Jugendschutz neu denken

Die gegenwärtigen Gesetze scheitern am Mediensystem von morgen

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Felix Falk

Während sich Gesetzgeber und Jugendschutzinstitutionen über die Frage streiten, welche Institution für welchen Vertriebsweg bei identischen Inhalten Verwaltungsakte erteilen darf, entzieht sich der größte Teil der realen Medienrezeption Jugendlicher nahezu jedem gesetzlichen Einfluss. Aber dies zu erkennen und daraus sinnvolle und pragmatische Konsequenzen abzuleiten, scheint eine Art Tabu zu sein: Im Bereich des Kinos und des DVD-Handels wird der Verwaltungsakt zur heiligen Kuh stilisiert, es wird der Öffentlichkeit eine Sicherheit suggeriert, die sich allerdings bei der medienübergreifenden und dynamischen Nutzung als trügerisch herausstellen kann. Felix Falk, bisher Geschäftsführer der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), hat diese Stelle verlassen und arbeitet seit Januar 2017 als Geschäftsführer des Bundesverbandes Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU). Als Gesellschafter und Beiratsmitglied bleibt er der Selbstkontrolle jedoch eng verbunden. tv diskurs sprach mit ihm über seine Sicht auf die Zukunft des Jugendschutzes.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 1/2017 (Ausgabe 79), S. 76-81

Vollständiger Beitrag als:

Sie waren seit 2009 bei der USK als Geschäftsführer tätig. Welche Situation haben Sie damals vorgefunden und wie hat sie sich bis heute verändert?

Tatsächlich hat sich in diesen sieben Jahren sehr viel getan. 2009 steckten wir immer noch in der Killerspiel-Debatte. Da galt es, ein Verständnis für das Kulturgut „Spiel“ zu schaffen und Vorbehalte sowie populistische Positionen auszuräumen, für Transparenz und Klarheit zu sorgen und die USK modern aufzustellen. Damals spielten für den Jugendschutz ausschließlich Datenträger und klassische Jugendschutzkennzeichnungen eine Rolle. Zwar gab es Onlineangebote wie YouTube oder Facebook auch schon, aber sie waren längst noch nicht so stark in der politischen Diskussion wie heute.

Woran lag das? Haben wir es einfach noch nicht so wahrgenommen?

Natürlich gibt es immer eine Verzögerung, mit der gesellschaftliche Auswirkungen von medialen Entwicklungen wahrgenommen und diskutiert werden. Und die neuen Inhalte und damit verbundene Geschäftsmodelle und Vertriebswege waren noch nicht so weit verbreitet. Auch in der Branche haben damals viele noch daran gezweifelt, ob z.B. Browserspiele erfolgreich sein würden. Das war so ähnlich, wie wir es derzeit bei Virtual Reality und der Frage erleben, ob es nur ein Hype ist oder tatsächlich die Zukunft prägen wird.

Schon bei damaligen Debatten war klar, dass Jugendschutzbeschränkungen immer weniger durchsetzbar sein werden. Vonseiten der Politik wurde aber so getan, als ob man alles regeln könne, wenn man sich nur genügend anstrengt.

Ich habe das auch so wahrgenommen. Vor allem habe ich bei vielen politischen Akteuren sehr oft eine Art Scheuklappenmentalität erlebt, mit der man aktuelle Medienentwicklungen einfach ignorierte und sich auf den Standpunkt zurückzog, dass es ja ein Gesetz gebe und deshalb die bestehende rechtliche Systematik auch die Antwort auf offene Jugendschutzfragen sei. Der Spielebereich war und ist Vorreiter durch seine Innovationskraft. Die USK sieht deshalb schon seit 2009, wie drastisch sich Medienrealität und Markt ändern, allein weil die Anzahl der Kennzeichen, die wir im klassischen Bereich vergeben, drastisch abgenommen hat. Die Alarmglocken hätten also bei allen schon viel früher läuten müssen.

