Jeder spricht für sich allein

Über die unterschätzte Kunstform der Synchronisation

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Die Synchronisation ausländischer Kinofilme oder TV-Serien ist vermutlich die einzige Kunstform, die für jeden Zuschauer offenkundig ist und die dennoch ein Dasein im Verborgenen fristet: weil sie meist nur dann wahrgenommen wird, wenn z.B. ein Hollywood-Star plötzlich eine „falsche“ Stimme hat. Das Projekt „Faces Behind the Voices“ hat den Synchronschauspielern, deren Arbeitsbedingungen sich in den letzten 15 Jahren deutlich verändert haben, nun ein Denkmal gesetzt.

Printausgabe tv diskurs: 20. Jg., 4/2016 (Ausgabe 78), S. 76-76

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Erster Schritt bei der Synchronisation etwa eines Kinofilms ist die Rohübersetzung. Hier wird noch nicht auf Lippensynchronität geachtet; es handelt sich um eine reine Übertragung des Originaldrehbuches, die allerdings auch mit Recherche verbunden sein kann, weil für Anspielungen oder Ähnliches deutsche Entsprechungen gesucht werden müssen. In einer guten Rohübersetzung gibt es dann eine Anmerkung, was gemeint ist und wie man in der deutschen Version verfahren könnte. Anschließend wird ein lippensynchrones deutsches Dialogbuch erstellt. Es folgt die Besetzung mit Stimmen, die dem Original gleichen oder dem Typ entsprechen; oberste Priorität haben naturgemäß die „Stammsprecher“. Bei Zeichentrickfilmen werden auch gern Comedystars als Sprecher engagiert, weil man mit deren Namen zusätzliche Werbung für einen Film machen kann.

Bevor die Sprecher im Tonstudio mit ihrer Arbeit beginnen, wird das Dialogbuch in kurze Abschnitte (Takes) unterteilt, um die Arbeit zu erleichtern. Diese sieben bis zehn Sekunden langen Textpassagen werden jeweils einzeln synchronisiert. Die Synchronschauspieler müssen nicht nur die Dialogzeilen auswendig können, sondern auch auf die Anweisungen von Regisseur und Schnittmeister achten, damit der Text so lippensynchron wie möglich gesprochen wird; das spart später viel Zeit in der Bearbeitung. Professionelle Sprecher schaffen in drei Stunden ca. 90 Takes. Im Durchschnitt hat ein Aufnahmetag rund 250 Takes. Ein kompletter Film variiert je nach Genre zwischen 900 bis 3.000 Takes. Die Regie ist dafür verantwortlich, dass das Dialogbuch lebendig umgesetzt wird. Eine Synchronisation ist dann misslungen, wenn Handwerk und Besetzung zwar in Ordnung sind, die Nuancen aber nicht so herausgearbeitet wurden, dass aus der Arbeit ein lebendiges Gesamtkunstwerk wird. Dann hat man als Zuschauer das Gefühl: „Der Film war nicht schlecht, aber irgendwas hat nicht gestimmt.“

Während sich früher bei Gesprächssituationen tatsächlich zwei oder drei Sprecher um ein Mikrofon gruppiert haben, spricht heute jeder für sich allein. Steht in einer Dialogszene eine der Figuren einige Meter von der Kamera weg, muss dieser Abstand auch akustisch zum Ausdruck kommen. Wenn sich eine Figur von der Kamera entfernt, wird ein entsprechender Surround-Effekt hergestellt. Ohnehin müssen sich in den Stimmen sämtliche Bewegungen der Schauspieler widerspiegeln, wie es Katrin Fröhlich im Rahmen des Projekts „Faces Behind the Voices“ erklärt: ganz gleich, ob jemand kopfüber von der Decke baumele, „in High Heels mit zwei schweren Koffern durch den Schnee stapft oder von Vampiren verfolgt durch den Wald rast.“ In dem Film Die Wutprobe stopft Hauptdarstellerin Heather Graham Unmengen von Donuts in sich hinein, während sie Adam Sandler beschimpft. Fröhlich unterzog sich dem gleichen zweifelhaften Vergnügen.

Im nächsten Schritt werden die Sprachaufnahmen mit dem Rest der Tonspur kombiniert. Was im Studio nicht perfekt gepasst hat, weil ein guter Ausdruck wichtiger ist als absolute Lippensynchronität, wird nun synchron geschnitten. Am Ende erstellt der Mischtonmeister eine Fassung, die dem Original mindestens ebenbürtig sein soll. Da die Erwartungen an die Synchronisation in Deutschland besonders hoch sind, werden auch die Geräusche überprüft und beispielsweise eine Szene im Park mit Vogelgezwitscher oder Blätterrauschen aufgefüllt. Unterm Strich besteht die Kunst darin, dass der ganze Aufwand nicht wahrgenommen wird.