Jugendliche: Realitätskontrolle und Gewalt

Soziale Desintegration und Imbalance von Kontrolle

Stefan Kanis, Steffen Zdun, Daniela Krause, Wilhelm Heitmeyer

Wiesbaden 2020: Springer VS
Rezensent/-in: Lothar Mikos

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 2/2022 (Ausgabe 100), S. 92-93

Vollständiger Beitrag als:

Realitätskontrolle und Gewalt bei Jugendlichen

Die Frage, wie gewalttätiges Handeln bei Jugendlichen entsteht, beschäftigt die Wissenschaft schon lange. Die Autor*innen versuchen sich an einem neuen Ansatz, der zwei theoretische Modelle miteinander verbindet, diese anschließend operationalisiert, um eine Mehrmethodenstudie mit Schüler*innen durchzuführen. Die beiden Theorien, die miteinander verknüpft werden, sind die Theorie Sozialer Desintegration (TSD) und die Control Balance Theorie (CBT). „Die TSD zielt darauf ab, Gewalt durch soziale Erfahrungen zu erklären. Es erscheint sinnvoll, diesen Ansatz durch die CBT zu erweitern, indem situative Interpretationen dieser Erfahrungen im Hinblick auf Realitätskontrolle damit verbunden werden, um eine Kontrollbalance zwischen Kontrollüberschuss einerseits und Kontrolldefizit andererseits in diesen sozialen Erfahrungen in unterschiedlichen Lebensbereichen zu erreichen. Daraus ergibt sich die zentrale These der Untersuchung: Soziale Desintegrationserfahrungen im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Imbalance von Kontrolle vergrößern die Gefahren devianten und gewalttätigen Verhaltens“ (S. 2). Für die Jugendlichen geht es um Realitätskontrolle. Die kann ausgeglichen sein, indem sich Kontrolle über andere und durch andere die Balance halten. Kommt es zu einem Ungleichgewicht, tendieren die Jugendlichen, so die Theorie, zur Delinquenz (vgl. S. 20 ff.). Das delinquente Handeln wird ausgeführt, um die Kontrolle über Beziehungen oder die Situation wiederzuerlangen, und ist mit dem Wunsch nach Anerkennung verbunden.

Die empirische Studie wurde mithilfe eines Mehrmethodenansatzes realisiert. Eine quantitative Befragung mit 1.912 Schüler*innen im Alter von 13 bis 19 Jahren „aus der neunten Stufe in vier Schultypen (Gymnasium, Realschule, Gesamtschule und Hauptschule“ (S. 32). In der Auswertung wurden die Schüler*innen aufgrund gemeinsamer Merkmale zu „latenten Klassen“ (S. 51 ff.) – wie es in der Studie heißt – zusammengefasst. Darüber hinaus wurde eine qualitative Studie mit 40 Jugendlichen und mit zehn Expert*innen durchgeführt.

Hier ist nicht der Platz, um die sehr detaillierten Ergebnisse ausführlich darzustellen. Nur so weit: Es ergaben sich drei Klassen. Die Klasse 1 zeichnet sich durch sichtbare Desintegration, geringe Realitätskontrolle und auffällige Gewalteinstellungen aus; Klasse 2 durch eine gefährdete Integration, eine unsichere Realitätskontrolle und ebenfalls auffällige Gewalteinstellungen; Klasse 3 durch eine gelungene Integration, eine ausbalancierte Realitätskontrolle und unauffällige Gewalteinstellungen (vgl. S. 55). Die Jugendlichen der Klasse 1 weisen „teilweise ein gestörtes Vertrauensverhältnis zu ihrer Familie auf“ (S. 190). Diese Schüler*innen stehen Gewalt nicht ablehnend gegenüber. Eine Minderheit der Jugendlichen aus den drei Klassen ist selbst Opfer physischer Gewalt. „Gewaltopfer zu sein, führt somit bei Jugendlichen aller drei Klassen zu aktiver Gewaltanwendung – jedoch mit unterschiedlicher Stärke“ (S. 205). Allerdings trifft dies nicht auf Mobbing zu (vgl. S. 206). Insgesamt zeigt sich, dass es bei den Jugendlichen aller drei Klassen eine ganze Bandbreite von Verhalten gibt, wie mit schwierigen Situationen umgegangen werden kann. Gewalt spielt dabei nur eine geringe Rolle.

Die Autor*innen betonen besonders die Rolle der Familien. Während zerrüttete Verhältnisse zu permanenten Konflikten und manchmal zu Gewalt führen können, gibt es auch Familienverhältnisse, die von Miteinander und Wertschätzung geprägt sind. „Solche familiären Bedingungen helfen dann, Probleme in anderen Lebensbereichen abzufedern beziehungsweise begünstigen Lebensverläufe, in denen dies weniger nötig ist“ (S. 260). Zusammenfassend stellen die Autor*innen fest: „Je stärker die soziale Desintegration und je geringer ein ausgeglichenes Kontrollerleben durch Selbst- und Fremdkontrolle in den verschiedenen Sozialisationsfeldern, desto häufiger treten körperliche und auch psychische Gewalthandlungen auf“ (S. 267). Die Stärke der Studie (und des Buches) liegt darin, die Ursachen für Gewalt von Jugendlichen in einem komplexen Geflecht von institutionellen, sozialstrukturellen, moralischen und persönlichen Bedingungen zu sehen. Im Mittelpunkt stehen die befragten Schüler*innen und ihre Lebenssituationen. Es muss darum gehen, den Jugendlichen die nötige Anerkennung zu verschaffen. „Das heißt für die Schule als zentrale Institution zur Verteilung von Lebenschancen, nach Stärken der Jugendlichen zu suchen, statt nach Schwächen zu fahnden. Für die Familie bedeutet dies, Liebe und Empathie als Anerkennungsquelle zu intensivieren, anstatt Missachtung als Machtinstrument einzusetzen. Und in der Gruppe von Gleichaltrigen wäre das Zugehörigkeitsgefühl wechselseitig zu verstärken, anstatt machtorientierte informelle Hierarchien auszuspielen“ (S. 270). Das wäre der beste Weg der Gewaltprävention.

Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos