Jugendmedienschutz unter dem Einfluss des Europarechts
Die Weiterentwicklung durch die AVMD-Richtlinie 2018
Mi der Verabschiedung der modernisierten AVMD-RL auf EU-Ebene ist nur der erste Schritt erfolgt, indem der europäische Rahmen gesetzt ist. Schon deshalb wird es wichtig sein, nicht nur die geplante Umsetzung im deutschen Recht zu verfolgen, sondern auch rechtsvergleichend zu beobachten, wie andere Staaten auf der Suche nach der bestmöglichen Lösung vorgehen. Besonders interessant ist ein kurzer Überblick über die AVMD-RL-Änderungen an dieser Stelle aber vor allem, weil das Jugendmedienschutzrecht bzw. die darauf bezogenen Vorschriften der Richtlinie in der öffentlichen Debatte des Reformprozesses nicht so sehr im Fokus standen, aber wie zu zeigen ist, ein besonders wichtiger Teil der Richtlinie und des Anpassungsbedarfs sind.1 Zudem spielen die Co- und Selbstregulierung nach dem Willen der EU-Gesetzgeber in Zukunft eine noch größere Rolle in diesem Bereich.
30 Jahre und „noch kein bisschen müde“?
Auch wenn Rechtstexte keine Müdigkeit empfinden können, so kann das Bild einer Altersmüdigkeit herangezogen werden, um sich zu fragen, ob ein Gesetz nicht veraltet ist oder dem ursprünglichen Ziel nicht mehr zu dienen imstande ist, weil etwa technologische Entwicklungen es überholt haben. Die AVMD-RL geht bekanntermaßen zurück auf die Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“, die im Umbruchjahr 1989 (wenngleich die zeitliche Koinzidenz zufällig war) ihrerseits eine gänzlich neue Herangehensweise an grenzüberschreitende Inhalteverbreitung (damals beschränkt auf Fernsehen) und insbesondere die Ermöglichung eines Binnenmarktes (eben auch für Fernsehinhalte) bedeutete. Drei Jahrzehnte später entfaltet die seit 2007 umbenannte Richtlinie mit ihren jeweils etwa im Zehnjahresrhythmus erfolgten Anpassungen noch immer hohe Relevanz für den audiovisuellen Sektor, was sich nicht zuletzt auch in den Debatten rund um den Brexit und die vorsorgliche Unternehmensverlagerung von AVMD-Anbietern aus dem Vereinigten Königreich in die weiterhin in der EU befindlichen Mitgliedstaaten einschließlich Deutschlands gezeigt hat.2
Aber auch inhaltlich bleibt die Vereinbarung von Mindeststandards für die Verbreitung audiovisueller Medieninhalte zwischen kulturell unterschiedlich geprägten Mitgliedstaaten ein wichtiger Meilenstein, der ein Gegengewicht bildet zu der marktorientierten – und daneben auch im Sinne breiteren verfügbaren Angebots medienvielfaltsfördernden – Dienstleistungserleichterung. Die Tatsache, dass es die Mitgliedstaaten im Zusammenspiel mit dem Europäischen Parlament auch 2018 trotz der politischen Disparitäten geschafft haben, eine nennenswerte Modernisierung vor allem auch durch die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Richtlinie zu erreichen, ist schon für sich genommen hervorzuheben. Wenngleich die Zeiträume zwischen den Anpassungen der AVMD-RL bedeuten, dass diese den technologischen, markt- und auch zuschauerbezogenen Entwicklungen tendenziell hinterherhinkt, darf nicht vergessen werden, dass mit der Richtlinie in inhaltlicher Sicht vor allem europäische Werte und Grundideen verankert und dem Grundsatz nach zukunftsfest gemacht werden. Auch deshalb bleibt die Richtlinie agil und im Zusammenspiel mit den „Juniorpartnern“ der nationalen Umsetzung (sowie letztlich der Auslegung durch die Rechtsprechung) auch bewegungsoffen.