Noch vor einigen Jahren wurden Killerspiele häufig als Ursachen für Amokläufe und andere Gewalttaten gesehen. Heute geht man da erheblich differenzierter und gelassener mit um.

Zum Glück sind die Debatten heute deutlich sachlicher als damals. Meiner Ansicht nach werden solche Diskussionen auch nie mehr die politische Kraft entfalten wie zur Zeit der Amokläufe in Erfurt, Winnenden oder Emsdetten. Populistische Forderungen verfangen einfach nicht mehr so schnell, auch wenn es im Jugendschutz immer noch einige gibt, die längst überkommene Regelungen damit rechtfertigen, dass der politische Druck nach einem nächsten Amoklauf ja wieder wachsen könnte und man dann den Verweis auf die harte staatliche Hand brauche. In vielen Fällen ist diese aber nur noch Schein. So schön die neue Sachlichkeit ist, so schwierig ist es für den Jugendschutz, dass es nicht mehr die eine große gesellschaftliche Debatte gibt, sondern viele kleine Probleme diskutiert werden, die aber keine ausreichende Dynamik mehr entfalten, um eine relevante Bewegung in die verfahrene gesetzliche Situation zu bringen.

Woher kommt die neue Sachlichkeit?

Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Erstens fangen viele Populisten irgendwann an, sich mit der Medienrealität und den Argumenten auseinanderzusetzen. Zweitens sind Eltern, die heute junge Kinder haben, immer häufiger selbst Digital Natives und haben ein größeres Verständnis für Spiele. Drittens: Jeder Zweite in Deutschland spielt heute, Männer wie Frauen, und das Durchschnittsalter liegt bei 35 Jahren – mit steigender Tendenz. Insbesondere mobile Spiele und Browsergames haben in den vergangenen Jahren in Deutschland vor allem unter den Nichtspielern mit ganz einfachen Spielkonzepten neue Nutzer erreicht. Man muss sich weder teure Hardware kaufen, noch besonderes Vorwissen besitzen: Vielmehr lassen sich diese Spiele sehr intuitiv nutzen, ohne jegliche Spielerfahrung. Zahlreiche Spiele zielen heute beispielsweise auf Hausfrauen ab 50. Damit sind Games zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden. Das trägt zu einer Versachlichung der Debatte bei.

Auf der Wirkungsebene wird Computerspielen vorgeworfen, dass es – anders als bei Filmen – keinen Handlungsaufbau gibt, der Gewalt zumindest aufseiten der Guten als notwendig oder gerechtfertigt darstellt. Zudem wurde von Kritikern ins Feld geführt, dass virtuell Tabus überwunden und aktiv „Tötungsprozesse eingeübt werden“, wie der Kriminologe Christian Pfeiffer es bezeichnete.

Da hat sich Christian Pfeiffer in letzter Zeit mehrfach revidiert, ist deutlich sachlicher geworden und räumt bereitwillig ein, dass monokausale Herleitungen falsch sind. Die Gefahren bei Games sind ähnlich wie bei anderen Medien. Es gibt eben Inhalte, die für Erwachsene gedacht sind und bei denen wir uns als Gesellschaft einen guten Jugendschutz wünschen. Gleichzeitig führt Interaktivität natürlich nicht per se dazu, dass Spiele jugendschutzrelevanter sind. Und wer keinen Handlungsaufbau in Spielen erkennt, der hat sich einfach noch nicht damit beschäftigt. Es gibt unzählige Spiele, die deutlich komplexere Geschichten erzählen als Filme. Oft können sie Problematiken und gesellschaftliche Debatten durch das interaktive Erleben noch hintergründiger und kritischer reflektieren. Da denke ich z.B. an moralische Dilemmata in Spec Ops: The Line oder an Papers, Please, ein Spiel, in dem man als Grenzbeamter über die Einreise von Menschen entscheiden muss.

Beim Film ist man ein passiver Rezipient. Beim Computerspiel muss man selbst handeln und schießen. Bei Virtual Reality entsteht noch einmal ein höheres Maß an Realitätssuggestion.

Das ist grundsätzlich korrekt, aber nicht der einzige Aspekt, wie an dem berühmten Beispiel Counterstrike und dem damit verbundenen Abwägungsprozess in der USK gut aufgezeigt werden kann: Einerseits ist der Spieler interaktiv im Kampfgeschehen, andererseits ist die Grundlage eine sportliche Spielvereinbarung, das unmittelbare soziale Erleben im Team, in dem man sich permanent strategisch abstimmen muss, um erfolgreich sein zu können. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Aspekte, die auch in Bezug auf zukünftige Herausforderungen spannend sind, gerade weil Spiele so hochinnovativ sind. Es geht dabei um Kommunikationselemente, soziale Netzwerke, dynamische oder nutzergenerierte Inhalte.

Wie wird sich der Spielemarkt weiterentwickeln?

Das lässt sich nicht pauschal beantworten, da das Angebot immer vielfältiger und der Markt immer heterogener wird. Es gibt mittlerweile für jede Zielgruppe und für jedes Interesse eine ganze Welt an Computerspielen. Jede einzelne davon funktioniert anders. Und die technische Innovationskraft von Spielen macht gerade deren Entwicklung so dynamisch. Dabei verwischen auch die medialen Grenzen immer stärker – so wie bei Virtual Reality, einer Technologie, die zwar von der Spielebranche erfunden wurde, die aber mittlerweile in den unterschiedlichsten Bereichen von Industrie und Gesellschaft adaptiert wird.

Heute gibt es aber auch sehr viele Spiele, die gar nichts mit Gewalt zu tun haben.

Das war aber schon immer so. In meiner eigenen Jugend ebenso wie 2009, als ich bei der USK angefangen habe. Damals hatte mehr als die Hälfte aller Spiele eine Freigabe ab 0 Jahren. Das bedeutet: Der überwiegende Anteil waren schon immer nicht jugendschutzrelevante Spiele. In den App-Stores sind es sogar mehr als drei Viertel. Spiele mit einer Altersfreigabe ab 18 Jahren lagen im Handel dagegen immer stabil bei einem Anteil von 7 bis 8%. Es gibt also keine Tendenz zu mehr Gewalt in Spielen. Natürlich gab es technische Weiterentwicklungen: Ein Kampf, der früher noch pixelig aussah, kann heute viel realistischer dargestellt werden. Die Spruchpraxis hat sich entsprechend mitentwickelt, um nah an der Medienrealität von Kindern und Jugendlichen zu bleiben. Interessant finde ich zudem, dass im Gegensatz zu Darstellungen von Gewalt eher Kommunikation, Datenschutz oder explizite Sprache Aspekte sind, bei denen die Gesellschaft sensibler wird. Der Jugendschutz muss auch bei solchen Weiterentwicklungen Schritt halten.

Wie ist das Verhältnis von Träger- und Onlinemedien?

Der Absatz von klassischen Datenträgern geht stark zurück. Dies zeigt sich auch an der USK-Statistik: 2009 gab es noch 3.100 Prüfverfahren, 2016 nur noch die Hälfte davon. Diese Entwicklung wird weitergehen, weil der Onlinevertrieb stark zunimmt. Diesen Trend sehen wir auch in anderen Bereichen, etwa bei DVDs und Streaming-Diensten. Allein die Tatsache, dass wir über unser neues IARC-System [IARC=International Age Rating Coalition] inzwischen mehrere Millionen Onlinespiele und Apps gekennzeichnet haben, zeigt, dass es sich um ganz andere Dimensionen handelt. Für den Onlinemarkt gibt es im Prinzip keine Zutrittsbarrieren mehr. Stattdessen können Inhalte sofort weltweit zur Verfügung gestellt werden. Da kann ein koreanischer Student innerhalb von zwei Stunden sein selbst entwickeltes Spiel hochladen, das dann in Deutschland verfügbar ist. Games auf Trägermedien und Onlineinhalte lassen sich daher nur bedingt miteinander vergleichen. Im Spielebereich gibt es zudem kaum noch Spiele auf Datenträgern ohne zusätzliche Onlinefunktionen.

Spiele, die auf Trägermedien erscheinen, werden nach einem anderen Verfahren geprüft als reine Onlinespiele. Können Sie kurz schildern, wie das bei Ihnen abläuft?

Im klassischen USK-Verfahren präsentiert ein Sichter das Spiel vor einem Gremium aus vier Jugendschutzsachverständigen unter dem Vorsitz eines Ständigen Vertreters der Obersten Landesjugendbehörden. Die Mehrheit entscheidet über das Alterskennzeichen, das dann zum hoheitlichen Verwaltungsakt wird. Allerdings werden ungefähr drei Viertel aller Verfahren bei der USK vereinfacht durchgeführt. Dabei entscheiden nur der staatliche Vertreter und ein Mitarbeiter aus dem USK-Testbereich über die Freigabe. Wenn es sich z.B. um bereits bekannte Spielkonzepte in den Bereichen 0 und 6 Jahre handelt, werden diese nicht in das große Gremium gegeben.

Im Offlinebereich dürfen Inhalte, die nicht bei der USK geprüft wurden, nur an Erwachsene abgegeben werden. Wenn aber derselbe Inhalt ausschließlich online herauskommt, dann reicht es – rechtlich zumindest –, wenn der Anbieter es sich selbst anschaut und seine Bewertung für ein Jugendschutzprogramm technisch auslesbar macht. Wir haben hier eine extrem hohe Diskrepanz in der Regelungsdichte – und das, obwohl gerade bei Jugendlichen der Onlinebereich immer mehr an Bedeutung gewinnt. Kann das der richtige Weg sein? Kann man dieses Verfahren noch jemandem plausibel machen?

Diese großen Unterschiede lassen sich tatsächlich kaum noch erklären. Man kann ein Spiel, wenn man es online herunter lädt, durch einen völlig anderen Regulierungsrahmen ohne Alterskennzeichen bekommen. Das identische Spiel auf einem Datenträger, bei dem der Inhalt selbst vielleicht gar nicht mehr auf dem Datenträger ist, sondern das Einlegen des Datenträgers nur noch das Herunterladen auslöst, fällt aber unter das Jugendschutzgesetz (JuSchG) und benötigt eine klassische Altersfreigabe mit Verwaltungsakt. Wer soll das verstehen? Wir sollten uns besinnen, dass wir für die Kinder und Jugendlichen arbeiten und nicht für Behörden und Gesetze. Die Idiotie des aktuellen Jugendschutzsystems lässt sich besonders gut nachvollziehen, wenn wir uns einen Smart-TV mit Split Screen vorstellen. Man legt eine DVD ein und sieht auf einem Teil des Bildschirms einen nach dem JuSchG geprüften Film mit FSK-Freigabe ab 18 Jahren. Hier fand hoffentlich eine Altersprüfung beim Kauf statt. Auf einem zweiten Teil des Bildschirms sieht man denselben Film im linearen Fernsehprogramm, das nach dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) reguliert wird. Hier gelten Sendezeitbeschränkungen, wobei noch einmal andere Vorgaben gelten, wenn es sich nicht um einen privaten, sondern um einen öffentlich-rechtlichen Sender handelt. Auf einem dritten Teil des Bildschirms sehen wir wieder denselben Film, dieses Mal aus der Onlinemediathek, die rechtlich ein Telemedium nach dem JMStV ist. Hier kann der Anbieter technische Systeme nutzen. Für ein Kind, das vor diesem Fernseher sitzt, sind alle drei Filme derselbe Inhalt – und für dieses Kind ist einzig relevant, ob die Inhalte beeinträchtigend sind oder nicht. Statt dass wir daran denken, lassen wir uns im deutschen Jugendschutz von föderalistischen, institutionellen und rechtlichen Zuständigkeitsdebatten von der Lösung unserer eigentlichen Aufgabe ablenken. Gegenüber Eltern war es mir persönlich manchmal regelrecht peinlich, dass wir in Deutschland nicht in der Lage sind, dem Ziel eines konvergenten, verständlichen und international anschlussfähigen Kinder- und Jugendschutzes besser gerecht zu werden.

Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten: Im Offlinebereich haben wir eine relativ hohe Regelungsdichte, im Onlinebereich eine relativ niedrige. Entweder rüsten wir bei den Trägermedien ab oder bei den Onlinemedien auf – oder wir finden eine Lösung in der Mitte. Welchen Weg sollten wir Ihrer Meinung nach einschlagen?

Wir dürfen gerade keine Herangehensweise wählen, die aus unserem „alten“ Jugendschutzdenken kommt. Die Frage ist nicht, ob es mit dem Jugendschutz bergab geht, weil wir ihn liberalisieren, oder ob die Anbieter verpflichtet werden, auch im Onlinebereich die alten Standards anzuwenden. Wenn wir so denken, beschäftigen wir uns wieder nur mit uns selbst und merken gar nicht, dass das bisherige Jugendschutzsystem in Deutschland den Anschluss an die Medienrealität längst verloren hat. Stattdessen müssen wir die Realität anerkennen und uns fragen, was wir auf der Grundlage unserer Werte, nicht unserer alten Gesetzesstruktur, neu bauen können. Dazu gibt es verschiedene Ideen! Ich habe beispielsweise die Industrie in meiner Zeit bei der USK immer wieder als einen sehr interessierten und innovativen Gesprächspartner erlebt. Die Spielebranche hat traditionell immer hohen Wert auf guten Jugendschutz gelegt, aber auch die neuen Onlineunternehmen sehen darin mittlerweile Vorteile. Die Zielgruppe Familie wird immer attraktiver, weil es schlicht die größte ist! Deshalb beschäftigen sich Gerätehersteller, Software- oder Plattformanbieter zwangsläufig mit Jugendschutz. Der Gesetzgeber sollte sich an den positiven Entwicklungen und Ideen orientieren, die es ohnehin schon gibt und die erfolgreich von Eltern genutzt werden. Das IARC-System ist dafür ein wunderbares Beispiel. Hier haben weltweit Selbstkontrollen gemeinsam mit der Wirtschaft ein Jugendschutzsystem der Zukunft entwickelt, das der deutsche Gesetzgeber nun unterstützen und fördern sollte, so wie es andere Länder längst tun.

Sie würden also dafür plädieren, über die Frage nachzudenken, wie wir ein gesetzliches System schaffen können, das den Medien gleichermaßen entspricht wie den Wünschen von Kindern, Jugendlichen und Eltern?

Diese einzelnen Wünsche sind kein Widerspruch. Aber so dynamisch, wie sich Medien entwickeln, muss ein neues Gesetz dafür die nötige Flexibilität und Zukunftsoffenheit mitbringen. Beispielsweise ist es in manchen Fällen viel sinnvoller, nicht bei einem Einzelinhalt, sondern bei einer Plattform anzusetzen. Es ist illusorisch, von einem einzelnen Blogger zu erwarten, dass er sich Altersbewertungsprozessen unterwirft. Stattdessen muss ich mich an die Plattformen wenden und damit auf eine Breitenwirkung zielen. Zudem muss ich den grundlegenden Ansatz eines pragmatischen Risikomanagements akzeptieren, wenn ich mit den Massen an Inhalten fertig werden will. Das alles bedeutet nicht, dass wir unsere Werte über Bord werfen. Viel eher müssen wir uns neu aufstellen, damit wir ihnen auch in Zukunft Geltung verschaffen können.

Momentan allerdings regeln wir alles bis ins letzte Detail über Gesetze. Wie wir wissen, ändern sich diese nicht von heute auf morgen – ganz im Gegenteil! Derzeit sieht es sogar nach Stillstand aus …

Ja, vor allem dort, wo es vornehmlich um Befindlichkeiten und Gefechte einzelner Akteure geht. Ich finde es persönlich sehr schade, wenn der Fokus auf formaljuristischen, institutionellen und persönlichen Bedürfnissen liegt. Immer wieder haben mir wichtige Entscheidungsträger im persönlichen Gespräch gesagt, dass der gesetzliche Jugendschutz wohl nur dann noch eine Chance hätte, wenn das bisherige System komplett zusammenbräche und man es danach neu aufbaute. Es ist erschreckend, wie viel Resignation es z.T. unter den Jugendschützern gibt. Es machte mich immer traurig, wenn gerade jüngere und besonders engagierte Personen angesichts der verhärteten Situation dem Jugendschutz den Rücken kehrten. Wenn sich alle Beteiligten auf das gemeinsame Ziel konzentrieren und persönliche oder institutionelle Befindlichkeiten zurückstellen würden, gäbe es auch die Chance, dass sich das System aus sich selbst heraus neu aufstellt. Ich zumindest habe da den Mut noch nicht verloren, war und bin dankbar über jeden mutigen Mitstreiter und werde auch in meiner neuen Funktion als Gesellschafter und Beiratsmitglied der USK an diesem Ziel arbeiten. Ich glaube an Jugendschutz und Alterskennzeichen, aber nicht so statisch und konservativ, wie sie momentan von vielen noch gedacht werden.

Wahrscheinlich gibt es noch gesetzliche Sendezeitbeschränkungen im Fernsehen, wenn es längst kein Fernsehen mehr gibt.

Ich verstehe ja, dass es beispielsweise für Aufsichtsinstitutionen ungewohnt ist, nicht selbst Vorgaben zu definieren, denen die Unternehmen dann folgen müssen, sondern sich an den erfolgreichen und manchmal auch unorthodoxen Konzepten der Wirtschaft zu orientieren. Aber allein Google hat mehr Mitarbeiter, als die meisten Staaten Beamte haben. Wie wollen wir denen erzählen, wie technische Entwicklungen im Bereich des Jugendschutzes auszusehen haben, wenn wir nicht auf deren Bedürfnisse eingehen und unsere Systeme auch für sie weiterentwickeln? Genau das haben wir bei IARC gemacht – und siehe da: Der Jugendschutz in den angeschlossenen App-Stores war noch nie so gut wie heute.

Sie haben bereits mehrmals das IARC-System erwähnt, mit dem die USK einen ganz neuen Weg eingeschlagen hat. Können Sie kurz skizzieren, wie es funktioniert?

IARC ist ein System, an dem eine Koalition aus zuständigen Institutionen der wichtigsten Länder weltweit beteiligt ist. Vertreten sind die USA, Brasilien, Australien sowie Deutschland und das restliche Europa mit PEGI [Pan European Game Information]. Wir haben ein System gebaut, in dem Plattformen, etwa von Google, Nintendo oder Microsoft, jedem Anbieter, der ein Spiel oder eine App hochladen will, einen Fragebogen zur Beantwortung vorlegt. Bei einem Spiel gibt es also Fragen wie: „Enthält das Spiel Gewalt?“, „Wenn ja, ist sie detailliert oder fantastisch; häufig oder selten?“ Aus den Antworten wird das jeweilige Kennzeichen berechnet. Die Fragen sind weltweit dieselben, aber entscheidend ist, dass jede Institution selbst über die Berechnungsformel entscheidet. So führt beispielsweise Gewalt in einem Spiel in Deutschland tendenziell zu einem höheren USK-Kennzeichen als in Amerika, bei Erotik und Sexualität ist es dagegen genau andersherum. Wenn jemand die Plattform in Deutschland nutzt, wird entsprechend nur das lokal gültige USK-Rating ausgespielt. IARC ist sehr schnell und sehr einfach, was es auch sein musste, um von der Wirtschaft akzeptiert zu werden. Die Nachkontrolle liegt in der Hand der Partner wie der USK, sodass wir fehlerhaft ausgefüllte Fragebögen unmittelbar korrigieren können und dabei immer das Letztentscheidungsrecht haben. Für die Entwickler sind die Kennzeichen kostenlos. Sie könnten es sich häufig auch gar nicht leisten, auch nur 100 Euro in jedem Land für ein Kennzeichen auszugeben. Übrigens: In 22 Jahren USK haben wir rund 45.000 klassische Prüfverfahren abgeschlossen. Die gleiche Anzahl von Kennzeichen haben wir mit IARC innerhalb der ersten 24 Stunden vergeben, nachdem sich die erste große Plattform angeschlossen hatte. Das zeigt, dass das alte System mit Gremienprüfungen, Verwaltungsakten etc. gar nicht in der Lage wäre, diese Masse von Inhalten zu verarbeiten.

