Kein Ende der Möbiusschleife

Die Gesetzgebung zum Jugendmedienschutz verliert sich im Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern

Claudia Mikat im Gespräch mit Marc Liesching

Kaum jemand verfolgt und kommentiert die deutsche Rechtspolitik im Medienbereich so lange und intensiv wie der Jurist Marc Liesching. Der Professor für Medienrecht und Medientheorie an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig hat sich mit Glücks- und Gewinnspielrecht, dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), dem Medienstrafrecht und dem Urheberrecht befasst. Zudem ist er als Autor des Beck-Kommentars zum Jugendschutzrecht und des Beck’schen Online-Kommentars zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) ausgewiesener Experte im Jugendmedienschutz. tv diskurs sprach mit Prof. Dr. Liesching über den deutschen Gesetzes- und Kompetenzdschungel zwischen Government und Governance.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 2/2020 (Ausgabe 92), S. 48-51

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In Ihren Beiträgen vor allem im Beck-Blog benutzen Sie gerne eindrückliche Bilder wie das von der „Blümchentapete“ mit Blick auf das veraltete Jugendschutzgesetz (JuSchG). Unlängst haben Sie von einer „regulatorischen Möbiusschleife“ gesprochen. Meint das Bild, dass einem im deutschen Medienrecht die Orientierung verloren gehen kann?

Ja, natürlich. Die deutsche Jugendschutzregulierung ist im Grunde 100 Jahre alt. Seit dem Lichtspielgesetz wurde immer Neues zum bereits Bestehenden hinzugefügt, dann hat man angefangen, die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern aufzuteilen; und so ist dann ein komplexes Normgefüge entstanden, das kaum mehr überblickt werden kann und eigentlich nur noch zu Promotionsarbeiten für Juristen taugt. Komplexität macht es nicht leichter, eine gute Reform hinzubekommen. Sie trifft auf Regulierer, die die Vielzahl der Regularien nicht überschauen und auch gar nicht die Zeit haben, sich einen Überblick zu verschaffen. Jugendmedienschutz ist das größte Killer-Sudoku, das man sich als Jurist vorstellen kann.

Als im Dezember 2019 der Medienstaatsvertrag (MStV) ohne große Änderungen im Jugendmedienschutz von der Ministerpräsidentenkonferenz verabschiedet wurde, haben Sie in einem Beitrag damit provoziert, die Länder hätten quasi durch Untätigkeit dem Bund den Auftrag erteilt, mit der Novellierung des Jugendschutzgesetzes die notwendige Modernisierung im Jugendmedienschutz vorzunehmen. Sind Sie mit dem Entwurf, den das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Februar 2020 vorgelegt hat, zufrieden?

Das war natürlich polemisiert. Aber die Erwartungshaltung, die man nach der Untätigkeit der Länder haben konnte, wurde durch den Bund auch nicht erfüllt. Man hatte die richtigen Zielstellungen, aber die Ansätze, die dann gewählt wurden, lassen es zweifelhaft erscheinen, ob der notwendige Überblick über das Gesamte vorhanden war.
 


Das Wichtigste ist, der Medienkonvergenz Rechnung zu tragen, und Medienkonvergenz heißt ganz banal: Es wird einfacher.



In einem anderen Blog-Beitrag hatten Sie fünf Mindestvoraussetzungen für eine zeitgemäße Jugendschutzregulierung genannt: Medienkonvergenz, Einfachheit und Transparenz, Vermeidung von Doppelzuständigkeiten, Stärkung der Selbstregulierung und Achtung europäischer Binnenmarktprinzipien. Wurde eine dieser Voraussetzungen erfüllt?

Das Wichtigste ist, der Medienkonvergenz Rechnung zu tragen, und Medienkonvergenz heißt ganz banal: Es wird einfacher. Verbreitungswege konsolidieren, also kann eigentlich auch die Regulierung einfacher werden, indem man für alle Verbreitungswege dieselben Rechtsfolgen normiert. Man muss sich dann entscheiden, ob man es restriktiver oder liberaler macht, aber man muss die bisherige Differenzierung aufgeben. Das hat der Entwurf des Zweiten Jugendschutz-Änderungsgesetzes nicht geleistet. Es gibt semantisch einen neuen Begriff, der heißt „Medien“, und soll Träger- und Telemedien umfassen, Rundfunk allerdings nicht. Aber in den Rechtsfolgen gibt es gar kein Spiegelbild zu diesem Medien-Begriff, sondern es bleibt bei einer Medienspartendifferenzierung. Da wird kaum etwas geleistet, was der Medienkonvergenz tatsächlich Rechnung trägt.

Wie sieht es mit der Vereinfachung und Vermeidung von Doppelstrukturen aus?

Wenn man zusätzlich zum bestehenden System eine Bundeszentrale etablieren will, also eine Bundesmedienanstalt zusätzlich zu den 14 Landesmedienanstalten, ist es naheliegend, dass das nicht zu einer Vereinfachung und Konsolidierung führt, sondern zu einem weiteren Ausbau von Institutionen. Aber die Frage, wer für was zuständig ist, sollte hintanstehen. Wichtiger ist: Wie kann man materiell zu einer Regulierung kommen, die aus einem Guss ist? Dabei dürfte eine einfache Jugendschutzregulierung kein Hexenwerk sein.

