„It’s complicated and it depends.“

Wirkungspotenziale von kurzen Formen

Daniela Schlütz

Dr. habil. Daniela Schlütz ist Professorin für Theorie und Empirie digitaler Medien an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF und dort verantwortlich für den Studiengang „Digitale Medienkultur“.

Dieser Beitrag setzt sich mit den Besonderheiten kurzer Formen – Programmtrailer, Musikvideos und Werbeclips – und dem daraus resultierenden Wirkungspotenzial auseinander. Neben theoretischen Erwägungen wird eine Analyse von Prüfentscheidungen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) herangezogen, um Wirkungsdimensionen zu systematisieren, aus denen sich Entscheidungskriterien für die Bewertung kurzer Formen ableiten lassen.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 1/2020 (Ausgabe 91), S. 86-89

Vollständiger Beitrag als:

Kurze Formen wie Programmtrailer, Musikvideos und Werbeclips bieten, in den Worten von Charlotte Jensen (2014), ästhetische Erfahrung mit pragmatischem Zweck (S. 113). Konkret verfolgen sie in der Regel eine werbliche Intention, sei es für eine Sendung, einen Song oder ein Konsumprodukt. Um diese Intention zu realisieren, arbeiten kurze Formen u.a. mit Heuristiken bei der Informationsverarbeitung. So setzen sie z.B. auf Klischees und Stereotype, um Komplexität zu reduzieren. Durch die Aktivierung von Schemata oder Skripten werden Informationen reibungsloser verarbeitet, weil Leerstellen im Text von den Rezipientinnen und Rezipienten ergänzt werden. Die Kontextualisierung erfolgt mittels Welt- und Medienwissen. Solche Wissensbestände werden u.a. aus Paratexten gespeist (Gray 2010). Paratexte sind inhaltlich verknüpfte Medienangebote wie z.B. ein Musikvideo und das entsprechende Instagram-Profil der Künstlerin oder des Künstlers, passende Fan-Art oder die Anschluss­kommunikation in entsprechenden Foren. Diese Form der intertextuellen Vernetzung (Bock 2013, S. 58 ff.) ergänzt Bedeutungsaspekte, hat aber auch ökonomischen Nutzen (etwa Publikumsbindung, Marketing, Franchise). Der Informationswert kurzer Formen wird also durch das Vorwissen des Publikums ergänzt (Johnston u.a. 2016): „The text begins before the text“ (Gray 2008, S. 46).

Kontext kann produktionsseitig auch bewusst mithilfe spezifischer Genre-Cues getriggert werden (Jensen 2014). Cues wie Attribute des Gangsta-Styles, der Macho-Kultur oder visuelle Geschlechterklischees in Deutschrap-Videos aktivieren beispielsweise bestimmte Schemata, die Informationsverarbeitung steuern und spezifische Lesarten nahelegen. Diese müssen natürlich nicht unbedingt vom Publikum realisiert werden, auch alternative Interpretationen wie etwa eine ironische Lesart sind möglich. Wenn man davon ausgeht, dass Medienrezeption immer ein Interaktionsprozess zwischen Text und Zuschauerin bzw. Zuschauer ist (Mikos 2001), kann man trotz der kurzen Dauer und der spezifischen, häufig fragmentarischen Dramaturgie nicht generell von einer „extremen Kontextarmut“ (Grimm 2006, S. 65) kurzer Formen sprechen. Das liegt zum einen daran, dass kurze Formen häufig intentional para- bzw. intertextuelle Effekte einsetzen, die dieser Kontextarmut entgegenwirken. Eine Diskussion um potenzielle Medienwirkungen sollte den Einfluss von Paratexten daher berücksichtigen (Gray 2008, S. 47). Auch triggern kurze Formen häufig Primäremotionen durch eine kondensierte, genretypische Form mit Fokus auf einer basalen emotionalen Tönung, die ebenfalls eine bestimmte Interpretation nahelegt (Jensen 2014, S. 120). Zum anderen nutzen Jugendliche kurze Formen (insbesondere Musikvideos) vielfach aktiv, habituell und transmedial. Sie bringen entsprechende Wissensbestände daher häufig mit, wenn sie kurzen Formen im Fernsehen begegnen.
 


Die individuelle Lesart bedingt das Wirkungspotenzial.