Welche Plattformen haben sich angeschlossen?

Im Moment sind Google, Microsoft und Nintendo mit ihren Plattformen dabei. Aktuell wird gerade Oculus Rift angeschlossen, und mindestens Sony kommt 2017 noch dazu.

Von der Nutzerseite her betrachtet, ist es natürlich sehr sinnvoll, ein plattformübergreifendes, funktionierendes System zu etablieren. In dem Moment, in dem IARC Realität ist, wird es auch für alle anderen Anbieter ein Marketinginstrument …

… und da sind andere Länder weiter als wir. Brasilien hat genauso wie Australien und neuerdings auch Südkorea IARC als Vorbild ins Gesetz geschrieben und sich klar positioniert: Genau diese hohe Qualität des Onlinejugendschutzes wollen wir und deshalb erheben wir diesen auf gesetzlicher Ebene zum neuen Standard. In Deutschland könnten wir längst genauso weit sein, wenn die Jugendschutzgesetze und die sie tragenden Institutionen mental nicht noch im alten System hängen und sich zudem gegenseitig blockieren würden. Manche scheinen zu hoffen, dass sie eines Morgens aufwachen und das alte System plötzlich doch im Internet realisierbar ist. Doch das bleibt nur ein Traum.

Unterm Strich verändern sich die Dinge derzeit sehr schnell. Wir führen währenddessen Diskussionen über Verwaltungsakte bei 12er- oder 16er-Freigaben. Lenkt das nicht von den eigentlich wichtigen Fragen ab?

Das sind große Debatten um kleine Themen, die nahezu irrelevant sind für Kinder und Jugendliche und die von den wirklichen Herausforderungen tatsächlich ablenken. Stattdessen müssen wir endlich größer denken. Niemand kann sagen, wie zum Schluss die Lösung aussehen wird, aber das ist auch gar nicht so wichtig. Es geht darum, aktiv zu werden und Neues zu probieren. In den ersten Jahren meiner Arbeit bei der USK habe ich immer gehofft – wie viele andere wahrscheinlich auch –, dass sich das Gesetz ändern wird und es dann den Weg weist, wie es im Jugendschutz weitergehen soll. Doch irgendwann wurde klar, dass wir allein aktiv werden müssen. So rasant, wie sich der Markt veränderte, hätte sich innerhalb von ein paar Jahren für die USK sonst schnell die Existenzfrage gestellt. Ich bin froh, dass wir nicht gewartet, sondern eine Lösung gefunden haben. Heute vergeben wir Millionen von Alterskennzeichen, kümmern uns nicht nur um Spiele, sondern um alle Apps und erreichen damit mehr für den Jugendschutz als je zuvor. Ich hoffe, das motiviert auch den Gesetzgeber, sich von der Medienentwicklung nicht abhängen zu lassen, sondern selbst endlich aktiv zu werden.

Die USK ist, anders als die FSF, sehr eng an die Obersten Landesjugendbehörden gebunden. Im Grunde müsste man vermuten, dass die Obersten Landesjugendbehörden auch darüber nachdenken, wie Jugendschutz im Netz aussieht. Sie müssten ein Projekt wie IARC vernünftig begleiten. Wie ist da Ihre Erfahrung?