Was soll sich dem Entwurf zufolge materiell überhaupt verändern? Die Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM) hat angemerkt, der JuSchG-Entwurf bedeute einen Systembruch im Jugendmedienschutz. Was ist gemeint?

Der Bund greift materiell-rechtlich in ein Regulierungsfeld hinein, das bisher klassischerweise den Ländern oblag. Das ist der Bereich der Telemedien. Bisher galt auf der Grundlage einer Eckpunkte-Vereinbarung von 2003: Der Bund konzentriert sich bei Telemedien nur auf den Indizierungsbereich, alles darüber hinaus regeln die Länder. Jetzt hat der Bund in zwei JMStV-Ägiden hineinreguliert, zum einen die Film- und Spieleplattformkennzeichnung nach § 14a, zum anderen die Vorsorgemaßnahmen nach § 24a – beides Felder, die klar in die Telemedienregulierung hineinragen. Es ist nachvollziehbar, dass der Bund so handelt, weil aus seiner Sicht seitens der Länder in zwei JMStV-Reformen zu wenig passiert ist in diesem Bereich. Aber man hätte sich überlegen können, die Reform gemeinsam in einem guten Dialog und in Zusammenarbeit auf den Weg zu bringen.

Sie sprechen die Kennzeichnungspflicht des geplanten § 14a an, nach der Plattformanbieter Filme und Spiele mit sichtbaren Altersfreigaben versehen sollen. Was ist daran verkehrt?

Man kann sich rechtspragmatisch schon fragen, ob eine Kennzeichnungspflicht ein sinnvolles Instrument ist, um die drängenden Jugendschutzprobleme anzugehen. Onlineanbieter – in Deutschland – sollen verpflichtet werden, eine Kennzeichnungspflicht umzusetzen, die strenger ist als die, die wir heute für Bildträger haben. Bildträger müssen nicht vorgelegt werden, das ist im Grunde freiwillig. Online riskiert man künftig ein Bußgeld, wenn man eine Kindersendung ohne Alterskennzeichen veröffentlicht.

Ein drängendes Jugendschutzproblem sind die neuen Interaktionsrisiken. Man will dem begegnen, indem man die Definition von „Entwicklungsbeeinträchtigung“ um den Begriff der persönlichen Integrität erweitert. Ist das sinnvoll?

Aus meiner Sicht nicht, da es an der falschen Stelle andockt, nämlich an den seit 70 Jahren eingeübten Altersstufen, die auf der Bewertung von Inhalten beruhen und auf dieser Grundlage auch breite Elternakzeptanz finden. Diese statischen Alterslabels werden nun vermischt mit dynamischen Nutzungsrisiken, die je nach Umgebung völlig unterschiedlich ausfallen können. Es kann also sein, dass eine Folge Paw Patrol in dem einen On-Demand-Angebot eine Freigabe ab 6 hat und auf einer anderen Plattform mit Kommentarfunktion oder ergänzenden Merchandisingangeboten eine Freigabe ab 12 Jahren.

Gäbe es Alternativen?

Eine Alternative wäre, Nutzungsrisiken zu berücksichtigen, sie aber nicht mit den statischen Alters­kennzeichen zu vermischen. Eine Zahl sagt schließlich nichts über die Art der Risiken aus oder darüber, wie diese Zahl zustande gekommen ist. Stattdessen könnte man andere regulative Mechanismen suchen oder den Weg der Inhaltsdeskriptoren wählen. Das Vorgehen der Landesmedienanstalten im Fall der Casino-App Coin Master beispielsweise hat gezeigt, dass es andere Instrumentarien jenseits der Alterseinstufung gibt, um den Nutzungsrisiken gerecht zu werden. Bei dem Spiel besteht die Gefahr der exzessiven Nutzung, es gibt zudem eine kommerzielle und eine Datenschutzkomponente. Hier hat die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) beschlossen, Aufsichtsmaßnahmen wegen Interessenschädigung und Ausnutzung der Unerfahrenheit nach § 6 JMStV auch gegen den israelischen Anbieter einzuleiten und auf dieser Grundlage gegen die App Stores vorzugehen.
 


Moderner Jugendschutz kann nicht auf Law and Order setzen.



Welche Rolle spielen die Selbstkontrollen im Entwurf des Jugendschutzgesetzes? Wird ihre Arbeit eher gestärkt oder geschwächt?