Gehen wir also von einer konstruktiv-interpretierenden Rezeption als Basis persuasiver Effekte aus, so ist nicht allein die Formalstruktur (Bild und Ton) eines Trailers relevant für dessen Wirkung. Vielmehr muss der Verstehens- und Interpretationsprozess, also die Konstruktion von Situations- und Charaktermodellen, der Einsatz von Wissensstrukturen (Schemata) und die Kontextualisierung durch Wissensbestände (Weltwissen, Genrewissen etc.) berücksichtigt werden (vgl. Schlütz 2016). Die individuelle Lesart bedingt das Wirkungspotenzial. Die ist wiederum stark von den lebensweltlichen Bezügen und Charakteristika der rezipierenden Person abhängig. Die Prüfpraxis trägt dieser Überlegung durch den Fokus auf die „Gefährdungs­geneigten“ Rechnung.

Zusammengenommen kann man kurze Formen also als narrative Konzentrate verstehen, die eine persuasive Intention verfolgen und dafür wirkungsverstärkende Effekte einsetzen (z.B. erfolg­reiche Modelle, sympathische Figuren oder narrative Effekte; vgl. Bandura 2001; Green/Brock 2000; Moyer-Gusé 2008). Sie arbeiten mit Cues, die auf Klischees und Genre­konventionen zurückgreifen und dadurch heuristische Informations­verarbeitung (via Schemata und Skripte) begünstigen. Kurze Formen setzen auf affektive Primes, die Primär­emotionen auslösen. Ihre Wirkung wird verstärkt durch para­textuelle Effekte, die der inhärenten Kontext­armut entgegen­wirken. Beides führt zu einem gesteigerten Audience Engagement unter der moderierenden Bedingung des Involvements (z.B. indiziert durch selektive Exposition).
 

Beurteilungsdimensionen der Prüfpraxis

Um zu ermitteln, wie diese theoretischen Überlegungen in die Prüfpraxis einfließen können, wurden FSF-Prüfentscheidungen zu kurzen Formen analysiert, um die Beurteilungsdimensionen der Prüfpraxis zu erfassen. Im Zusammenspiel mit den theoretischen Überlegungen war das Ziel, systematisch potenziell wirkungsmindernde bzw. ‑verstärkende Aspekte abzuleiten. Insgesamt wurden 21 Prüfentscheidungen zu kurzen Formen analysiert. Davon beschäftigten sich je neun mit Musikvideos (u.a. von Gzuz, K.I.Z oder Rammstein) bzw. Programmtrailern (etwa für jerks., The Walking Dead) und drei mit Werbespots (z.B. für eine Versicherung und einen Erotikshop). Die Prüfentscheidungen waren mehrheitlich einstimmig (zwölf von 21) und ergaben 14‑mal eine Freigabe ab 12 Jahren, viermal ab 16 Jahren, zweimal ab 18 Jahren und einmal ohne Einschränkung. Folgende Beurteilungsdimensionen ließen sich systematisieren.
 



1. Die erste Beurteilungsdimension ist „Form und Kontext“. Damit ist die Textbasis (Bild und Ton) angesprochen. Wirkungsverstärkend schlägt hier zunächst eine längere Dauer zu Buche. So ist das Wirkungspotenzial eines 20-sekündigen Werbespots weniger ausgeprägt als das eines Musikvideos von über 4 Minuten Dauer. Relevant ist zudem das Zusammenwirken der audiovisuellen Komponenten der Oberflächenstruktur: Ist es additiv und damit verstärkend oder komplementär/brechend und damit wirkungsmindernd? Insbesondere bei Musikvideos ist die Textebene (Lyrics) allerdings häufig nicht ohne Zuhilfenahme weiterer Quellen zu entschlüsseln. Zur Beurteilung der Wirkung wäre das aber sinnvoll. Das gilt auch für Kontextinformationen, die sich aus den intertextuellen Verweisen ergeben. So könnte man prüfen, ob verbundene Paratexte existieren: Hat der Rapper Gzuz beispielsweise ein Instagram- oder Facebook-Profil oder einen YouTube-Kanal? Wie viele Follower hat er? Wie umfangreich sind die Informationen, die man über Rammstein im Internet findet? Diese Informationen lassen natürlich keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Wirkung des jeweiligen Clips zu, aber sie vermitteln eine Idee möglicher Kontext­effekte und ihrer potenziellen Wirkung (wie z.B. der Bekanntheit der Künstlerin oder des Künstlers, vgl. Punkt 2).
 