Die Obersten Landesjugendbehörden haben immer wieder darauf hingewiesen, dass sie nach dem Gesetz ausschließlich für Datenträger verantwortlich sind. Wenn das so ist, wird ihr zunehmender Bedeutungsverlust im Bereich der Spiele unabwendbar sein. Ich glaube aber, es braucht eine proaktive Überprüfung der Selbstverortung der Obersten Landesjugendbehörden, in der geklärt wird, welche Rolle die Familienministerien der Länder im Jugendschutz spielen wollen. Die Frage ist, an welchen Stellen Jugendpolitik gebraucht wird, wo die Schwerpunkte in Zukunft liegen sollen und wo der Wille zur proaktiven Mitgestaltung ist. Es sprechen sowohl Argumente für eine stärkere Rolle als auch für eine stärkere Verlagerung der Verantwortung auf die Wirtschaft. Doch die Diskussion und Entscheidung und vor allem auch die konkrete Arbeit an der Umsetzung dieser Entscheidung wären dringend notwendig. Auch hier warten zu viele auf die Rettung durch den Gesetzgeber.

Stehen Sie in Bezug auf IARC im Diskurs mit den Obersten Landesjugendbehörden?

Die Obersten Landesjugendbehörden sind Teil des Beirates der USK und auch Mitglied im zuständigen IARC-Ausschuss, der die IARC-Prozesse begleitet. Sie bereichern damit die für uns sehr wichtige Begleitung durch den USK-Beirat, in dem neben dem Bundesfamilienministerium, der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) und der Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten (KJM) auch die Kirchen, freie Träger der Jugendhilfe oder die Wirtschaft vertreten sind.

Mein Eindruck ist derzeit ohnehin, dass Eltern und Jugendliche nicht so sehr an den klassischen Jugendschutzthemen wie Darstellungen von Sex und Gewalt interessiert sind, sondern dass sie sich stark mit dem Thema „Mediensucht“ beschäftigen. Immer mehr Menschen scheinen besorgt oder gestresst zu sein, dass Medien die Freizeit mehr und mehr beherrschen.

Die klassischen Kriterien sind Eltern nach wie vor sehr wichtig. Aber auch die exzessive Nutzung von Medien beschäftigt sie. Hier erfordert es einen selbstbewussten Prozess der Definition und Überprüfung unserer eigenen Gewohnheiten. Denn wenn wir uns beschweren, dass Kinder ihre Smartphones nicht aus der Hand legen, müssen wir doch zugeben, dass wir Erwachsenen meist denkbar schlechte Vorbilder sind. Es handelt sich also um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und wir merken, dass es bei Fragen zu exzessivem Spielen oder exzessiver Beschäftigung mit sozialen Netzwerken großen Bedarf an Tipps und Unterstützung gibt.

Es geht also darum, eine Kultur des Umgangs zu entwickeln. Meiner Meinung nach sollte man im Bereich der Medien weniger mit Verboten arbeiten und eher eine moderierende Funktion einnehmen. Am Beispiel von IARC sieht man ja, dass die USK im Grunde ein Moderator dieses Prozesses ist.

Verbote lassen sich in diesem Bereich immer weniger durchsetzen und gaukeln falsche Sicherheit vor. Guter Jugendschutz benötigt immer auch den gesellschaftlichen Diskurs und den Abgleich von Werten. Auf dieser Grundlage müssen wir dann das Jugendschutzsystem anpassen.

Glauben Sie, dass es unser Jugendschutzsystem, wie wir es derzeit haben, in fünf Jahren noch geben wird?

Unser Jugendschutzsystem wird auch in fünf Jahren noch bestehen, aber es wird sich weiterentwickelt haben. Vielleicht haben die einzelnen Institutionen ganz andere Funktionen als heute. Wenn ich aber etwas gelernt habe, dann ist es, dass Papier ebenso geduldig ist wie die Institutionen. Fünf Jahre sind für den deutschen Jugendschutz kein langer Zeitraum.

Felix Falk ist Geschäftsführer des Bundesverbandes Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU).

Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und tv-diskurs-Chefredakteur.