Die feste Verankerung des Kinder- und Jugendschutzes
Betrachtet man die bisherigen Fassungen der Richtlinie, ist unschwer zu erkennen, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor möglicherweise schädigenden Bewegtbildangeboten eines der Hauptanliegen gewesen ist. Wenngleich die Details der Regelung wegen der sehr unterschiedlichen Herangehensweise schon immer den Mitgliedstaaten überlassen worden sind – so wurde zwar einerseits ein Verbot der „Pornografie“ im Fernsehen eingeführt, die Definition des Verbotsgegenstandes aber den nationalen Vorschriften überlassen –, harmonisiert die Richtlinie EU-weit den Ansatz, dass bestimmte Inhalte nur unter Beachtung bestimmter Rahmenbedingungen (wie zeitlicher Grenzen oder technischer „Barrieren“) und andere Inhalte überhaupt nicht in frei zugänglicher Weise verbreitet werden dürfen. Dabei gab es in der Richtlinie neben der Grundregel auch detailliertere Hinweise etwa bezüglich bestimmter Werbungsinhalte.
Mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs auf Abrufdienste wie „Onlinevideotheken“ wurde 2007 eine Mischung zwischen Jugendmedienschutzvorschriften, die für beide Arten von Anbietern galten, solchen, die für das lineare Angebot herkömmlicher Fernsehanbieter Anwendung fanden, und einer wesentlich offener gehaltenen Vorschrift, die die schwierigere Durchsetzung gegenüber diesen neuen nonlinearen Angeboten bzw. Anbietern mit berücksichtigte, eingeführt. Die jetzt umzusetzende neue AVMD-RL (EU) 2018/18083 bringt durch eine Vereinheitlichung der Vorschriften und die Einbeziehung sogenannter Video-Sharing-Plattformanbieter (hier im Folgenden: Video-Sharing-Plattform mit der Abkürzung VSP) einen weiteren Schritt nach vorn.
Jugendmedienschutzbezogene Neuregelungen in der AVMD-RL 2018
Die zwei wichtigsten Aspekte sind wie folgt gelöst: Die vormaligen Art. 12 (nonlinear) und Art. 27 (linear) sind gestrichen und stattdessen in Art. 6a als jugendschutzbezogene Vorschrift, die für alle audiovisuellen Mediendiensteanbieter gilt, vereinheitlicht und vereinfacht worden. Diese steht nicht zufällig im unmittelbaren Zusammenhang mit der in Art. 6 enthaltenen weiteren inhaltlichen Verbotsvorschrift bezüglich Mediendiensten, die zu Gewalt oder Hass aufstacheln oder zur Begehung einer terroristischen Straftat auffordern. Zudem ist gesondert für die nicht als audiovisueller Mediendienst definierten VSPs die Grundregel des neuen Art. 6a Abs. 1 in einer etwas allgemeiner gehaltenen Formulierung auch auf diese ausgedehnt worden.
Bezüglich der VSPs ist hervorzuheben, dass in Zeiten der massenhaften (Weiter-) Verbreitung von etwa live gestreamten und durch User geteilten Videos von Straftaten eine wichtige mögliche Entwicklung antizipiert wird: Die Erwägungsgründe heben in Nummer 4 ausdrücklich hervor, dass auch soziale Netzwerke – wenn sie die Begriffsbestimmung erfüllen und also insbesondere Bewegtbildinhalte durch die Bereitstellung von nutzergenerierten Videos und Sendungen eine wesentliche Funktion bilden – vom Anwendungsbereich erfasst sein sollen. Die Kommission wird zu der Frage der „wesentlichen Funktion“ Leitlinien erstellen, die bei der Umsetzung der Richtlinie für „Klarheit, Wirksamkeit und Einheitlichkeit“ (Erwägungsgrund 5) sorgen sollen.
Von „might seriously“ and „likely to“ zu „may impair“ – dann aber für alle
Die oben genannte Vereinfachung zeigt sich schon an der Aufgabe einer bisher existierenden festen Kategorisierung: Der bisher für Fernsehanbieter geltende Art. 27 unterschied noch Angebote, die die „körperliche, geistige und sittliche Entwicklung von Minderjährigen ernsthaft beeinträchtigen können“ (und daher vollständig untersagt sind), und solche, die „lediglich“ die „körperliche, geistige und sittliche Entwicklung von Minderjährigen beeinträchtigen können“ (und daher z.B. nur zu bestimmten Zeiten ausgestrahlt werden dürfen). Ohne hier vertieft auf mögliche sprachliche Feinheiten einzugehen, ist es interessant, darauf zu verweisen, dass die englische Version der Richtlinie nicht zweimal dasselbe Verb „können“ verwandte, sondern sich einmal bezog auf Angebote, „which might seriously impair the physical, mental or moral development of minors”, andererseits es diejenigen waren, „which are likely to impair the physical, mental or moral development of minors“ (H.d.Verf.).
