilenden. Solange ein Mensch mit einer narzisstischen Problematik den Arzt idealisiert und anerkennt, leidet er in dessen Augen an einer psychotherapeutisch behandelbaren, neurotischen Depression. Sobald aber derselbe Kranke mit dem Arzt rivalisiert und dessen Hilfe entwertet, diagnostiziert dieser eine narzisstische Persönlichkeit.

Wir Menschen sind ziemlich wehrlos gegen die Strukturen, die wir selbst geschaffen haben. Wir waren nicht darauf vorbereitet, in einer von Besitzansprüchen beherrschten Welt zu leben, und wir leben gegenwärtig sehr riskant, weil wir sie nicht loslassen können. Wir werden erzogen, unser Eigentum zu verteidigen. Mammon ist der mächtigste Gott; er setzt sich durch, wie das Schicksal aller Versuche in den etablierten Religionen zeigt, sich gegen ihn zu reformieren. Der heilige Franziskus predigte Armut und verschenkte seine Habe. Aber die Oberen des Franziskanerordens gründeten nach seinem Tod mächtige Klöster und sammelten große Reichtümer.

Buddha lebte wie Franziskus als Bettler, seine Schüler bauten prächtige Klöster.


Die Kultur des Teilens

Die Sehnsucht nach einer Kultur des Teilens wird in dem Wort vom „Bettler“ beschämt und entwertet. Aber sie hat den Menschen nie verlassen und erinnert bis heute in vielen Legenden an den ritterlichen Helden, der teilt, was er besitzt. Nur finden wir nicht in die Strukturen zurück, die den Einzelnen darin unterstützen. Sankt Martin ist ein Heiliger, der Pygmäe, der den Elefanten allein essen will, ein Narr.

Der Eigentumsgedanke wirkt wie ein Pflock, der die mitgebrachte Bereitschaft des sozial so begabten und bedürftigen Homo sapiens an die Kette legt und ihn ernstlich behindert, sein Glück im Teilen zu finden. Wir brauchen es im Grunde nicht zu erlernen, den Blick eines Mitmenschen, vor allem eines Kindes zu deuten, wenn wir etwas essen. Wenn wir die Fähigkeit nicht verloren haben, Kontakt als Glücksbringer zu erleben, werden wir spontan den Impuls verspüren, etwas von dem abzugeben, was wir gerade verspeisen. Andernfalls müssen wir uns mitsamt unserem Genuss verstecken.

Ich gehe ein wenig stumpf und trübsinnig zum Einkaufen. Aus einem Auto mit italienischem Kennzeichen spricht mich eine Frau in gebrochenem Deutsch an, will den Weg zum Chinesischen Turm im Englischen Garten wissen. Ich antworte in leidlichem Italienisch, erkläre den Weg, sehe in strahlende Augen, heimse Komplimente ein, lege den Rest des Weges in weit besserer Stimmung zurück.

Eine solche Szene ist banal und bezaubernd zugleich. Es macht glücklich, zu teilen. In Augenblicken, in denen Menschen spontan Kontakt aufnehmen und freundschaftlich-liebevoll miteinander umgehen, fallen Egoismus und Gemeinnutz zusammen, ohne dass eine ethische Überlegung notwendig ist.