Die Selbstkontrollen kommen nicht besonders gut weg im Entwurf. In Teilbereichen werden selbstregulative Elemente sogar geschwächt, z.B. durch die Bestimmungen zur Kennzeichnungspflicht in § 14a, die den Jugendschutzbeauftragten der Anbieter zugunsten von Bewertungsautomaten den Boden unter den Füßen wegziehen. Insgesamt spielt die Selbstkontrolle nicht die Rolle, die sie eigentlich haben müsste. Moderner Jugendschutz kann nicht auf Law and Order setzen. Das hat mit der internationalen Dimension und mit den EU-Regularien zu tun, weil nationale Regulierer nach dem Herkunftslandprinzip nur die Anbieter mit Sitz in dem jeweiligen Land regulieren dürfen. Wir haben also grundsätzlich keinen regulatorischen Zugriff auf Amazon Prime oder Netflix, die aber von 80 oder 90 % der deutschen Haushalte mit Kindern genutzt werden. Daraus kann man lernen, dass nationale Regulierung nur begrenzt wirken kann. Für mich wäre deshalb die Alternative, Anreizsysteme zu schaffen, die Anbietern grundsätzlich eine Eigenverantwortung zusprechen, und ihnen gleichzeitig selbstregulative Elemente anzubieten, um eine höhere Rechtssicherheit zu bekommen.

Aber wie können Bundes- und Landesrecht miteinander verzahnt werden, wenn die Regulierungslogiken grundverschieden sind: auf der einen Seite die Vorlagepflicht aller Inhalte und auf der anderen Seite die Anbieterverantwortung und die Kontrolle im Nachhinein?

Man müsste einfach sagen, dass es keinen Denkmalschutz für den institutionellen Jugendschutz gibt. Nur weil die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) vor 70 Jahren etabliert worden ist, heißt das nicht, dass wir auch die nächsten 70 Jahre Bildträger auf DVD, also auch Kinderfilmbildträger wie Paw Patrol, zwingend bei der FSK vorlegen müssen, weil ansonsten diese Inhalte erst ab 18 Jahren freigegeben sind. Das glaubt mir heute schon niemand, dass es eine Vorlagepflicht für beispielsweise Die Biene Maja gibt, weil die Serie sonst nur an Erwachsene abgegeben werden darf. Hier würde ich eine grundsätzliche Anbieterverantwortung für alle Medienbereiche vorschlagen und dieses System durch Selbstregulierung und Anreizsysteme optimieren, um einen Rechtsschutz zu gewährleisten. Das bedeutet: Wenn ich eine Selbstkontrolle beteilige, dann bekomme ich auch einen Indizierungsschutz für ein bestimmtes Medium. Wenn man das nicht braucht, weil es sich nur um eine Kindersendung handelt, gilt die Anbieterverantwortung. Das wäre mein favorisierter Weg. Gerade macht man das genaue Gegenteil. Auch die Onlineangebote sollen eine verbindliche Alterskennzeichnung haben. Mir scheint der andere Weg zeitgemäßer zu sein, gerade weil die Regulierung in diesem anarchischen Internetsystem mit seiner Weltumspanntheit nur eingeschränkt greift.
 


Wir reden jetzt bald 20 Jahre über Jugendschutzregulierung. Da könnte man sich doch noch einmal fünf bis sechs Monate Zeit nehmen und sich an einen Tisch setzen.



Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass Bund und Länder die Kompetenzstreitigkeiten beilegen und sich auf einen gemeinsamen Entwurf verständigen?

Man kann aufgrund der bisherigen Erfahrungen skeptisch sein. Im Moment ist jedenfalls kein breiter dialogischer Prozess zwischen Bund und Ländern im Gange. Allerdings haben beide Seiten mittlerweile gelernt, dass es allein nicht geht – also warum soll es nicht gelingen? Man könnte externe Dritte berufen und diese bevollmächtigen, an einem Entwurf zu schreiben. Wir reden jetzt bald 20 Jahre über Jugendschutzregulierung. Da könnte man sich doch noch einmal fünf bis sechs Monate Zeit nehmen und sich an einen Tisch setzen.

Wenn Sie das nationalstaatliche Novellen-Gesamtpaket betrachten – NetzDG, Telemediengesetz (TMG), MStV, JuSchG, JMStV –, wo stehen wir zwischen Governance und Government?

Bezogen auf das Regulierungssystem und die Frage, ob man auf selbstregulierende Modelle oder Law and Order setzt, ist meine Einschätzung schon, dass das in einer Hauruckaktion entstandene NetzDG eine gewisse Unwucht in das Verständnis von erfolgreicher politischer Regulierung gebracht hat. Es ist ja gewissermaßen unausgesprochener Konsens unter Regulierern, dass das NetzDG eigentlich Best Practice war. Und zwar deshalb, weil die „großen Drei“ der sozialen Netzwerke das sehr schnell akzeptiert haben. Sie haben sich nicht auf das Herkunftslandprinzip berufen, sie sind nicht zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegangen, sie haben keine Verfassungsbeschwerde eingelegt und haben damit letztlich die sehr harte Compliance-Regulierung, die mit einem Bußgeld von 50 Mio. Euro versehen ist, akzeptiert und umgesetzt. Das gibt auch für Regulierer im Bereich des Jugendschutzes ein Signal, nämlich: Wenn man etwas mit Druck und Vehemenz aufsetzt, machen die Anbieter mit.

Zum Schluss: Ist ein Ende der Möbiusschleife in Sicht?

Nein.
 

Dr. Marc Liesching ist Professor für Medienrecht und Medientheorie an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) in Leipzig.

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).