Der neue Art. 6a Abs. 1 verwendet nur noch die Kategorie „körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung von Minderjährigen beeinträchtigen können“ (englisch: „may impair“) und verzichtet auch auf eine ausdrückliche Verbotsnorm, sondern verlangt mitgliedstaatliche Maßnahmen, dass diese Inhalte nur so bereitgestellt werden, „dass sichergestellt ist, dass sie von Minderjährigen üblicherweise nicht gehört oder gesehen werden können“. Zwar wird bei den möglichen Maßnahmen darauf hingewiesen, dass für die schädlichsten Inhalte (wo wiederum wie bislang „grundlose Gewalttätigkeiten und Pornografie“ genannt sind) die strengsten Maßnahmen zu ergreifen sind, wozu auch Ausstrahlungsverbote zählen können, jedoch gibt es keine konkrete Vorgabe mehr und die Abwägung zwischen Strenge der Maßnahme und potenzieller Schädigung ist jetzt offener. Entscheidend ist aber, dass die Verpflichtung jetzt einheitlich gilt für beide Arten von Mediendiensteanbietern und die Differenzierung nach Problematik der Inhalte und nicht mehr nach Typ des Angebots bzw. Anbieters zu erfolgen hat.4
Für VSPs ist wie erwähnt eine Formulierung gewählt, die weniger konkret ist. Der neue Art. 28b verlangt von den Mitgliedstaaten, dass diese dafür Sorge tragen müssen, dass VSPs selbst angemessene Maßnahmen treffen, um bestimmte Richtlinienziele zu erreichen. Das (in lit. a) erstgenannte Ziel des Minderjährigenschutzes wird dabei unter Bezugnahme auf Art. 6a Abs. 1 so gefasst, dass die Anbieter Minderjährige vor der dort genannten Kategorie von Inhalten sowohl in Sendungen, nutzergenerierten Videos und der werbenden kommerziellen Kommunikation „schützen“, ohne dass die Maßnahmen konkret vorgegeben werden. Jedoch wird in der Vorschrift weiter unten exemplarisch ein Überblick über mögliche zweckmäßige Maßnahmen gegeben, zu denen dann die bereits bekannten Ansätze von Altersverifikationssystemen, Kontrollsysteme für Eltern und auch Informationsmaßnahmen zählen. Insoweit gehören die VSPs nach dem Konzept der Richtlinie in den gleichen Kreis der Verpflichteten, soweit es um die Erreichung des Ziels „Jugendmedienschutz“ geht, wenngleich die Art der Verpflichtung sich unterscheidet.
Die Rolle der Co- und Selbstregulierung
Sowohl für die VSP-Regelungen als auch für die auf audiovisuelle Mediendiensteanbieter bezogenen Maßnahmen bringt die 2018er-Richtlinie eine erhebliche Stärkung der Co- und Selbstregulierung als Instrument zur Erreichung der Ziele und damit auch entsprechender Einrichtungen und Systeme auf nationaler Ebene. War vorher in allgemein gehaltener Form eine Ermutigung an die Mitgliedstaaten enthalten, bei der Richtlinienumsetzung soweit zulässig möglichst auf „Regelungen zur Co-Regulierung und/oder Selbstregulierung“ zu setzen, findet sich jetzt eine Grundregel zur Verwendung dieser Regulierungsansätze in Art. 4a. Ist in Deutschland mit dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) bereits ein lange etabliertes Zusammenspiel zwischen hoheitlich veranlasster Regulierung und Selbstregulierung zwischen der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) und Einrichtungen wie der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) eingeführt5, wird sich diese Änderung jedoch nicht nur in Staaten auswirken, die hier bislang andere Wege gegangen sind, sondern auch in Deutschland Bedeutung entfalten. Gerade hier wird sich in den kommenden Jahren zeigen, wie das System noch weiter ausgebaut werden kann, und es wird notwendig sein, die nationale Diskussion neu zu führen, auch wenn die letzte Reform des Jugendmedienschutzes noch nicht lange zurückliegt. Dies bietet die Chance, bisher zwischen Bund und Ländern teilweise verstreute und verfahrenstechnisch noch nicht vollständig aufeinander abgestimmte Regelungen zu optimieren und zugleich neue Anbieter stärker mit in die Verantwortung einzubeziehen. Art. 4a macht deutlich, dass selbstregulierende Verhaltenskodizes durchaus hohe Maßstäbe zu erfüllen haben, damit sie als „Ersatzregelung“ dienen können, dieses einheitliche Verständnis kann aber auch in der grenzüberschreitenden Dimension helfen. Dazu wird beitragen, dass auch die Einführung von „Verhaltenskodizes der Union“ gefördert werden kann, die also zum Ziel haben, unionsweit bestimmte Grundprinzipien durch Vereinbarung zwischen den Anbietern zu vereinheitlichen (sinnvoll etwa bei Anbietern, die mit dem gleichen Angebot EU-weit auf dem Markt auftreten), ohne nationale Kodizes zu verdrängen.