2. Weiterhin ist die inhaltliche Ebene des Clips interessant, d.h. „Figurenkonstellation und Dramaturgie“: Sind die Protagonistinnen und Protagonisten aus anderen Bereichen bekannt? Wenn ja, kann man von einer Wirkungsverstärkung ausgehen, weil durch die Paratexte bereits eine Bindung an die Figuren stattgefunden haben kann, die dann durch die kurzen Formen getriggert wird. Weiterhin sollte geprüft werden, ob Identifikationsangebote gemacht werden, die potenziell effektverstärkend wirken können. Auf Ebene der Dramaturgie ist zu fragen, ob die Narration kontextuierend oder kontextarm ist, der Plot kohärent und nachvollziehbar (und damit potenziell wirkungsverstärkend) oder inkohärent/assoziativ. Damit einher geht die Frage, wie wahrscheinlich ein wirkungsverstärkender Transportationseffekt (also die Versenkung in den Text) ist. Ein wichtiger Aspekt ist hier auch, ob ein lebensweltlicher Bezug hergestellt wird (wie z.B. beim Programmtrailer zum Exorzisten) oder ob das nicht der Fall ist (wie bei der Darstellung einer südamerikanischen und damit für das deutsch sozialisierte Fernsehpublikum eher fremden Kultur im Video zum Song Kokain von Bonez MC & RAF Camora feat. Gzuz, wobei der explizite Bezug zur Netflix-Serie Narcos möglicherweise kontextualisierend wirkt bzw. wirken soll).
 



3. Schließlich können „stilistische Elemente“ der einzelnen Clips zur Beurteilung ihres Wirkungspotenzials berücksichtigt werden: Ist die Darbietung authentisch und damit potenziell wirkmächtig oder eher fiktional bzw. surreal (wie die mitsingenden Opfer im Musikvideo Boom Boom Boom von K.I.Z)? Wie häufig werden Stereotype, Klischees oder Genrekonventionen eingesetzt (wie in den meisten Deutschrap-Clips)? Ist dieser Einsatz aufdringlich/vordergründig oder zurückhaltend/diskret bzw. werden Distanzierungsangebote gemacht wie Brechung oder Humor (wie die relativierende Darbietung der Inhalte im jerks.-Trailer), Verfremdung oder künstlerische Überhöhung (wie z.B. der comicartige Stil bei Prinzessa von Capital Bra)? Quantität und Qualität des Einsatzes solcher Stilelemente ergeben, gemeinsam mit der Lesart der Zuschauerin oder des Zuschauers, das Wirkungspotenzial. Ein Musikclip wie ¿Was hast du gedacht? von Gzuz arbeitet beispielsweise durchgängig und weitgehend ungebrochen mit (visuellen wie textlichen) Stereotypen der Rapper-Szene wie Drogenkonsum, Waffenbesitz, harten Männern und nackten Frauen. Ob das ungebrochen beim Publikum ankommt oder doch eher belustigend wirkt, ist abhängig vom Individuum. Weitere stilistische Aspekte, die eine mögliche Wirkung verstärken können, sind emotionale Trigger (wie etwa die martialische Atmosphäre, die durch marschierende Soldaten im Rammstein-Video ausgelöst wird) und persuasiver Charakter/Suggestivkraft (wie die düstere Stimmung im Werbetrailer des Movie Parks Germany).
 



Fazit

Die Beurteilung des Wirkungspotenzials kurzer Formen ist kompliziert und von zahlreichen Einflussfaktoren abhängig. Da ist zum einen der Inhalt des Textes (also der Programmtrailer, das Musikvideo oder der Werbeclip), ergänzt um seine Paratexte, und zum anderen die Zuschauerin oder der Zuschauer und ihre bzw. seine Lebenswelt und sozialer Kontext. Bei der Prüfung kann zunächst nur der Text analysiert werden, wobei die Eigenschaften des Publikums – moderierende Variablen wie Medienkompetenz als Fähigkeit zur Decodierung problematischer Inhalte, Reflexionsfähigkeit bzw. Genrekenntnis, Sensibilität oder mit der angenommenen Reife (wobei das Alter in der Regel als Proxy dient) einhergehende Coping-Strategien (z.B. zur Angstbewältigung) – bei der Beurteilung möglicher Wirkungen stets mitgedacht werden. Das ist übliche FSF-Praxis, wie aus den Gutachten eindeutig hervorging. Auf Basis der theoretischen Überlegungen würde ich ergänzend empfehlen, stärker noch als bisher kontextualisierende Effekte intertextueller Vernetzung zu berücksichtigen (soweit das in der praktischen Arbeit überhaupt möglich ist).
 