Worauf es bei der Umsetzung der Richtlinie für den Jugendmedienschutz ankommt …
Kurz gesagt: Wegen der Grundregel des Art. 4a und der Bezugnahme auf Co- und Selbstregulierung an zahlreichen Stellen der Richtlinie bleibt hier in den kommenden Jahren viel zu tun. Die Umsetzungsdiskussion sollte daher gerade nicht beschränkt bleiben auf die Frage des gesetzgeberischen Anpassungsbedarfs, sie bietet vielmehr die Chance, auch die Anbieter in ihrer (je nach Angebotsform) eigenen und (angebotsübergreifenden) gemeinsamen Verantwortung einzubeziehen. Dabei ist (immer wieder) zu überlegen, wie Co- und Selbstregulierung ausgestaltet sein können, um einerseits den Bedürfnissen der Anbieter zu genügen, indem diese – gerade im Vergleich von bisherigen und „neuen“ Medieninhalteanbietern und –verbreitern – nicht überlastet werden, aber andererseits die Effektivität des Jugendmedienschutzes gewährleistet ist, weil dieser nicht nur ein europäischer Wert, sondern in Deutschland auch ein Verfassungsauftrag des Staates ist. Dabei ist es richtig und wichtig, dass die neue Richtlinie den Mitgliedstaaten (wenngleich etwas „versteckt“ am Ende) mit aufträgt, die „Entwicklung von Medienkompetenz“ durch das Ergreifen entsprechender Maßnahmen zu fördern. Auch wenn dies noch recht allgemein gehalten ist, kann die dazugehörige regelmäßige Berichtspflicht der Mitgliedstaaten dazu beitragen, europaweit Best Practices zu identifizieren. Denn diese werden für die Stärkung des Jugendmedienschutzes in der Zukunft sicherlich noch bedeutsamer sein als technische oder andere Schutzmaßnahmen, weil informierter und kompetenter Umgang mit audiovisuellen Inhalten sowohl bei den Minderjährigen selbst als auch bei allen Zuschauern und an der Erziehung von Kindern und Jugendlichen beteiligten Personen und Einrichtungen elementar ist, um souverän mit der – neutral formuliert – Angebotsvielfalt umgehen zu können.
Weitere Informationen abrufbar unter: www.medialaw.lu oder www.emr-sb.de.
Anmerkungen:
1) Einen Vergleich zwischen den unterschiedlichen Fassungen im Rechtsetzungsverfahren sowie in konsolidierter Form mit der bisherigen Richtlinie bieten die vom Institut für Europäisches Medienrecht (EMR) erstellten Synopsen. Abrufbar unter: https://emr-sb.de/synopsis-avms/ (letzter Zugriff: 26.04.2019).
2) Vgl. zum Hintergrund Cole/Ukrow/Etteldorf, 2018, Research for CULT Committee – Audiovisual Sector and Brexit: the Regulatory Environment, European Parliament, Policy Department for Structural and Cohesion Policies, Brüssel (letzter Zugriff: 26.04.2019)
3) Richtlinie (EU) 2018/1808 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.11.2018 zur Änderung der Richtlinie 2010/13/EU zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) im Hinblick auf sich verändernde Marktgegebenheiten, ABl L 303, 28.11.2018, S. 69 (letzter Zugriff: 26.04.2019)
4) Auf diese Schieflage hatte bereits Ukrow, in: Castendyk/Dommering/Scheuer (Hrsg.), European Media Law, Alphen aan den Rijn 2008, Art. 3h AVMSD, S. 919 f., hingewiesen.
5) Vgl. m.w.N. und zur damaligen Reformdiskussion Cole, Kontrolle und Aufsicht im Jugendmedienschutz: Einrichtungen und Verfahren nach dem JMStV im Vergleich zum JuSchG, Berlin 2015. Abrufbar unter: https://www.kjm-online.de (letzter Zugriff: 26.04.2019). Vgl. dazu auch die zahlreichen Beiträge in den vergangenen Jahren in der tv diskurs.