Bei der Prüfung kann zunächst nur der Text analysiert werden, wobei die Eigenschaften des Publikums […] bei der Beurteilung möglicher Wirkungen stets mitgedacht werden.



Meine Ausführungen stehen daher in gewisser Weise im Widerspruch zu den „Essentials zur Trailerbewertung“ von Grimm (2006). So ist meines Erachtens nicht grundsätzlich von einer „Kontextarmut als spezifisches Trailermerkmal“ (ebd., S. 65) auszugehen, insbesondere nicht bei Musikvideos, die stets von einer Fülle von Paratexten umgeben sind und häufig auch aktiv selektiert werden (was für ein wirkungsverstärkendes Involvement spricht; vgl. Petty/Cacioppo 1986). Die Kenntnis von Paratexten kann sich außerdem positiv auf die Bindungen an die Figuren auswirken (so z.B. innerhalb der Fankultur), die dann auch schon bei kurzen Formen zum Tragen käme. Ergänzend spielen Mediatoren, also situativ wirksame Faktoren, eine Rolle, etwa die Art der Zuwendung (bewusst versus zufällig), die Selektionsmotivation (Information versus Unterhaltung), die Verarbeitungstiefe (zentral oder peripher), das Erkennen der Formalstruktur, der Einsatz von Wissensbeständen etc. Insgesamt ist die Beurteilung von Wirkungspotenzialen kompliziert und von einer Fülle von Faktoren abhängig. Die Prüfpraxis zeigt aber, dass der größte Teil davon routinemäßig berücksichtigt wird.

 


Literatur:

Bandura, A.: Social Cognitive Theory of Mass Communication. In: Mediapsychology, 3/2001, S. 265 – 299
Bock, A.: Fernsehserienrezeption. Produktion, Vermarktung und Rezeption US-amerikanischer Prime-Time-Serien. Wiesbaden 2013
Gray, J.: Television pre-views and the meaning of hype. In: International Journal of Cultural Studies, 1/2008/11, S. 33 – 49
Gray, J.: Show Sold Separately. Promos, Spoilers, and Other Media Paratexts. New York 2010
Green, M. C./Brock, T. C.: The Role of Transportation in the Persuasiveness of Public Narratives. In: Journal of Personality and Social Psychology, 5/2000/79, S. 701 – 721
Grimm, J.: Jugendschutzrelevanz von Programmtrailern aus Sicht der Medienwirkungsforschung. In: tv diskurs, Ausgabe 37, 3/2006, S. 64 – 69
Jensen, C. S.: Reduced Narration, Intensified Emotion: The Film Trailer. In: Projections: The Journal for Movies & Mind, 1/2014/8, S. 105 – 125
Johnston, K. M./Vollans, E./Greene, F. L.: Watching the trailer: Researching the film trailer audience. In: Participations: Journal of Audience & Reception Studies, 2/2016/13, S. 56 – 85
Mikos, L.: Rezeption und Aneignung: Eine handlungstheoretische Perspektive. In: P. Rössler/U. Hasebrink/M. Jäckel (Hrsg.): Theoretische Perspektiven der Rezeptionsforschung. München 2001, S. 59 – 71
Moyer-Gusé, E.: Toward a Theory of Entertainment Persuasion: Explaining the Persuasive Effects of Entertainment-Education Messages. In: Communication Theory, 3/2008/18, S. 407 – 425
Petty, R. E./Cacioppo, J. T.: Communication and Persuasion. Central and Peripheral Routes to Attitude Change. New York 1986
Schlütz, D.: Quality-TV als Unterhaltungsphänomen. Entwicklung, Charakteristika, Nutzung und Rezeption von Fernsehserien wie The Sopranos, The Wire oder Breaking Bad. Wiesbaden 2016